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Der Sommermensch

Ist das nun Ihr ehrlicher Ernst, Doktor? oder wollen Sie uns nur eine jener paradoxen Spielereien bieten, mit welchen Sie uns gelegentlich zu hänseln belieben?«

»Aber nein! Es ist mein voller Ernst.«

»Gut! Also präzisieren wir! Sie behaupten, daß die zwei Seelen, die nicht bloß dem Doktor Faust, sondern jedem von uns in der Brust wohnen, durch den psychologischen Einfluß der Jahreszeiten geformt werden?«

»Stimmt!«

»Sie behaupten weiter, daß in jedem von uns ein Sommermensch und ein Wintermensch steckt, die zwei völlig verschiedene Ausgaben unseres Ich darstellen und nur äußerlich als eine Einheit erscheinen – etwa wie zwei Teile eines Buches, die von einem Einband umschlossen werden?«

»Richtig, das behaupte ich.«

»Und Sie gehen sogar noch weiter. Sie wollen uns glauben machen, daß der Sommermensch die geschmackvollere und anmutsreichere Edition unseres Selbst ist, während der Wintermensch eine zwar nicht entartete, aber doch vielfach entstellte Varietät der Gattung darstellt.«

»Sie haben mich vollkommen richtig verstanden! Und wird denn diese Beobachtung nicht oft und oft schon dadurch bestätigt, daß uns unsere Sommerbekannten, denen wir im Bad oder im Gebirge unter dem überredenden Einfluß des guten Wetters und einer schönen Umgebung soviel Geschmack abgewonnen haben, eine bittere Enttäuschung bereiten, wenn sie uns im Winter wieder vor die Augen treten? Dann erst empfinden wir, daß etwas von dem Blumenduft des Sommers auch an den Menschen hängen geblieben war. Ist diese Duftwelle von ihnen abgeflossen, so ist damit alles verflüchtigt, was uns besiegt und gewonnen hat. Denn wie das Sonnenlicht, wenn es sich breit und grell auf die Rücken der Berge und der Felsen lagert, ihre Umrisse auflöst und ihre Linien verdeckt, so umhüllt die Sommersonne auch die Ecken und Kanten unseres Charakters.«

»Ein gewagtes Gleichnis, das Sie uns zu beweisen haben werden.«

»Beweist es sich nicht durch jeden Blick in die Runde? Wir haben heute nahezu dreißig Grad Zelsius. Die Luft ist schwer und stockend. Kein Windhauch bewegt sie. Das Blätterwerk der Linde, das uns sonst, vom Westwind bewegt, soviel zitternde Schatten und Arabesken auf die Decke des Gartentisches zeichnet, hängt reglos und verschmachtet von den Zweigen. Die Sonne malt auf den Moosboden des Waldes breite Goldstreifen. Das Auge wendet sich ab von so viel schneidender Helligkeit. Aber wieviel Schönheit schafft und mehrt dieses Licht! Wie ist die ganze Runde von diesen lachenden Strahlen überschmückt mit Freude und Anmut! Und nicht anders ist's mit den Menschen rundum. Der Sommer trifft uns alle mit springenden Lichtern, die erstaunlich kosmetisch wirken. Er läßt Liebenswürdigkeiten aus uns herausblühen, die uns im Winter niemand zugetraut hätte.«

»Und wie erklären Sie sich diese erfreuliche Metamorphose, die wir in der Ferienzeit durchmachen?«

»Eben aus der Ferienzeit selbst! Es ist der Zauberstab des Dolcefarniente, der uns verwandelt. Denn darin liegt die Hauptursache für die schmückende Kraft des Sommers, daß er Arbeitsmaschinen in Menschen zurückformt. Im Winter sind wir alle mehr oder weniger Berufssklaven. Die einen, weil sie müssen; die andern, weil sie wollen. Von der Pflicht und der Notwendigkeit sind die einen beherrscht, vom Ehreifer und dem Schaffensdrang die andern. Unser ganzes Sinnen und Trachten ist im Winter von den Berufspflichten eingekreist wie eine belagerte Festung. Erst der Sommer lockert den Gürtel. Jetzt tauen alle verschneiten Gefühle in uns auf und Freudenquellen sprudeln empor, die der Winter lieblos verschüttet hatte. Die Stunde, die endlich von dem wuchtenden Bleigewicht des Arbeitszweckes befreit ist, gibt den Menschen wieder an sich selbst zurück. Das Gesetz der Trägheit kommt zu seinen lange vorenthaltenen Rechten. Der alte Urstand der Natur kehrt wieder! Wir strecken uns behaglich auf der Bärenhaut aus und lassen uns die Sonne fröhlich in den Hals scheinen. Wir erteilen uns selbst Audienz und wundern uns, wieviel wir uns noch zu sagen haben. Wir schwelgen in dem ganzen Glücksgefühl der Selbstbefreiung und schmiegen uns träumerisch an die Erinnerung und an die Hoffnung. Denn der Sommer macht Poeten aus uns allen.«

