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Der Raisonneur

»Aber was ist denn mit Ihnen geschehen, lieber Baron? Man sieht Sie ja seit undenklichen Zeiten nicht mehr da, wo man Sie sonst an jedem Tag gesehen hat. Wann sind wir uns zum letzten Male in unserm Klub begegnet?«

»Ich spiele nicht mehr.«

»Ihre prachtvollen Jagdgründe sollen Sie, wie ich höre, verpachtet haben?«

»Ich jage nicht mehr.«

»Ich habe sogar Ihren Namen in dem Arbeitsausschuß der Automobilausstellung vermißt.«

»Ich autle nicht mehr.«

»Ja, verzeihen Sie, was machen Sie denn da mit Ihren ungewöhnlich zahlreichen Mußestunden?«

»Ich habe eine neue Lieblingsbeschäftigung gefunden, die meine ganze Zeit in Anspruch nimmt und mir unbändigen Spaß macht.«

»Und das wäre?«

»Ich spiele im Leben die Rolle des Mannes, der in französischen Lustspielen – auch wenn sie in deutscher Sprache geschrieben werden – die Aufgabe des Raisonneurs zu erfüllen hat – Sie wissen ja doch, welche Gestalt man mit diesem Namen ein- für allemal gestempelt hat?«

»Aber nur zu gut. Das ist der Mann aus dem neuen Lustspiel, der die Stelle des Vertrauten in der alten Komödie übernommen hat. Er hat mit der Handlung selbst nichts zu tun und will für seine eigene Person nichts erstreben, sondern stellt sich als ein Muster von Selbstlosigkeit nur seinen Freunden zur Verfügung. Er zerbricht sich von der ersten bis zur letzten Szene die Köpfe der andern und ist nur mit fremden Sorgen beschäftigt. Er ist der Ratgeber aller Bedrängten und der Führer aller Verirrten, denen er stets eine bequeme Wegmarkierung für die Rückkehr zum Glück schafft. Er leiht seinen Verstand allen denjenigen, die ihren eigenen verloren haben, und er ist zu diesem Zweck von dem Autor mit einer unwahrscheinlichen Fülle von Geist ausgestattet, den er durch die Dauer des Abends in kleinen Likörgläsern auszuschenken hat. Kurz, er ist wie der Automat Kingfu, der einst ganz Europa in Erstaunen gesetzt hat: Er weiß alles, er kann alles, er tut alles – Und wenn er jeden glücklich gemacht hat, dann verabschiedet er sich mit einer gelenkigen Verbeugung und zieht sich mit weltmännischer Diskretion von der Bühne zurück, auf der er nichts mehr zu tun hat.«

»Ganz richtig! Den Mann meine ich! Und es ist mir auch bekannt, daß kritische Ketzerrichter die ganze Gestalt angefochten haben. Sie soll unlebendig sein und ›Theater‹ im schlechtesten Sinne. Nach meiner Meinung ist dieser Vorwurf vollkommen ungerechtfertigt. Wie denn? Unlebendig der Mann, der keine andre Freude hat und keinen andern Beruf kennt, als seine Erfahrungsschätze für andre auszumünzen? Aber gerade das Gegenteil ist der Fall. Die Freude am Klugreden und der Hang, gescheite Ratschläge zu erteilen, ist in Wahrheit einer der zwingendsten Triebe des Menschenherzens. Wir würden ja doch alle vor Langerweile bald umkommen, wenn wir uns um nichts bekümmern wollten, als um unsere eigenen Angelegenheiten. In fremde Stuben zu gucken, in fremde Schicksale zu greifen, fremde Entschließungen durch guten Rat zu beeinflussen, und dann, wenn der Rat sich wirklich erprobt hat, vor dem Lebensglück eines andern mit einer gewissen selbstgefälligen Autorfreude sich zu sonnen – glauben Sie mir, das ist die menschlichste aller Menschlichkeiten. Und das empfinde ich gerade jetzt, wo ich das Amt des Raisonneurs nahezu berufsmäßig übernommen habe. Es hat sich eine förmliche Sprechstunde bei mir ausgebildet; und Auswärtige berate ich sogar brieflich. Da kommt irgend ein junger Dachs, der nicht aus noch ein weiß und einen Rettungsgürtel braucht – den geb' ich ihm. Es kommt irgend ein unbesonnener Novize aus dem Klub, der am Spieltisch sich angeschossen hat und Geld braucht –«

»Das geben Sie ihm.«

»Ich denke nicht daran! Aber ich schicke ihn trotzdem nicht mit leeren Händen wieder nach Haus. Aus dem Reichtum meiner Erfahrungen bekommt er ein paar lehrreiche Grobheiten mit auf den Weg, die ihm zuerst die Schamröte ins Gesicht, aber dann die Vernunft wieder in den Kopf treiben.«

