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Zürich, den 15. (28.) September 1906
Geehrter Herr Redakteur!
Gestatten Sie mir, dass ich Ihnen Folgendes in Erinnerung rufe: Im Januarmonat fuhren Sie gemeinschaftlich mit noch einigen Herren nach Riga zum Generalgouverneur mit dem Gesuch, dass keine Strafexpedition nach Erlaa gesandt werde. Im Waggon saßen Sie einem jungen Manne gegenüber, der sich bisweilen mit der Hand über den Schenkel strich. Sie begannen mit diesem jungen Manne ein Gespräch, indem Sie fragten, ob sein Fuß schmerze? Er antwortete, dass dies der Fall sei, und erklärte auf Ihre weiteren Fragen, er werde zu schnell gelaufen sein. Daraufhin bemerkten Sie lächelnd: »Wohl auf der Flucht.« Und der junge Mann antwortete ebenfalls im Scherz: »Wahrscheinlich.« Darauf fingen zwei ältere Männer an, über die neusten Ereignisse zu schwatzen, und der eine erzählte, dass soeben in seiner Gegend drei Menschen von Kosaken in einem Walde erschossen worden seien. Ein anderer erzählte von Flüchtlingen und Sie bemerkten zu dem jungen Manne, Sie würden gern einen solchen Flüchtling genauer berichten hören über seinen Seelenzustand während der Flucht.
Herr Redakteur! Sie waren damals gegen mich sehr teilnahmsvoll und gaben mir nützliche Ratschläge für meinen Fuß. Ich habe Sie befolgt und nach dreitägiger Erholung in Riga konnte ich weiterfahren: Empfangen Sie nun mit meinem Gruß aus der Ferne als Zeichen meiner Erkenntlichkeit die nachfolgende Schilderung. Ich werde sie möglichst genau niederzuschreiben versuchen, obwohl ich mir dessen bewusst bin, wie schwer ein solches Unterfangen ist.
Ich bin der Mann, mit dem Sie sich im Waggon unterhielten. Und mein Fuß schmerzte tatsächlich vom Laufen. Ich weiß nicht, ob noch jemand auf der Welt derartig gerannt ist, als ich vier Tage vor unserem Zusammentreffen. Ich musste bei einem Freunde einen ganzen Tag und eine Nacht im Bette verbringen und Krämpfe zogen mein liebes Bein sofort zusammen, sobald man aufhörte es zu reiben. Doch gestatten Sie, dass ich von Anfang erzähle.
Ich wurde gleichzeitig mit einigen Gliedern des Anordnungskomitees unseres Gebietes verhaftet und nach – einerlei, nach welchem Gute man mich hinführte! Dort wurden wir einige Tage in Gewahrsam gehalten, verhört und der Präses des Anordnungskomitees wurde erschossen. Ich wurde abermals einem Verhör unterzogen und dann erfuhren wir: Man werde uns nach der nächsten Eisenbahnstation schaffen. In zwei Fuder wurden etliche Lehrer und Komitee-Mitglieder zusammengepackt, drei dagegen, zwei Wirte und ich, mussten zu Fuß gehen.
Wie ich das sah, füllte, sich meine Brust mit einem hässlichen Kältegefühl. Ich blickte auf meine Kameraden, bemerkte jedoch keinerlei Aufregung in ihren Gesichtern. Die Schlitten begannen sich zu bewegen und wir fingen an zu gehen – vor uns und hinter uns eine Menge Soldaten.
Die Fahrenden saßen alle mit düsteren Gesichtern und schweigend da. Jene hockten sehr unbequem, denn die gebundenen Hände waren der Bewegung hinderlich, es war auch zu wenig Platz. Allein keiner sagte etwas.
Auch wir schwiegen eine geraume Weile. Dann begannen die beiden Wirte sich halblaut zu unterhalten. Beide waren sie Vorsteher von Anordnungskomitees gewesen, ein jeder in seinem Gebiet, beide waren schon grau und Familienväter. Sie sagten, dass sie sich keiner anderen Schuld bewusst wären, als dass sie eben die Leiter der Komitees gewesen – ob ich etwas mehr verbrochen haben konnte, darüber urteilen Sie selbst – Sie haben ja mein Verbrechergesicht gesehen.
»Wer weiß, was mit uns dreien geschehen wird«, sagte der eine. »Weshalb lassen sie uns zu Fuß gehen? Das ist ein schlechtes Zeichen.«
»Ich denke auch, dass es kein gutes ist«, versetzte der andere. »Man schießt. Man erschießt unterwegs.«
»Ja, man erschießt«, bekräftigte der erste.