»Kurz, der Müßiggang wirkt nach Ihrer Meinung veredelnd auf den Menschen?«

»Das ist allerdings meine gefestete Überzeugung – und allen Vertretern der Lasttier-Philosophie, allen moralischen Fronvögten ins Gesicht behaupte ich: die Arbeit entstellt! und der Fleiß ist unästhetisch! Und wie die physische Arbeit uns Schwielen und Furchen in die Hände reißt, so gibt es auch seelische Deformationen, die nur durch unsere Tätigkeit verschuldet werden. Und darum ist mir der Mensch in den Ferien ein erhöhter Mensch. Zumal, wenn ihm eines Tages an einem stillen Weiher hoch oben, an einer plaudernden Wildquelle oder einem schweigsamen Waldwinkel die Erlösungsstunde leuchtet, wo ihm alle Wichtigkeiten seines Lebens plötzlich so namenlos gleichgültig werden und alle übersehenen Gleichgültigkeiten so inhaltsreich und bedeutsam. Denn der Sommer hat auch eine berichtigende Kraft, die den Dingen ihr natürliches Maß zurückgibt.«

»Mit einem Wort: Es lebe das holde Nichtstun! Und um so höher sei es gepriesen, weil es eine Kunst ist, die auch der Trägste erlernen kann.«

»Glauben Sie das nicht, meine Gnädigste! Es gehört viel Fleiß dazu, um sich zu einem vollendeten Faulenzer auszubilden! Vielleicht darf ich mich einmal ausnahmsweise selbst zitieren und Ihnen aus einem Prosagedicht, zu welchem mich in meinem ersten freien Sommer das Dolcefarniente entflammt hat, einige Zeilen vorlesen?«

»Ich bitte.«

»Dolcefarniente! – Liegt nicht etwas wie Mandolinenklang, wie der Lockruf eines Gondelliedes in dem Wort? Ein schwüler Wohllaut rinnt aus seinen Silben nieder. Es tröpfelt uns wie Mohnsaft auf die Augen und nimmt uns mit einem Zauber gefangen, gegen den es kein Widerstreben gibt. Das Wort ertönt – und plötzlich ist das Uhrwerk der täglichen Arbeit ausgehoben. Der hastige Zeigerschritt des Strebens, das uns von einem Ziel zum andern treibt, macht gehorsam Halt. Es legt sich uns auf die heiße Stirn wie eine weiche mütterliche Hand, und wir fühlen etwas wie einen Vorgeschmack jener letzten Ruhe, die wir den Tod nennen und die doch nichts andres ist als ein ewiges Dolcefarniente, das uns am Ausgang der Endlichkeit in seinen wohligen Frieden einschließt – Es ist in das italienische Wort die ganze Poesie des Müßigganges eingebettet, die ihr Symbol in der Hängematte findet, welche sich zwischen blühenden Bäumen schaukelt und in der wir uns nur ausstrecken, um durch die Lücken der grünen Kronen hindurch in die blaue Unendlichkeit des Himmels zu starren. Leichte Wolken ziehen durch das Luftmeer wie gleitende Kähne, und ins Schlepptau hängen wir ihnen unsere Hoffnungen und unsere Träume. Aber für die Stunden der Gegenwart, die es uns spurlos entführt, entschädigt uns das Dolcefarniente durch die Stunden der Vergangenheit, die es uns wiedergibt. Auf einsamen Spaziergängen sind sie unsere Begleiter. Und wie vor den Augen des Sterbenden in einem großen traumhaften Wandelbild das ganze Leben vorüberzieht, so wird uns auch im Dolcefarniente die entsunkene Zeit wieder lebendig. Die Stunden von einst treten vor uns hin – die einen mit vollen, die andern mit leeren Händen. Wir messen in einsamer Selbstschau unser Wollen an unserm Vollbringen. Und darum ist es nicht wahr, daß der Müßiggang der Anfang aller Laster ist. Er kann auch das Ende aller Weisheit sein. Er kann die geweihte Sonntagsruhe der Seele werden.«

»Sie fangen allmählich an, mich wirklich glauben zu machen, daß wir selten etwas Besseres tun, als wenn wir nichts tun! und daß der Sommermensch der reinere Mensch ist!«

»Er ist es schon deswegen, weil er sich endlich einmal gleichsam Haut an Haut mit der Natur berührt. Mögen unsere städtischen Sommergäste im Gebirge oder an der See auch durch die Verkrustungen des Stadtlebens für das Naturschöne noch so unempfänglich geworden sein; mögen in den Entzückungen unserer Gebirgsschwärmer noch so viele falsche Untertöne mitschwingen; mag manchen auch nur ein hohler Sportehrgeiz auf die Höhen treiben; mag sich in den Sommertagen der Modengeck in einen Lodengeck verwandeln und die Bartbinde selbst in das Glocknerhaus mitnehmen – gleichviel! Die Natur entläßt keinen, der in ihre heilenden Quellen taucht, ohne eine Gabe des Segens, die des Sommers köstlichste Spende wird.«

»Und so läge denn Poesie und Tiefsinn in der Trivialität, daß man die Lebensjahre eines Menschen nach seinen Sommern zählt?«

»Jawohl! Tiefsinn und Poesie liegt in diesem Sprachgebrauch! Mir wenigstens ist bei der Fahrt durch dieses Erdental der Winter stets nur wie ein langer Tunnel zwischen zwei Sommern erschienen, von denen der eine noch in das Eingangstor hineindämmert, während der andre schon von fern verheißungsvoll herüberschimmert – Denn nur die Sommer zählen in unserem Leben!«


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