Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Er hätte Moses genannt werden sollen, denn er ward aus dem Wasser gezogen; freilich nicht aus den Fluten des Nilstromes von einer Pharaonentochter, sondern von einem mitleidigen, alten Mütterchen aus einem halb zugewachsenen Wassertümpel, welcher inmitten eines Wäldchens lag. Da besagtes Mütterchen sich jedoch nur um die richtige Benennung ihrer Pilze und Beeren kümmerte, deren professionelle Sammlerin sie war, so übergab sie das von ihr gerettete Menschlein, ohne irgendwelche Wünsche betreffs seines künftigen Namens zu verlautbaren, dem nächsten Gesindewirten, bei dem der kleine, halbtote Weltbürger, nachdem er gewaschen worden, in der Nottaufe den Namen Jahn erhielt. Dann wurde von dem sonderbaren Funde der alten Waldmutter die Gemeindeverwaltung in Kenntnis gesetzt, welche wiederum ihrerseits dem Ordnungsgerichte über den Vorfall pflichtschuldigen Bericht erstattete. Dieses ordnete in Folge dessen nach der Mutter des Findlings eine strenge Nachforschung an, die jedoch erfolglos blieb. An ihrem nächsten Beratungstage beschloss daher die erwähnte Gemeindeverwaltung – der Pflicht gehorchend, nicht dem eignen Triebe –, das Kind auf Kosten der Gemeinde zu erziehen. Der Wanagwirt, derselbe, bei dem das Kind getauft worden, erklärte sich bereit, die Hand zu diesem Werke der Barmherzigkeit gegen entsprechende Zahlung zu leihen, und die Gemeindeverwaltung nahm debattenlos dieses selbstlose Anerbieten an.
Sechs und ein halbes Jahr lang übte nun mit unermüdlicher Geduld der Wanagwirt im Verein mit seiner Frau und seiner zahlreichen Nachkommenschaft Christenpflicht an der vater- und mutterlosen Waise – dann erklärte der Gemeindeälteste Jahnit für mündig und dieser begann nun selbstverdientes Brot zu essen. Er wurde Schweinehirt beim Wanagwirt. Es war ein fernerer Akt der Barmherzigkeit, dass derselbe ihn behielt, denn wer hätte sonst den kleinen Jungen, dessen Unbändigkeit und Ausgelassenheit schon sprichwörtlich geworden waren, zu sich genommen? – Wohl hatte Wanag getan, was in seinen Kräften stand, um das Kind an christliche Zucht und Sitte zu gewöhnen, seine Frau hatte es an Ruten nicht fehlen lassen – bekanntlich wächst dieses Kraut in livländischen Wäldern wild und ist somit billig zu erlangen –, seine Kinder waren ihm stets mit gutem Beispiel vorangegangen, aber was verschlug das Alles bei einem Kinde, dem moralische Unvollkommenheit angeboren war! Oder welcher Quelle konnten sonst die bösen Eigenschaften, die sich bei Jahnit nach und nach einstellten, entfließen? … Wanags Kinder logen nicht. Weshalb log Jahnit? Weswegen leugnete er so hartnäckig seine Schuld, wenn der kleine Berthul dem Vater klagte, dass Jahnit das Küchenfenster eingeworfen, die Katze in den Pechfarbenkessel gesteckt, oder den Pferden Haare aus dem Schweif gerissen habe? … Seine Kinder stahlen nicht. Weshalb tat's Jahnit? Wo waren die Äpfel geblieben, die er in der Kleete für den Winter hatte aufbewahren wollen? … Seine Kinder waren artig, still und bescheiden. Warum war es Jahnit nicht? Woher rührten die langen Schrammen, welche fast immer sein Gesicht, bald in senkrechter, bald in waagerechter Richtung laufend, verunstalteten, während Berthulits, Annuschings, Reinits, Maddings und Mikeelits Wangen und Nasen fast nie zerkratzt waren? … Ja, der Wanagwirt hatte recht, wenn er behauptete, der Apfel sei nicht weit vom Stamme gefallen.
Mit zwölf Jahren wurde Jahn Kuhhirt, aber er hütete nicht das Vieh des Wanagwirtes, denn dieser behielt ihn nicht länger, weil er ihn sonst im Winter zur Schule schicken musste. Und wo sollte der arme Mann die Mittel dazu hernehmen? Strafgelder zu zahlen war jedoch auch keine angenehme Sache, wie er aus Erfahrung wusste.