»Mit einem Wort – Sie gefallen sich jetzt in der Rolle jener betagten Lustspielhelden, welche von dem Tage an die guten Lehren geben, wo sie nicht mehr die schlechten Beispiele geben können?«

»Leider wahr! Und ich sage Ihnen, daß in meinem Privatissimum Wahrheiten zu Gehör kommen, die Sie in Kompendien und Philosophiebüchern vergebens suchen werden. Denn hier handelt es sich um eine Weisheit, die nur durch tausend Dummheiten erworben werden kann. Man muß sie durch Reue, Schulden und Gichtanfälle erkauft haben! Freilich – mit der landläufigen Biedermännermoral haben die Ratschläge, die aus solcher Erfahrung quellen, nichts gemein.«

»Vielleicht erfreuen und bekehren Sie mich durch einige Beispiele aus Ihrer Praxis?«

»Mit Vergnügen! Sehen Sie, ich bin eine Art weltlicher Beichtvater geworden, der seine Beichtkinder aber nicht dadurch beeinflußt, daß er ihre Sünden erhorcht, sondern nur dadurch, daß er seine eignen berichtet. Ein großer Teil meiner Klienten wird natürlich durch Verlegenheiten zu mir getrieben, die wir in der Jugend alle durchgemacht haben. Geld, Geld und wieder Geld! Das ist das Leitmotiv der meisten Unterredungen; und wissen Sie, was ich den jungen Leuten rate?«

»Vermutlich, sich mit ihren Einkünften zu begnügen und keine Schulden zu machen?«

»Das befolgen sie ja doch nicht. Im Gegenteil rate ich ihnen, nur nicht zu wenig Schulden zu machen, denn das wäre das Schlimmste. Ich weiß nicht, ob ich den Ausspruch irgendwo gelesen habe, oder ob er auf meinen eigenen Beeten gewachsen ist – wahr ist es auf jeden Fall, daß die kleinen Schulden wie Steine sind, die uns ins Wasser ziehen, die großen aber wie Schwimmblasen, die uns darüber hinweg tragen. In dem Gläubiger, der nur wenig zu fordern hat, besitzen wir einen Plagegeist, der uns quält und peinigt; in dem andern aber, dem wir eine mächtige Summe schulden, haben wir einen zärtlichen Freund gewonnen, der über unser Leben und unsere Gesundheit wacht wie ein Vater! Und wer es vollends bis zum Multimillionär im Minus gebracht hat, gehört schon zu den Mächtigen dieser Erde.«

»Sie haben ja wunderbare Theorien!«

»Eine andre Gruppe meiner Klienten setzt sich aus Ehemännern zusammen, die mir ihre ängstlichsten Geheimnisse anvertrauen. Ja, ja, lieber Freund! Es gibt so manchen Trauring, der für den oberflächlichen Blick noch im ersten unversehrten Goldglanz schimmert; betrachtet man ihn aber genauer, so entdeckt man einen ganz schmalen Riß, und wenn diese Bruchstelle nicht sofort sachverständig behandelt wird, dann springt eines Tages der ganze Reif auseinander. Ich habe die Reparatur von halb geborstenen Trauringen zu meiner Spezialität gemacht.«

»Da werden Sie aber viel zu tun haben!«

»Erst gestern kam einer unserer gemeinschaftlichen Bekannten zu mir und hat mir mit verlegenem Stammeln bekannt, daß ein Freund des Hauses sich allzu eifrig um die Gunst seiner Gattin bewirbt. Der Hitzkopf wollte den ungestümen Bewerber zum Zweikampf fordern und aus der Welt knallen.«

»Selbstverständlich haben Sie es nicht gestattet?«

»Und zwar einfach deshalb nicht, weil zur Beseitigung, eines Hausfreundes kein Mittel unzweckmäßiger sein kann, als ihn zu töten. Den lebendigen Verführer kann man eines Tages durch Klugheit oder Güte aus dem Herzen einer Frau verdrängen, den toten aber wird man nie wieder los! Er würde die Empfindung eines Weibes für immer beherrschen und sich im ganzen Schutz seiner Unsichtbarkeit in dem Hause festsetzen, aus welchem man ihn verjagen wollte.«

»Und welches Mittel haben Sie also unserm gemeinschaftlichen Freund empfohlen?«

»Es gibt nur ein einziges, und das ist das System des unlauteren Wettbewerbes! Er muß dem Verführer, der ihn bedroht, alle seine Künste ablauschen und ihn an Liebenswürdigkeit übertreffen. Er muß vergessen, daß er auf die Gunst seines Weibes ein legitimes Recht hat und sie mit Bräutigamseifer täglich neu zu erobern suchen, bis es ihm geglückt ist, wieder der Geliebte seiner Frau zu werden, nachdem er schon jahrelang ihr Gatte gewesen ist. Sie dürfen es meiner eigenen Erfahrung glauben, daß jedes andre Rezept gegen Hausfreunde in das Gebiet des Geheimmittelschwindels gehört. Und wenn die Moralisten darüber murren, so sage ich Ihnen, daß es eine Moral für Städte unter zehntausend Einwohnern gibt und eine zweite für Weltstädte. Nur aus dieser schöpfe ich meine Ratschläge.«

