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Als ich im Spätsommer dieses Jahres in Ischl den fröhlichen Lästergang durchschritt, den man übereingekommen ist, die Esplanade zu nennen, leuchtete mir an den geduldigen Kastanienbäumen, die sich hier im Nebenamt als Plakatsäulen gebrauchen lassen müssen, ein violetter Zettel entgegen, der meine immer leicht entzündete Neugier erregte. Ich bedauere es nicht, daß ich dieser Untugend, die für den Schriftsteller im Grunde eine Tugend iss, nachgegeben habe, denn der Zettel verkündete mit einladender Beredsamkeit:
»Dienstag nachmittag Gastspiel des Bauerntheaters von Goisern. Zum erstenmal: ›Der Feichtenhof von Goisern‹. Volksstück in drei Akten von Lukas Lamprecht, Briefträger in Goisern.«
Die letzten drei Worte waren auch auf dem Theaterzettel durch Sperrdruck hervorgehoben – und damit hatte der Volksdichter, der uns zur Bewunderung seiner Naivität einlud, gleichzeitig einen beinahe amerikanischen Managerinstinkt bekundet. Er war sich offenbar des Kuriositätswertes seiner Dichtung vollkommen bewußt und empfand es mit achtungswerter Klarheit, daß nicht der Dramatiker, sondern nur der Briefträger die Anziehungskraft der Vorstellung würde bilden können. Es ist der gleiche Gedankengang, der einstmals den wackeren Terofal von. der Schlierseer Truppe veranlaßt haben soll, in Nürnberg vor versammeltem Volk im Zwischenakt ein Schwein abzustechen, um auch für die Zweifelsüchtigsten den sinnfälligen Beweis zu erbringen, daß er unmittelbar von der Fleischbank auf die Bühne gewandert ist. Jedem andern Schauspieler würde es genügt haben, seine Zuschauer davon zu überzeugen, daß er ein echter Künstler ist; der Komiker vom Schliersee aber mußte seine Zuschauer auch davon überzeugen, daß er ein echter Metzgergeselle war – Lukas Lamprecht, der Briefträger von Goisern, war von der gleichen Beobachtung geleitet, als er sich seinen Hörern vor allem durch seinen postalischen Beruf – rekommandieren wollte –
Und so wäre denn auch in das Salzkammergut, das bisher dramatisch so unbescholten war, der wetterbraun gefärbte Dilettantismus des Bauerntheaters eingekehrt und jene Abform der Volkskunst, die in gläubigen Hörern immer die Begeisterung für Höhenluft und Gebirgsfrische auslöst. Goisern hat sich bisher mit dem Ruhm begnügt, die beliebteste Jausenstation in der Umgebung von Ischl zu sein. Die langgestreckte Dorfschaft liegt ungefähr in der Mitte des Weges zwischen Ischl und Hallstatt. Zur rechten und zur linken Seite mit einem weiten Steinmantel von Felsen umschlossen, von den temperamentvollen Wellen des Traunstroms durchrauscht und von dunklen Fichtenwäldern übergrünt, bildet Goisern den Mittelpunkt eines der anmutigsten Landschaftsbilder. Eine rührige Sektion des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins ist hier emsig tätig, um immer neue, gut versicherte Wege anzulegen, die uns auf der einen Seite über die malerischen Hügelterrassen der Stambachwildnis, am Rehkogel vorüber, auf die Hütteneckalm und auf der andern Seite zur Höhe der Jochwand emporführen, von der wir den ganzen Gebirgsstock mit einem einzigen Augenaufschlag überschauen. Das alles hat nicht genügt, um die Bewohner von Goisern in ihrem Ehrgeiz zu befriedigen. Sie wollen jetzt, wie es scheint, mit Schliersee und Tegernsee, wenn nicht am Ende gar mit Oberammergau in Wettbewerb treten und träumen vielleicht schon von Vorstellungen ihres Bauerntheaters, die bei ausverkauften Bergen stattfinden. In Lukas Lamprecht haben sie das Volksgenie entdeckt, das für diesen Zweck zwar nicht nötig, aber immerhin nützlich ist. Für die »Salzkammergut-Zeitung« ist der strebsame Mann schon seit langer Zeit tätig. Seine Sonntagsbriefe werden in Goisern stets mit Ungeduld erwartet – das heißt, auch diejenigen, die er schreibt, und nicht bloß die, die er austrägt. Wahrscheinlich hat er auch noch einige Theaterstücke in seiner Mappe verborgen – das heißt, in seiner Schreibmappe und nicht in seiner amtlichen Briefmappe – und wer weiß es, ob seine schriftstellerische Begabung nicht am Ende dazu führen wird, um mitten im Salzkammergut zwischen der Goisener Sägemühle und dem Waldwirtshaus in der Ramsau ein neues Theaterdorf aus dem Boden zu zaubern!