Bei seinem neuen Wirte hielt Jahn jedoch nicht lange stand. Derselbe hatte von Wanag erfahren, wessen Geistes Kind der Knabe sei und behandelte ihn auch dementsprechend. Zu Georgi hatte Jahn einen neuen Brotherrn und abermals nach einem Jahr musste er wieder sein Bündel schnüren. Diesmal wollte der als ebenso reich wie sparsam bekannte Krikumwirt – Verleumder nannten ihn geizig – sein Heil an dem Knaben versuchen. Der außerordentlich billige Lohn, für den Jahn zu haben war, verleitete ihn dazu. Außerdem hatte er schon so manchen Querkopf vermöge seiner gefürchteten Strenge zur Vernunft gebracht, sollte dieselbe, bei Jahn angewandt, ohne Wirkung bleiben?
*
Es waren kaum zwei Wochen nach dem allgemeinen Umzugstage verflossen, so schwor Krikum jedem, der es hören wollte, dass er nie in seinem Leben einen so faulen, störrischen und groben Bengel gesehen habe, als Jahn. Der Junge sei entschieden zu nichts anderem nütze, als um seine Brotgeber zu Tode zu ärgern. Dieser seiner Ansicht stimmte seine musterhafte Ehehälfte, obwohl sie gewöhnlich anderer Meinung war als er, mit der größten Entschiedenheit bei. Sie besaß, außer einer Menge anderer guten Eigenschaften und Tugenden, einen wunderbar scharfen Blick und sah daher vieles, was anderen, normal beschaffenen Augen verborgen blieb. So hatte sie z. B. zu ihrer nicht geringen Bestürzung bald entdeckt, dass Jahn, im Verhältnis zu seiner Beschäftigung, viel zu viel aß. Mein Gott, was braucht ein Hütejunge viel zu essen! Bei einer Arbeit, die so wenig Kraftaufwand erforderte wie das Viehhüten, konnte man nie so hungrig werden, wie es Jahn stets wurde, und Mutter Krikum gelangte daher zu der Überzeugung, der Junge esse deswegen so viel, weil er sie dadurch ärgern wolle. Der guten Frau lief das Wasser in den Mund und die Augen, wenn sie sah, welch' eine Menge Kartoffeln und Käsemilch – des lieben Brotes schon gar nicht zu bedenken – der Jahn mittags in seinen Mund verschwinden ließ. So viel aßen ja beinahe die Knechte nicht, welche doch pflügen, Heu mähen und alle übrigen schweren Arbeiten verrichten mussten. Es war nicht zu leugnen: Die Krikums hatten sich gründlich versehen, einen so kräftigen Esser als Hütejungen zu dingen. Sie wollten freilich den begangenen Fehler wieder einigermaßen gutmachen, indem sie Jahn dann und wann den Knechten bei der Arbeit helfen hießen, aber wollte denn der Junge gehorchen! »Ich habe mich bei Euch als Hüter verdungen und werde keine andere als Hütearbeit verrichten«, knurrte er wie ein bissiger Hund zwischen den Zähnen. War das nicht offenbare Widerspenstigkeit! Man meinte es doch gut mit dem Jungen, man wollte ihn allmählich an gröbere Arbeit gewöhnen, damit er sich im nächsten Jahre als vollständiger Knecht verdingen konnte, und statt dankbar zu sein, lehnte er sich gegen diese wohlgemeinte Absicht auf. Wem sollte nicht die Geduld reißen! Dem Krikum riss sie, und die Folge davon war, das Jahn eine tüchtige Tracht Prügel bekam. Nach Mutter Krikums Behauptung waren nämlich Prügel äußerst gesund und stets von wohltätiger Wirkung – ob sie aus eigener Erfahrung sprach, muss dahingestellt bleiben. Jedenfalls aber zeigte sich bei Jahn die berühmte wohltätige Wirkung nicht; er wurde vielmehr noch widerspenstiger als sonst, trug die Mütze tiefer in die Stirn gedrückt und die Blicke, welche er unter dem zerrissenen Schirm hervorsandte, waren trotziger denn je. Was konnte da anderes helfen, als eine zweite Auflage Prügel! Sie ward ihm verabreicht.
Da geschah aber etwas Ungewöhnliches, Unerhörtes.