Sie sprachen aus, was auch ich fürchtete. Oder darf man mit dem Worte Furcht das bezeichnen, was ich empfand? In der Tiefe meines Herzens glaubte ich noch nicht daran, dass man uns töten wird, und dennoch war die Brust wie zusammengeschnürt, eine ungeheure Schwere lastete auf mir, eine Schwere; die eine heftige, bange Sehnsucht nach Befreiung von ihr wachrief.
»Habt ihr Angst?«, fragte ich.
»Wie sollte man nicht Angst haben?«, erwiderte der eine.
Der andere seufzte tief auf und sprach:
»Wer mir das vor drei Wochen gesagt hätte!«
»Ja, ich kann es mir gar nicht denken, dass das alles in Livland geschieht«, versetzte der erste.
Wir hatten unsere Gedanken über unsere unglaubliche Lage bereits ausgetauscht. Da sie jedoch immer von neuem entstanden, sprach sie auch der Mund immer von neuem aus. Dann schritten wir schweigend weiter. Das Wetter war gut und der von den Schlittenkufen zusammengepresste Schnee knirschte angenehm. Doch in dieses Geräusch mischte sich das Geklirr der Waffen, und dieses ließ mein Gefühl erstarren. Du musst, du musst einem Etwas, das unerbittlich streng und grässlich ist, entgegengehen …
Meine Kameraden begannen nach einer Weile sich wieder zu unterhalten. Es waren gleichgültige Sachen. Es fehlte sogar nicht an scherzhaften Wendungen im Gespräch. Es ist merkwürdig, wie der Vogel der Luft noch über den schwärzesten Abgründen flattert. Das beruhigte mich ein wenig. Wir gingen nicht in den Tod, nein, das tut man doch nicht scherzend:
Als wir einen Hügel erklommen hatten, erblickten wir in der Ferne einen großen dunklen Tannenwald. Meine Gefährten verstummten. Ein Schauer durchflog mich. Im Walde war schon so mancher liegen geblieben …
»Gebe Gott, dass wir nur ungefährdet durch den Wald gelangen!« sagte der Jüngere und seufzte schwer auf. »Herr Gott, Herr Gott!« Wir antworteten nichts. Ich mochte kein Wort mehr reden. Es war mir, als ob meine Seele noch eilig mit etwas fertig werden sollte. Die ganze Umgebung schien mir außerhalb der Natur gestellt zu sein. Von Zeit zu Zeit war es mir, als ob es in mir von unten heraufbrauste. Kommt es oder kommt es nicht? Es kommt, es kommt, wirst an die Tanne gebunden, erhältst Schläge mit dem Flintenkolben, man wird auf dich zielen … und dann wirst du etwas fühlen … aber was, was wird das Letzte sein? … Ach, wenn man doch diesmal noch loskommen könnte, dieses Mal noch … Die anderen haben in der Welt länger gelebt, doch ich, ich … Aber alles das hilft nichts, ich muss weiter und weiter dem Kalten, Unerbittlichen entgegen …
Ob ich in meinem Herzen ein Held war? Ob es mir damals nicht einfiel: Weshalb hast du dich hinreißen lassen, wozu war es nötig? Ja, ich dachte allerdings so. Ich wollte vor mir selber Komödie spielen und wie ein Held in den Tod gehen. Jedoch es gelang nicht. Ich konnte mich der Vorwürfe nicht erwehren, obwohl sie mich nicht beständig belästigten. Und dennoch bedauerte ich auch wieder nichts. Das ist ein Widerspruch. Doch einerlei … Wie sich die Gedanken auch verwirrten und wechselten, mein ganzes Wesen verharrte in einer großen Erstarrung. Die Adern wie zugebunden, der Hals – nicht einen Tropfen Wasser hätte ich herunterschlucken können.