*
Mir aber sind bei dem Anblick des Theaterzettels, auf welchem der Briefträger von Goisern seinen ersten Gastspielausflug angekündigt hat, die Stunden wieder lebendig geworden, in welchen ich gemeinsam mit Gustav Kadelburg eben hier, im Laufener Walde, die Komödie »Das Theaterdorf« geschrieben habe, welche die Ambitionen der Bauerkunst satirisch beleuchten wollte. Das Stück hat dem Publikum nicht halb so gut gefallen, wie seinen Verfassern. Es gehört zu den verschollensten Bühnenwerken der Neuzeit. Selbst die jüngsten Theaterbesucher können sich nicht mehr daran erinnern. Wer uns damals vorausgesagt hätte, daß der Dilettantismus in Lodenhosen, gegen den wir uns spöttisch richten wollten, so früh schon in der unmittelbaren Nähe unseres Schreibtisches ans Licht treten würde! Und daß es mir selbst eines Tages nicht anders gehen wird, wie dem Helden der Komödie, dem theatermüden Justizrat Hermann Riebeck aus Bremen! Übersättigt von den Kunstgenüssen vieler Winter, hat er sich nach einem weltentlegenen Dorf geflüchtet, das abseits vom Schienenwege liegt und einer jener stillen Nebenorte ist, an denen das große Touristenleben vorbeiflutet. Hier gibt es kein Kurhaus, keine Alpenhotels, keine befrackten Kellner, kein Badeleben, keine Lawn-Tennisplätze und keine Kurmusik – Gegend! Nichts als Gegend!
»Und hier,« ruft Frau Ella Sidonie, die Gattin des Justizrats, entsetzt aus, als sie das schmucklose Dörfchen bei der Ankunft überblickt, »hier soll ich meinen Sommer verbringen?«
»O nein!« erwidert der Justizrat. »Hier sollst du meinen Sommer verbringen!«
»Deinen –?«
»Jawohl, mein Schatz! Seitdem wir uns die Freuden einer Sommerreise gönnen dürfen, hast du mich Jahr um Jahr entweder in ein parfümiertes Modebad geschleppt, wo ich im Sommer nur den Winter wiedergefunden habe – oder wenn es wirklich einmal in die Berge ging, da mußte ich immer in so ein modernes Gigerlhotel! Weißt du – wo die Leute morgens in Bergschuhen und Wadenstrümpfen die Naturfreunde spielen und sich abends im Smoking an die Table d'hote setzen – Das habe ich bis hier oben! – Und dazu noch deine unglückselige Schwärmerei für das Theater! Als wenn man damit nicht im Winter toll und voll gestopft würde. Deutsche Opern, italienische Opern; Mittagsvorstellungen, Abendvorstellungen; zum Frühstück ein ganz neuer Dichter, zum Abendbrot ein ganz alter – da gehört ja ein Straußenmagen dazu! Aber auch im Sommer läßt du mir keine Ruhe. Wo irgend in der Welt ein Vorhang hochgezogen wird, müssen wir dabei sein. Die Passionsspiele in Oberammergau und die Volksschauspiele in Meran; die Festspiele in Wiesbaden und die Wagner-Spiele in Bayreuth; an den Schliersee, nach dem Tegernsee – überall mußt du hin – Selbst Rotenburg an der Tauber hast du nicht ausgelassen!«
