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Die fünfundzwanzigste Auflage

Das Schicksalsbruchstück, das ich Ihnen aus der Tragikomödie eines Menschenlebens heute erzählen will, wird man mir vielleicht so leichthin nicht glauben wollen. Es ist ja auch in der Tat äußerst unwahrscheinlich, daß die fünfundzwanzigste Auflage eines Liederbuches für den glücklichen Poeten, der sie erlebt, zu einem Ehehindernis werden kann. Und zwar nicht etwa aus einer schrullenhaften Augenblickslaune heraus, sondern aus tief ernsten psychologischen Beweggründen. Dennoch habe ich diese Sonderbarkeit als vertrauter Zeuge soeben miterlebt. Der Ruhm eines Dichters und die breite Öffentlichkeit, die seine lyrischen Selbstgespräche sich erobert haben, sind zu einem Hemmnis geworden, das ihm den Eintritt in eine Ehe versperrt hat – Die Geschöpfe sind wieder einmal mächtiger gewesen als ihr Schöpfer – Und wenn das zartsinnige, schöne Mädchen, das jetzt dem Entflohenen wehmütig nachträumt, ihn auch mit ihrer ganzen Sehnsucht in die Ferne begleitet, so wird sie dem Dichter, den sie geliebt und nun für immer verloren hat, dennoch in der Tiefe ihres Herzens verstehend verzeihen müssen.

*

Als ich vor einigen Tagen von einem Spaziergang nach Hause kam, fand ich auf dem Korridorspiegel die folgende Visitenkarte:

»Heinrich Horst sagt Dir vor der Abreise nach Ägypten für mehrere Jahre Lebewohl.«

Eine so plötzliche Verabschiedung? – Und für mehrere Jahre? – Das sah ja aus wie eine Flucht! Ich eilte sofort in die Wohnung des Freundes, der mich schon manchmal durch paradoxe Entschlüsse überrascht hatte, und ich fand ihn tatsächlich zwischen Kisten und Koffern. Es war, als wenn er seinen ganzen Hausstand auflösen wollte.

»Also wirklich Ernst?« fragte ich ihn.

»Voller Ernst!«

»Das ist keine Reise – das ist eine Flucht!«

»Eine Flucht – jawohl.«

»Vor einem Unglück, das dir droht?«

»Im Gegenteil! – Vor einem Glück, das die Arme nach mir öffnet.«

Kopfschüttelnd erwiderte ich:

»Ich bekenne, daß ich statt der Mitteilung deiner Abreise eine ganz andre Nachricht von dir erwartet hatte. Du wirst es nicht für indiskret halten, wenn wir alle uns Gedanken darüber gemacht haben, daß du in der letzten Zeit fast ausschließlich im Hause des alten Konzertmeisters Fiebiger verkehrt hast. Seine Tochter, die junge Geigerin, ist schön und liebenswürdig – Und wie wär's dir zu wünschen, daß du dich aus den Einsamkeiten deines Witwerdaseins, aus diesem eintönigen monologischen Leben heraus endlich wieder in eine neue Ehe rettest! Ehrlich gesagt, auf die Verlobungsanzeige waren wir täglich gefaßt.«

»Und ihr hättet sie auch ohne Zweifel früher oder später erhalten, wenn nicht –«

Er machte eine Pause und ließ dann eine Anzahl von Korrekturbogen, die auf seinem Schreibtisch lagen, nachdenklich durch die Finger gleiten.

»Wenn nicht –?« fragte ich, auf die Fortsetzung seines unterbrochenen Satzes begierig.

»Wenn nicht mein Verleger vor einigen Tagen mir plötzlich von der fünfundzwanzigsten Auflage meines Liederbuches hier diese Korrekturabzüge übersandt hätte.«

Ich sah ihn mit Verwunderung an, und er fuhr dann fort, auf die Druckbogen deutend:

»Du kennst ja den Inhalt.«

»Und du weißt, wie sehr ich diese ›Lieder an eine Tote‹ bewundere. Selten ist ein lange nachtönender Erfolg so wohlverdient gewesen. Seit Friedrich Rückert ist der Gattenschmerz in der Lyrik nicht zu einem so ergreifenden Ausdruck gebracht worden. Manche dieser Verse haben sich mir unwillkürlich ins Gedächtnis geschrieben und auf die Lippen gelegt, wie eine edle und klangreiche Melodie, die man nicht mehr los wird.«

»Genug – genug!« unterbrach er mich. »Nicht von Wert und Form dieser Gedichte laß uns heute reden. Laß uns zurückdenken, wie sie entstanden sind. Du, nur du allein, der mir am nächsten gestanden, du weißt es, wie damals der frühe Tod meiner Frau mein ganzes Leben zerbrochen hat. Nie vergesse ich den ersten Morgen des Alleinseins. Diese ganze grauenvolle Einsamkeit um mich her! Unmöglich war's mir, ein Menschengesicht zu sehen. Selbst dich habe ich nicht zu mir gelassen. Jedes laute Wort um mich her hat mir weh getan. Es war mir wie eine ehrfurchtslose Entweihung meines Schmerzes. Mit selbstquälerischem Eigensinn habe ich mich tief in die Verlassenheit eingewühlt und bin rasch in eine österreichische Bergstadt geflohen, in der ich niemals gewesen war, wo keiner mich kannte. Ich wollte nur unter Menschen leben, vor denen ich mich nicht zu schämen brauchte, daß ich noch atmen konnte – Ein früher und rauher Winter hatte damals die Stadt mit Wällen von Schnee umschlossen. Über diese weißen Hügel sollte kein Ruf des Lebens den Weg zu mir finden. Der heimlichen Zwiesprache mit meiner Erinnerung sollte mein ganzes Dasein gewidmet sein – Wie sie mir wohlgetan und mich doch so innerlich ausgehöhlt hat, diese klösterliche Lautlosigkeit meines Lebens! Bis endlich doch die klingende Gewohnheit des Reims und des Silbenfalles mich wieder gefangen genommen hat. Ich habe die ›Lieder an eine Tote‹ die ich damals geschrieben habe, nicht gesucht und nicht gefunden. Zeile für Zeile sind sie aus mir herausgeblutet, als wollte der Schmerz meine letzten Lebenssäfte aus mir entpressen.«