Aber wir schritten vorwärts und näherten uns dem Wald. »Schwarz wie ein Sarg«, dachte ich und die Hoffnung schwand. Ich warfeinen Blick auf meine Gefährten und mir schien, dass ihre Gesichter gelblich-grün geworden seien. Konnten Menschen sich in so kurzer Zeit derart verändern? In ihren Augen lag etwas unsagbar Schmerzliches. Sie blickten auf den Wald, als ob sie erwarteten, dass daraus etwas hervorkröche. Mir fiel der Hund ein, den mein Vater einst erschoss, weil er glaubte, dass das Tier toll geworden sei. Winselnd schleppte er sich zu seines Mörders Füßen und blickte ihn mit solchen Augen an, wie sie jetzt die beiden Männer hatten. In den meinen lag wohl derselbe Ausdruck. Wer rettet, wo keine Rettung mehr vorhanden ist! …
Endlich war der Wald erreicht. Jetzt halten wir an, brannte es in mir. Die Luft schien mir ringsum voll unhörbaren Tönens, und zugleich voll einer grässlichen Starrheit. Doch wir hielten nicht an. Die Schlitten knirschten weiter und ich empfand darüber unaussprechliche Freude. Wann wir nur den Wald hinter uns haben, dann geht's gut – als ob hinter dem Walde wer weiß was für eine Erlösung harrte!
Plötzlich wurde es still. Mich durchzuckte – ja, wie soll ich es ausdrücken: die größte Angst und die größte Gleichgültigkeit. Mir war, als ob die Haut meines Kopfes sich in die Höhe höbe, als ob ich keinen Hut mehr auf dem Kopfe hätte. »Aus«, dachte ich und meine Sorge war, nicht feige zu erscheinen, sondern als Mann zu sterben. Es ist eigentümlich, im letzten Augenblick erscheint man sich als eine besonders wichtige Persönlichkeit, mit der etwas außerordentlich Bemerkenswertes vor sich geht und die nicht lächerlich werden darf.
Einige Soldaten sprangen von ihren Pferden. An der einen Seite der Straße befand sich entweder ein verschneiter Feldweg oder ein Aushau, der auf eine kleine Lichtung hinausführte. Nach dieser Lichtung befahl man uns zu gehen.
Wir zögerten. Ein letzter schwacher Wille, uns zu widersetzen, zu fragen, weshalb wir dorthin gehen müssen. Dort ist ja kein Weg. Aufgrund welches Gesetzes …? Doch da schoben uns die Bajonette der Soldaten nach dem Aushau.
Ich schritt vorne. Das Herz schlug mir wie im Fieber. Die Gedanken – ein Funkenwirbel. Lebe wohl, Mutter, lebe wohl Vater! Lebe wohl, liebster Freund! Lebe wohl, Marie! Die Zeitungen werden berichten … weinet nicht, gleich ist alles zu Ende … ganz wie im Räuberroman … noch einen Augenblick … noch einen … jetzt kommt's … jetzt … jetzt … grässlich … flieh … versuch's …
Ich blicke zurück. Ich weiß nicht, weshalb ich das tue. Die Soldaten legen an zum Schießen.
»Flieht, man schießt!«, flüstre ich meinen Gefährten zu und fange an zu laufen. Ringsum heißer, rosiger Nebel. Ich renne, erreiche die Lichtung, ein kleiner Bach ist da, ich springe hinüber, ein Schuss kracht, ich falle.
Ich fühle keinen Schmerz. Ich weiß, in großer Erregung fühlt man den Schmerz nicht. Ich lebe noch, ich fühle mich noch heil. Nicht vom Schuss bin ich gefallen, sondern weil der Bach zu breit für meinen Sprung war. Ich raffe mich auf, wate, fliehe, laufe weiter. Wiederum Schüsse – eins, zwei, drei, doch sie treffen nicht! Gleich bin ich wieder im Walde, ich bin schon zwischen Bäumen, o Glück, o Glück, zwischen Bäumen! Wiederum krach, krach! wiederum nichts – ich weiter in den Wald hinein! Herunter den Hut, den Pelz, die Galoschen, fort, die Zweige zerschrammen mich, ich stoße mich an den Stämmen, – weiter, weiter in wahnsinniger Hast. Das Herz springt fast vor Begier, zu wissen, ob man mich verfolgt, doch ich darf den Kopf nicht wenden, das kostet Zeit, das hindert, mögen sie folgen oder nicht, nur weiter, um jeden Preis … Doch auf einmal gehorchen die Füße nicht mehr. Sie werden steif und schwer wie nasse Holzscheite. Aus, jetzt ist es aus. Noch versuche ich weiter zu fliehen, jedoch umsonst. Langsam muss ich vorwärts kriechen. Wie im Traum, wenn man laufen will und nicht kann. Mögen sie tun, was sie wollen, mögen sie schießen. Aller Wille schwindet wie die Leinsaat aus der Hand. Ist ja auch dabei nichts weiter. Einmal muss man ja sowieso sterben.