»Mein Gott, ich schwärme nun einmal für die Kunst und die Künstler.«
»Ich ja auch! Aber man will doch einmal eine dramatische Schonzeit haben. Und darum habe ich mir für diesen Sommer einen Ort ausgesucht, der vielleicht etwas primitiv ist, das gebe ich ja zu, aber dafür ist er theaterrein!«
Sehr bald muß der arme Justizrat erkennen, daß er sich in dieser Voraussetzung gründlich geirrt hat, denn gerade am Tage seiner Ankunft beschließen die Bewohner von Nussensee, um den Fremdenstrom in ihr verlassenes Örtchen zu lenken, ein Theaterstück aufzuführen, das sie dem Pfarrer aus der Verschwiegenheit seines Schreibtisches zu entlocken suchen. Ein Schauspieler, den der Zufall in ihre Mitte gewirbelt hat, unterstützt sie in ihrem Beginnen und weiß den Widerstand des Pfarrers zu überwinden.
»Füllt denn Ihre Komödie den Abend?« fragt er ihn.
»Wenn die Leute sie zu Ende spielen lassen, dann allerdings,« erwidert der Pfarrer lächelnd.
»Und davon haben Sie niemandem etwas gesagt?«
»Ja, wissen's, ich hab' mir halt gedacht: Bei jeder andern Sünde, da ist's gut, wenn man sie beichtet, aber bei so einer dramatischen Sünde, da ist's schon besser, man beichtet sie nicht! Da wird sie halt leichter verziehen!«
»Aber nein! Sie müssen uns Ihr Stück geben! Und wenn wirklich etwas fehlen sollte, das bringen wir eben hinein!«
»Ah, da fehlt wohl manches.«
»Kommt denn ein Wilddieb darin vor?«
»Der kommt vor.«
»Nun also! Das ist die Hauptsache. Und ein uneheliches Kind?«
»Wieso?«
»Weil das in keiner Bauernkomödie fehlt.«
»Ich bitt' schön – wenn der Autor ein Geistlicher ist!«
»Das ist allerdings die einzige Entschuldigung. Vor allen Dingen aber, wie ist's mit dem Schuhplattler?«
»Das tut mir leid, einen Tanz gibt's nicht in meinem Stück.«
»Bringen wir hinein. Zum Schluß muß getanzt werden.«
»Aber zum Schluß kommt ja der Pater Sebaldus!«
»Muß er mittanzen!«
»Der Pater Sebaldus?«
»Hilft ihm alles nichts. Mit einer Träne muß so ein Stück anfangen und mit einem Schuhplattler endigen. Und wenn dann die Bretter dröhnen und der Staub in die Luft fliegt, da sollen Sie einmal rings das Entzücken hören: Das ist Heimatkunst! Das ist Alpenluft! Das ist Erdgeruch!«
Und so gelingt es denn dem Schauspieler, ganz Nussensee in den Theaterrausch hineinzutreiben. Hier, wo man sonst die Schritte auf der Dorfstraße zählen konnte – so lautlos war es rundum – wird durch den Theaterteufel alles verwandelt. Der Ziegenhirt hat ein blaues Heft in der Hand. Der Hufschmied agiert mit den Händen in der Luft herum, und aus dem Holzknecht ist ein Tragöde geworden, bis es endlich dem Justizrat zu bunt wird und er in polternden Worten sich gegen die erwachende Volkskunst in Nussensee rebellisch auflehnt.