Es traf sich, dass am folgenden Tage das Gemeindegericht seine übliche Sitzung abhielt, und Jahn ging, ohne dem Wirt etwas zu sagen, zum Gemeindehause und verklagte Krikum wegen Misshandlung. Armer, törichter Junge! Der Gerichtsvorsitzende war der Schwager des Krikumwirtes und machte große Augen, als Jahn seine Klage vorbrachte. Dann tat er seinen weisen Mund auf und ermahnte Jahn in längerer Rede, in welche er manchen erbaulichen Bibelspruch einflocht, nach Hause zu gehen und gehorsam zu sein. Als er jedoch sah, dass die väterliche wohlgemeinte Ermahnungsweise keinen Eindruck auf den Knaben machte, änderte er seinen Ton, verwies ihm in scharfen Worten sein ungehöriges Betragen, hielt ihm das ganze schwarze Register seiner Untugenden vor und sagte zuletzt, Jahn könne von Glück sprechen, dass er von so anständigen Leuten in Dienst genommen sei. Jahn hörte gelassen zu, bis der Gemeindegerichtsvorsitzende aufhörte und fragte dann kurz und grob:
»Bei Euch ist also auch keine Gerechtigkeit zu finden, was?«
Eine allgemeine Bewegung entstand unter den Richtern, der Gerichtsvorsitzende, welcher sich mehr erlauben durfte als die anderen, schlug mit der Faust auf den Tisch, dass es krachte.
»Zum Teufel, mach' dass Du nach Hause kommst, dummer Junge!«, schrie er wütend auf, »oder Du sollst den Beesumneek kennen lernen!«
»Oho! Ich kenn' Dich schon lange, Du –«
»Junge!« Beesumneek richtete sich in seiner ganzen Majestät vor dem Gerichtstisch in die Höhe, sein Stuhl fiel geräuschvoll um.
»Komm nur her!« – rief Jahn, die geballte Faust gegen Beesumneek ausstreckend und war, ehe ihn jemand noch daran verhindern konnte, aus dem Gerichtssaal verschwunden …
Als Mutter Krikum von diesem Vorfall Kenntnis erhielt, sagte sie, dass ihr die Haare zu Berge ständen, ob der unerhörten Frechheit des verworfenen Jungen. Ihrem Bruder, der zu der vornehmsten Familie des Gebietes gehörte, in Gegenwart von vier Richtern und eines Schreibers die Faust unter die Nase zu stecken, das Vergehen forderte exemplarische Bestrafung. Wenn trotzdem Jahn weder gehängt noch geköpft, sondern nur in aller Stille gründlich abgeprügelt wurde, so hatte er dies einzig der Güte und Nachsicht der Krikums zu danken.
Die blonde Lihse jedoch, die Jahn das Vieh hüten half, wurde von Mutter Krikum sanfter und eindringlicher denn gewöhnlich vermahnt. Sie bat das liebe Mädchen, Jahn nie mehr vom Vieh wegzulassen, wie sie das neulich getan, er gerate auf Abwege durch das Herumtreiben, während seiner Abwesenheit könne ein Wolf kommen u. s. w. – Zum Krikum jedoch sagte sie, dass das Mädchen ebenfalls hätte gezüchtigt werden sollen. Aber was sollte man tun? Man musste leider mit Lihse »wie mit einem rohen Ei« umgehen, denn sie war äußerst pieperig und klagte jede Kleinigkeit der Mutter. Ach, und die Zunge dieser Mutter war schärfer als ein zweischneidig Schwert!
*
Lihse, ein hochaufgeschossenes Mädchen mit eckigen Formen, das Gesicht von tiefen Pockennarben verunstaltet, war das einzige menschliche Wesen, welches den Jahn leiden mochte. Der kräftige, rosige Junge mit dem braunen, verwilderten Lockenkopfe, den trotzig blickenden Augen, hatte dem armen hässlichen Ding mit dem strohgelben, dünnen Haar gleich am ersten Tage ihres Zusammenseins ausnehmend gefallen. Wohl war Jahn anfangs auch gegen sie grob gewesen, wie er es ja gegen jedermann war, doch da sie alles geduldig hinnahm, und höchstens, wenn er es ihr zu arg machte, mit einem Strom Tränen antwortete, so änderte er allmählich sein Betragen und endlich hörten seine Ungezogenheiten ganz auf. Besonders viel trug zu dieser Änderung folgender Vorfall bei.
In der Saatzeit musste zuweilen Lihse, zuweilen Jahn allein das Vieh hüten. Es ereignete sich nun einmal, dass ein paar Kühe, ohne von Jahn bemerkt zu werden, sich von der übrigen Herde wegstahlen, und in das üppig grünende Roggenfeld gingen, wo sie nicht unbedeutenden Schaden anrichteten. Als Krikum denselben bemerkte, war er außer sich und fragte, wessen Nachlässigkeit daran schuld sei. Ehe noch Jahn sich besonnen hatte, was er antworten sollte, sagte Lihse:
»Ich bin die Schuldige. Eines Morgens war ich ein wenig eingenickt und unterdessen war der Schaden geschehen.«
»Du faules, verschlafenes, nachlässiges Ding, Du!«, schrie wütend der Wirt, wurde jedoch sofort von der klugen Mutter Krikum unterbrochen.
