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Aus zweiter Hand

Als ich vor einiger Zeit in Berlin der ersten Aufführung einer Operette beiwohnte und die Vorstellung eben begonnen hatte, öffnete sich die Tür der gegenüberliegenden Loge, und eine auffallend hübsche Dame rauschte herein, die sofort durch ihren prächtigen, spitzenbesetzten Theatermantel die Blicke der Frauen auf sich lenkte.

In ihrer Begleitung befand sich mein alter Klubfreund Baron Lotze, der mit seinem immer vorbildlichen Frack und der tief ausgeschnittenen weißen Seidenweste mit den Lapislazuliknöpfen den Logenrand gefällig garnierte. Seine Begleiterin war augenscheinlich eine jener vorurteilslosen Damen, die – die – wie sage ich nur? – die von den Zinsen ihrer Zärtlichkeit leben. Eine diskrete, aber gewissenhafte Besichtigung, der ich sie durch das Opernglas unterzog, hatte ein erfreuliches Ergebnis. Zwar waren ihre tizianroten Haare von einer so ehrlichen Falschheit, daß niemand getäuscht werden konnte, aber aus dem vollen, von einem strahlenden Lächeln durchleuchteten Gesicht blitzte viel herzhafte Daseinsfreude und kapriziöse Lebendigkeit in die Welt – Eine Wissende, die den Wissenden lachte.

Als ich im Zwischenakt ins Foyer eilte, kam mir Baron Lotze schon auf halbem Wege entgegen:

»Ich wußte, daß die Neugier Sie zu mir führen würde. Sie wollen natürlich erfahren, wer meine hübsche Begleiterin ist?«

»Wenn es nicht indiskret wäre?«

»Aber ich bitte Sie! So zarte Rücksichten werden hier nicht gefordert. Also ausnahmsweise weder Ballett noch Operette.«

»Sondern –?«

»Eine freie, lebenslustige Frau, die vergnüglich von ihren Renten lebt.«

»Will sagen: Von den Renten der andern?«

»Auch das!«

»Dann erlauben Sie mir eine Frage, die Sie bei unseren vertrauten Beziehungen nicht verletzend finden können. Sie haben mir manchmal gestattet, Ihnen in gelegentlichen Bedrängnissen freundschaftlich zur Seite zu stehen und Ihnen das zu bieten, was Sie so gern einen kameradschaftlichen Schluck aus der Feldflasche nannten. Sie haben mir mehr als einmal bekannt, daß der größte Teil Ihrer Einkünfte durch die Äußerlichkeiten verzehrt wird, die Sie für nötig halten, um ›die Fassade Ihres Lebens‹ schmuck und sauber zu halten – und ich gebrauche da wieder eine Ihrer Lieblingswendungen. Aber, bester Freund, wie machen Sie's dann nur möglich, stets so kostspielige, galante Beziehungen zu unterhalten? – Das muß ja doch ein Heidengeld verschlingen.«

»Nicht so viel, wie Sie glauben,« erwiderte der Baron mit einem verschmitzten Lächeln. »Man muß sich nur auch da etwas ökonomische Selbstbescheidung auferlegen. Wissen Sie, das ist gerade, wie –«

Er machte eine Pause, um ein Gleichnis zu suchen.

»Das ist gerade, wie –« fuhr er dann fort, »nun wie mit den kostspieligen illustrierten Zeitungen, Monatsschriften und Revuen, die in den Kaffeehäusern aufliegen, und die sich natürlich nicht jeder gönnen kann. Aber wenn sie von den Stammgästen durchgelesen sind, dann werden sie an sparsame Leute, die auf den Reiz der Neuheit keinen entscheidenden Wert legen – sie werden an geduldige Leser, die ihre Zeit abwarten können, im Subabonnement billig abgegeben.«

»Nun, und Sie – ?«

»Ich bin ein Subabonnent der Liebe! – Und wenn es natürlich auch nicht die frischesten Nummern sind, die ich bekomme – von etwas älterem Datum und mit merklichen Gebrauchsspuren – immer noch lesenswert! Mein Wort darauf!«

Die elektrische Klingel schrillte jetzt in unser Geplauder und rief uns wieder auf unsere Plätze. Aber das Wort von dem »Subabonnenten der Liebe« ist mir im Gedächtnis hängen geblieben. Und seltsam! Seitdem ich es gehört habe, sehe ich überall, wo ich mit argwöhnischem Spürsinn Umschau halte, verstohlene Subabonnenten – Menschen, die ein Leben aus zweiter Hand führen und in ihren Köpfen nur Meinungen bergen, welche die abgelegten und überjährigen Gedanken von andern sind. Ja, manchmal frage ich mich demütig, ob wir nicht alle, die wir die geistigen Erben von Jahrhunderten sind, nur noch aus zweiter Hand leben, urteilen, empfinden können? Nur den größten Forschern ist es alle hundert Jahre einmal gegönnt, die Jungfernschaft einer Erkenntnis zu genießen – und vielleicht ist unsere ganze Gesellschaftsordnung nur die Subabonnentin einer Kultur von gestern und ehegestern, die längst nicht mehr wahr ist.


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