»Ich erkläre dir mit Bestimmtheit,« sagt er seiner Gattin, »daß ich diese Narrheiten nicht dulden werde.«
»Narrheiten?« schreit sie auf. »Die Pflege der Volkskunst in den Alpenländern!«
»Wenn ich bloß diese Phrasen nicht mehr zu hören brauchte! Die Dilettantenbühne im Großstadtsalon, die nennt man ehrlich Dilettantenbühne; aber wenn sie an der Berglehne aufgeschlagen wird, dann ist es Volkskunst. Und ich sage dir: Volkskunst ist es und weiter nichts! Jawohl! Aus der dramatischen Kunst soll eine Fremdenfalle gemacht werden. Und wer ist schuld daran? Nur du und die andern mit ihrer närrischen Bewunderung. Ihr habt die Leute vom Lande erst auf den Gedanken gebracht, ihre Naturwüchsigkeit gegen Eintrittsgeld zu zeigen und ihre Naivität zinstragend anzulegen. Aus der bäuerischen Unbeholfenheit wird ein Gewerbe gemacht, und selbst der Trottel von der Dorfstraße, der bis jetzt ein ehrlicher Dummkopf gewesen ist, wird ein Geschäftstrottel, der aus seiner Begriffsstützigkeit Kapital schlägt.«
»Wie du das nur sagen kannst! Du hast eben kein Herz für Einfachheit und Natur.«
»Bitte sehr – da wollen wir doch ein bißchen unterscheiden. Einfachheit und Natur über alles! Aber wenn mir eine Bauerngesellschaft ankündigt: ›Am 18. Juni werden wir draußen auf der Heuwiese zwischen 5 und 6 Uhr natürlich und einfach sein und bitten um recht zahlreichen Zuspruch bei erhöhten Zimmerpreisen!‹ – dafür bin ich nicht zu haben! Die Kunst zur Hebung der Herzen – alle Achtung! Aber die Kunst zur Hebung des Fremdenverkehrs – da gehe ich nicht mit!«
Eine Frauenrevolte im Dorfe bringt schließlich den Theaterplan zum Scheitern, und bei der Abreise stiftet der Justizrat für das Gemeindeamt eine Votivtafel mit der an Lessing anknüpfenden Inschrift:
*
Ich glaube heute selbst, daß der Spender dieser Votivtafel das Kind mit dem Bade ausgeschüttet hat. Warum sollte es nicht einmal ausnahmsweise glücken, bodenwüchsige Begabungen zu einer künstlerischen Einheit zusammenzufassen? Aber es ist von jeher das Schicksal der guten Gedanken gewesen, daß sie durch schlechte Nachahmungen kompromittiert wurden. Was sich in Oberammergau auf dem festen Grund der Überlieferung immer wieder aufbauen läßt und was in Schliersee der listigen Erziehungskunst Konrad Drehers geglückt ist, es genügt nicht, um die hirschlederne Dramatik und die zahllosen Bauerntheater zu verteidigen, in welchen nach gegebenem Vorbild der Soufflierkasten mit einem roten Regenschirm überwölbt, das Klingelzeichen zum Beginn der Vorstellung mit der Kuhglocke gegeben und die Freude des Publikums am Gebirgsleben planmäßig ausgewuchert wird. Soll sich die Theaterinvasion nun auch auf das Salzkammergut erstrecken? Soll Goisern uns im nächsten Sommer als ein Neu-Schliersee entgegentreten? Oder wird Herr Lukas Lamprecht sich in Zukunft damit begnügen, einer der talentvollsten Briefträger Österreichs zu sein, statt die große Zahl der mittelmäßigen Schriftsteller zu vermehren? – In seinem stillen Gebirgswinkel, wenn die langen Winterabende die Dorfbewohner zusammenführen, mag sein mutig zugreifendes Volkstalent erfreulich genug wirken und ihm verdienten Dank sichern. Wollte er aber, wie der Gastspielausflug nach Ischl befürchten läßt, mit seinen Stücken sich an das breite Publikum wenden, so müßte es gerade den Landbriefträger von Goisern sehr schmerzlich treffen, wenn ihm die Antwort zuteil würde: »Adressat verweigert die Annahme.«