»Gehören auch Frauen zu Ihrer Klientel?«

»Leider nein! Mein Ruf, der trotz meiner grauen Haare noch immer so schmeichelhaft schlecht ist, steht Schildwache vor meiner Junggesellenwohnung und läßt keine Frau der Gesellschaft über die Schwelle. Bisweilen werde ich aber wie ein berühmter Arzt zu einem Konsilium berufen, und erst gestern habe ich in einem Frauenboudoir mich an einem Familienrat beteiligen dürfen. Es hat sich um eine ziemlich verzwickte Frage gehandelt. Der Bruder der Gnädigen, einer unserer bekanntesten Rechtsanwälte, hat seit Jahren, wie alle Welt weiß, ein Verhältnis mit einer jungen Sängerin, die sich ihm in der ersten Unbesonnenheit der Jugend hingegeben, aber inzwischen die gesellschaftlichen Demütigungen empfinden gelernt hat, die mit einem freien Liebesbund verknüpft sind. Und so hat denn der Anwalt den Entschluß gefaßt, sie zu heiraten. Sie können sich denken, wie diese späte Umkehr auf seine Schwester gewirkt hat.«

»Hoffentlich ist sie in der Tiefe ihres Herzens erfreut darüber, daß ihr Bruder einer so ehrenwerten Regung des Gewissens nachgegeben hat?«

»Aber ganz und gar nicht! Sie vergessen die gesellschaftlichen Verlegenheiten, die sich aus dieser Eheschließung ergeben müssen. Die Geliebte des Bruders konnte ignoriert werden, aber die ehemalige Geliebte will empfangen sein und von allen Rechten der Legitimität Nutzen ziehen, nachdem sie alle Freuden der Illegitimität ausgekostet hat – Ja, da gibt es keine Ursache zum Kopfschütteln. Die Gesellschaft hat wie ein Klub bestimmte Statuten. Sie mögen gerecht oder ungerecht sein, aber wer eintreten will, muß sich ihnen unterwerfen. Und wie die Dinge liegen, verzeiht es die Gesellschaft allenfalls, wenn irgend jemand eine anständige Frau zu seiner Geliebten macht, aber man kommt in Verlegenheit, wenn jemand seine Geliebte zu einer anständigen Frau macht.«

»Und wie haben Sie das Problem gelöst?«

»Durch ein Kompromiß, wie alle solche Probleme gelöst werden. Ich habe zu einer möglichst ausgedehnten exotischen Hochzeitsreise geraten – zum mindesten nach Westindien oder Port Said. Kehrt das junge Paar dann nach Monaten zurück, so haben vielleicht auch die Liebevollsten sich ausentrüstet. Denn die Gesellschaft wehrt sich nur gegen die drohenden Tatsachen, aber sie beugt sich den vollzogenen.«

»Sie sollten wirklich ein Pädagogium für Erwachsene begründen. Eine solche Unterrichtsanstalt fehlt uns.«

»Das werde ich auch, wenn mein Raisonneurtrieb sich noch weiter entwickeln sollte. Für heute muß ich mich aber verabschieden, da meine Sprechstunde herannaht, in der ich vielerlei Besuch zu erwarten habe. Da ist ein Sportsman, dem ich helfen soll, seinen nur allzu siegreichen Stall aufzulösen, denn seine wunderbaren Jockeys und seine unvergleichlichen Pferde drohen, allmählich ihn an den Bettelstab zu siegen. Da ist Baron Minck, der soeben sein Jahr abgedient hat und von mir erfahren will, ob er jetzt ein mittelmäßiger Maler oder ein glänzender Dragonerleutnant werden soll? Lauter Dinge, die mich nicht das geringste angehen und die mich eben deshalb so ausbündig interessieren.«

»Und wollen Sie, der aller Welt rät, nicht auch mir einen guten Rat hinterlassen?«

»O ja! Wenn Sie wieder einmal in einem neuen Lustspiel den alten Raisonneur auftreten lassen und die Kritiker Ihnen mit Recht den so beliebten Vorwurf machen, daß die Gestalt nicht im Leben wurzelt, so führen Sie die Herren schleunigst zu mir, damit ich mich als lebendiges Beispiel des Theaterraisonneurs vorstellen kann – Und damit Adieu!«

Ich werde nicht ermangeln, von dieser gütigen Erlaubnis Gebrauch zu machen.


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