Ich wende mich um. Kein Soldat zu sehen. Ich bleibe stehen horche. Ich vernehme nichts. Sie sind also weit hinter mir geblieben, also gerettet! Heiße Freude durchflutet mein Herz, mein ganzer Körper wird mir wieder leichter. Ich schleppe mich weiter. Wiederum kommt die Angst, denn man verfolgt mich ja, im Schnee sind meine tiefen Spuren sichtbar. Ich eile, was ich kann, und gelange an eine weite kahle Fläche. Hinübergehen? Dann wird man mich erschießen. Herum gehen, durch den Wald? Dann wird man mich überholen! Wiederum brennende Verzweiflung, ein kurzer Kampf es sei, ich laufe gerade hinüber. Doch die Beine gehorchen noch immer nicht und mein Laufen ist das Kriechen einer Schnecke. Ach, wie unendlich breit die Fläche ist! Nun sind's nur noch etwa hundert Schritte bis zum schützenden Walde, jetzt nur noch zehn – wenn mich nur jetzt keine Kugel träfe, dann wäre alles gut. Ich schreite auch diese kleine Strecke glücklich ab und bin wieder im rettenden Walde. Dieser lichtet sich allmählich und endlich erblicke ich ein Gesinde. Ich eile dorthin. Im Hof steht ein angespannter Schlitten. Gerade so, als ob der Mann auf mich gewartet hätte. Es ist der Wirt selbst. Ich grüße und erzähle schnell, was mir begegnet ist. Ich brauchte das kaum zu tun, ich glaube, er konnte es mir vom Gesicht ablesen. Ich bat um Überkleider und um Weiterbeförderung. In meinem Glück war ich davon so fest überzeugt, dass mir jedermann helfen müsste, dass es mir gar nicht einfiel, in welche Gefahr ich den Wirten zu stürzen im Begriff war. Der Mann weigerte sich, mich zu befördern, versprach jedoch die Kleider. Mir krampfte sich aufs Neue das Herz zusammen, denn wenn ich nicht fahren konnte, wie sollte ich dann den Kosaken entfliehen! Ich begriff jedoch die Stellung des Wirtes und gab mich zufrieden. Ich erhielt einen guten Pelz nebst Mütze und nachdem ich mir den Namen des Gesindes behufs Zurücksendung der Kleider gemerkt, dankte ich und fing an, auf dem Feldwege weiterzugehen.
Meine Erregung begann nachzulassen. Mir war es so, als ob ich in einem überheißen Bade gewaschen wäre. Das Herz raste allerdings noch mit seinen Schlägen, doch eine angenehme Erschlaffung war in allen Gliedern zu spüren. Ich hatte freilich noch Angst vor dem Ergriffenwerden, doch es war ein Gefühl, ähnlich dem, mit dem wir dem vorbeigezogenen Gewitter nachschauen. Ich war nicht lange gegangen, als ich einem Schlitten begegnete. Ich sagte dem Insassen, wer ich bin und wie es um mich steht und ob er sich meiner nicht erbarmen könnte?
Der Mann war's zufrieden, ich setzte mich in den Schlitten und wir jagten davon. Bald war ich bei meinem Freunde. Dort verbrachte ich, wie ich bereits erwähnte, vierundzwanzig Stunden im Bett, und erhob mich ganz wie zerschlagen. Als Sie mich im Waggon antrafen, schmerzte mein Bein noch heftig.
Das ist mein Erlebnis. Es klingt wie eine Fabel und dennoch habe ich nichts Erdachtes hinzugefügt. Bisweilen wenn ich im Bette liege und die Decke über den Kopf gezogen habe und sehe, wie die Soldaten nach mir zielen, frage ich mich selber: Konnte das wirklich geschehen, hast du das alles persönlich erlebt? Und dann fällt mir die teure Heimat ein und was ich damals nicht getan, dessen kann ich mich in solchen Augenblicken nicht erwehren: Ich muss weinen.
Meine beiden Gefährten sind leider nicht so glücklich gewesen wie ich. Man schreibt mir aus der Heimat, dass sie im Walde tot aufgefunden worden sind. Dem einen ist der Schädel gespalten gewesen, dem anderen der Hals zerhauen und die Brust durchstochen. Meine armen Brüder – mögen sie ruhen in Gott!
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Fußnoten, Geleit- und Vorwort und Anhang wurden aus Urheberrechtsgründen gelöscht. Re