»Schreie doch nicht! Dadurch änderst Du ja nichts mehr!« sagte sie und fuhr dann, zu dem Mädchen gewandt, fort:
»Ängstige Dich nicht, Kind, dergleichen kann jedem vorkommen – Deine Mutter wird schon den Schaden in der Erntezeit durch Kornmähen abdienen. Doch sei nächstens ein wenig achtsamer«
Damit war die Angelegenheit erledigt.
»Weshalb hast Du die Schuld auf Dich genommen?«, fragte Jahn, als er mit Lihse allein war, »ich hätte doch den Schaden tragen sollen.«
»Ja, Du!«, antwortete das Mädchen. »Dreifach hättest Du ihn ersetzen und obendrein eine Predigt anhören müssen, die länger, als sie der Pastor auf der Kanzel hält, gewesen wäre.«
»Aus Krikums Predigten mach' ich mir gar nichts; ob der Lahz da bellt, oder er da spricht, ist mir eins!«
»Aber er hätte Dir Unrecht getan! Würde er geglaubt haben, dass die Kühe gegen Deinen Willen den Acker zerstampft haben? Nie! Und ich kann's nicht leiden, dass man Dich schlechter macht, als Du bist!«
Ein dankbarer Blick aus Jahns Augen belohnte Lihse für diese Worte, von diesem Augenblicke an herrschte Freundschaft zwischen den beiden, eine Freundschaft, welche immer fester und inniger wurde.
*
Der Frühling verging, es wurde Sommer. Die Felder färbten sich smaragdgrün, rote Erdbeeren schimmerten an den Hecken und Grabenrändern, überall zeigte sich lebensatmende Fülle. Das Wetter war prächtig, dann und wann kam erfrischender Regen und brachte Abwechslung in die Gleichmäßigkeit der sonnigen Tage.
Jahn und Lihse wanderten glücklich mit ihrer Viehherde umher. Sie sprachen nicht viel, aber sie saßen oft beisammen, sie an einem Strumpfe oder Handschuh strickend, er einen Löffel oder dergleichen schnitzend, während der braune Lahz schlummernd zu ihren Füßen lag. Am liebsten waren Lihse die Vormittage. Während die Kühe und die Schafe ruhig im taufrischen Grase weideten, konnte entweder Lihse oder Jahn schlafen. Wenn Jahn schlief, legte er gewöhnlich seinen Kopf auf des Mädchens Knie oder in ihren Schoß. Wie konnte sie sich dann an seinem lieben Gesichte sattsehen! Sie dachte oft daran, wie friedlich er im Schlummer aussehe und wie böse erwachend sein könne. Ach, weshalb konnte sie ihn nicht ändern, nicht bessern!
Manches Mal, wenn er ruhig atmend mit zurückgebogenem Haupte dalag, überkam sie das Verlangen, ihn zu küssen; sie beugte sich dann sachte zu ihm nieder und berührte seine schwellenden Lippen sanft mit den ihren – er sollte nicht merken, was sie tat. Er merkte es aber doch, und einmal, als sie ihn wieder geküsst hatte, schlug er die Augen auf und sah sie glücklich lächelnd an.
»Küsse mich noch einmal«, sagte er …
Dann kam jener erfolglose Gang zum Gemeindegericht, zu welchen ihn Lihse beredet hatte und dann geschah das Unglück.
*
Es war ein trüber regnerischer Tag, von Tausenden verwünscht, weil gerade auf ihn der große Jahrmarkt des Gebietes fiel. Auf der Landstraße lag tiefer Schmutz, die Feldwege waren, durch das viele Hin- und Herfahren der Leute, grundlos geworden. Jahn hütete allein das Vieh, weil Lihse von ihrer Mutter zum Markt abgeholt worden war. Er saß am Wegrande und schaute verdrossen auf die trüben Wasserlachen, in welche die Regentropfen mit leisem Geräusch niederfielen. Da kam ein Wagen dahergefahren. Jahn schaute gleichgültig auf. Er sah: es war Beesumneek, der Gemeindegerichtsvorsitzende, welcher nach Hause fuhr. Er schien zu viel getrunken zu haben, denn er hieb unbarmherzig auf das müde Pferd ein, welches vor einer kleinen schmalen Brücke, in Jahns Nähe stehen blieb. Als Beesumneek jedoch fortfuhr, das arme Tier zu peitschen, nahm es plötzlich einen Satz schräg über die Brücke, ein Rad glitt von derselben herunter, der Wagen schwankte einen Augenblick und fiel dann in den halb mit Wasser gefüllten Graben.