»Und gerade diese Lieder haben dir wieder den Heimweg ins Leben gebahnt. Der Drang der Mitteilung, der zu den primären Trieben der Menschenseele gehört, hat dich wieder an die Welt zurückgegeben.«

»Sage lieber ohne schönfärberische Psychologie: Die literarische Eitelkeit hat auch durch den zehrenden. Schmerz ihren Weg gefunden.«

»Nenn' es, wie du willst! Eine gute und fruchtbare Stunde war es, in der du dich entschlossen hast, deine ›Lieder an eine Tote‹ der Öffentlichkeit zu übergeben, denn sie sind der dichterische Erfolg deines Lebens geworden.«

»Sie sind's geworden! Doch übersehen wir es nicht: Nur die Entweihung meiner Einsamkeiten hat mir diesen Erfolg erkauft. Ich mußte es über mich gewinnen, meine Leiden einem Verleger zum Vertrieb zu übergeben. Ich habe die Korrektur meiner Schmerzen gelesen. Ich habe meine Untröstlichkeit von Druckfehlern gesäubert. Die Schmerzensrufe aus meinen heimlichsten Stunden sind in Goldschnitt gebunden worden und gehören nun schon in fünfundzwanzig Auflagen der Geschenkliteratur an – Nun war ich wieder in die Mitte der Menschen gestoßen. Und damit war ich allen Niederträchtigkeiten der Stunden preis gegeben. Ich mußte es mir selbst gestehen, daß sie mit Diebeshänden auch nach unverjährbaren Erinnerungen greifen. Das Bild meiner Toten wurde blässer und immer blässer in mir. Ja, du selbst hast damals den Tag gesehen, an dem ich zum erstenmal wieder fröhlich sein konnte –«

»Und wer möchte dich deshalb tadeln wollen? Wer darf über diese Menschlichkeiten richten? Von den rinnenden Stunden wird jeder Schmerz endlich ausgelaugt und verliert seine Herbheit. Der Drang des Lebens überlistet auch unsere edelsten Leiden. Wir alle können's nicht hindern, und auch du hast's nicht vermocht.«

»Ich hab's nicht vermocht! Du hast recht. Die kupplerische Gewalt der Stunde hat neuer Liebe mein Herz geöffnet. Ich habe in roher Lebenssehnsucht mit der Erinnerung gerungen, und ich habe sie besiegen können – und vielleicht würde die Schwüle dieses Dramas in kurzer Zeit mit der Banalität einer Verlobung geendet haben, wenn nicht noch zur rechten Zeit das da gekommen wäre.«

Und damit zeigte er wiederum auf die Druckbogen.

»Die fünfundzwanzigste Auflage?«

»Jawohl, von meinen ›Liedern an eine Tote‹! Und vor diesem Buch würde ich mich in Grund und Boden schämen, wenn einst eine Lebendige an meiner Seite gesehen würde. Mir allein ist nicht erlaubt, was jedem andern verziehen wird! Ich habe mich öffentlich, nur allzu öffentlich zur Untröstlichkeit verpflichtet. In fünfundzwanzig Auflagen habe ich dieses Gelöbnis erneuert. Mein Schmerz ist – ich möchte sagen: Grundbuchlich eingetragen. Er ist literargeschichtlich festgelegt. Ich würde den dichterischen Erfolg meines Lebens in eine schamlose Lüge verwandeln, wenn ich ihn durch meine Taten widerlegen wollte. Und wie Marino Falieri einst die Republik Venedig durch einen feierlichen Akt dem Meere vermählt hat, so habe ich mich feierlich und unentreißbar dem Schmerz vermählt – Mein Buch ist mächtiger als ich, der es geschrieben hat. Und darum – Verstehst du mich jetzt?«

»Ehrlich gesagt,« erwiderte ich, »nicht ganz! Denn das allein kann doch unmöglich –«

Mit einer melancholischen Bewegung unterbrach er mich.

»Vielleicht ist es auch nicht das allein! – Vielleicht strömt eine tiefere Welle mit unter – Ich kann die Scham vor dem Schatten nicht los werden, der aus diesen Blättern emporsteigt – Einst habe ich die Einöde aufgesucht, um zu vergessen, daß ich glücklich war. Jetzt brauche ich tiefere Einsamkeiten und lange stille Jahre. Denn ich will vergessen, daß ich vergessen konnte –«

Nach diesen Worten beugte er sich tief auf sein Buch herunter, als wollte er völlig in die Vergangenheit niedertauchen. Ich aber drückte ihm zum Abschied schweigend die Hand und schlich auf den Zehenspitzen über die Schwelle.


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