Überrascht von dem unerwarteten Sturze, blieb Beesumneek einige Sekunden in dem Graben liegen, dann raffte er sich auf und sah, indem er mit dem Peitschenstiele den Schmutz von seinem Überrocke abklopfte, wie hilfesuchend umher.
»Ah-a«, lallte er, indem er Jahn erblickte, »komm hilf mir, Junge! 's ist ein verdammt schlechter Weg heute; na, wart' Du nur, Bestie, ich werde Dich lehren – nun, was stehst Du da, so rühre Dich doch, Junge! Komm!«
»Rühr Dich selbst – meinetwegen zu Brei«, erwiderte Jahn, legte die Hände bedächtig auf den Rücken und spreizte die Beine.
»Komm her, sag' ich!«, schrie der Wirt, kirschbraun vor Zorn, »was sollen die Faxen bedeuten? He?«
»Schrei' so viel Du willst«, höhnte Jahn, »aber wenn Du dabei platzest, so sage ich Dir, dass ich Dich nicht zusammennähen werde, ich bin kein Schneider.«
»Lümmel!«, brüllte Beesumneek, »halt's Maul! Her zu mir!«
»Halt's selbst, Du ungerechter Richter!«
»W-a-s?«
Beesumneek war auf Jahn zugesprungen, so schnell es ihm seine unsicheren Beine gestattet, und starrte ihn mit seinen halbverglasten Augen drohend an.
»Nun?«, fragte Jahn; »Glaubst Du, dass ich keinen betrunkenen Menschen gesehen habe? Pfui, wie Du stinkst – Branntweinfass!«
Wie feurige Lohe zuckte es plötzlich vor Jahns Augen auf, stechender Schmerz durchfuhr seinen Kopf, er griff mit beiden Händen nach demselben, taumelte und fiel mit blutüberströmtem Gesichte zur Erde.
Beesumneek spannte ruhig sein Pferd aus und führte dasselbe, langsam durch den Schmutz watend, an der Hand nach Hause.
*
Tage und Wochen vergingen, traurige Tage, traurige Wochen Jahn lag lange krank darnieder und als er wieder an die Arbeit gehen konnte, hatte er nur ein Auge. Den Verlust des anderen hatte Beesumneek auf dem Gewissen.
Lihse, welche Jahn mit äußerster Sorgfalt während ihrer freien Zeit gepflegt hatte, war unsäglich unglücklich. Es war ihr, als ob sie eins ihrer Augen verloren hätte. Ein Schauder fasste sie jedes Mal an, wenn sie die leere Höhle unter der schön geschwungenen Augenbraue ansah! »Halbblind durch's Leben gehen zu müssen wie. traurig, wie schrecklich. Ach, und das sonst so schöne Gesicht, wie verunstaltet sah es jetzt aus!«
Jahn klagte nicht und sprach nie mit Lihse über das Geschehen, aber sein Schweigen sagte ihr mehr, als Worte es vermochten. –
Einmal, als sie wie gewöhnlich auf der Weide nebeneinander saßen und das Mädchen unbemerkt eins ihrer Augen lange mit der Hand verdeckt gehalten hatte, schrie sie plötzlich mit ausbrechender Wildheit auf:
»Satan, schändlicher, totzuschlagender Mensch! Jahn, Jahn, wirst Du das so hingehen lassen? Wie lange wirst Du zögern, Dich an ihm zu rächen! Oder soll ich für Dich handeln? Was willst Du: Soll ich ihm die Augen aus dem Kopfe reißen, oder soll ich ihn umbringen? Ja, bei Gott, ich vermag ihn mit diesen Händen zu erwürgen, so – und so –«
Und dabei machte sie schreckliche, bezeichnende Gesten.
»Nein«, sagte Jahn, »Du sollst ihm nichts tun, denn er hat Dir nichts getan, ich will mich schon rächen, warte nur.«
»Was wirst Du ihm antun?«, forschte das Mädchen.
»Das sag' ich Dir jetzt nicht.«
Und Lihse wartete.
Inzwischen aber wurde Mutter Krikum nicht müde, ihren Nachbarn und Freundinnen zu erzählen, wie gerecht doch Gott sei, der den gottlosen Jungen mit dem Verlust seines Auges gestraft habe …
*
Der Herbst kam heran. Die rot, braun und gelb gewordenen Blätter an den Bäumen flatterten gleich bunten Vögeln im Winde davon. Leer wurden die Felder, längst war das Heu von den Wiesen eingebracht, Nachtfröste stellten sich ein. Das Vieh konnte nicht mehr auf die Weide getrieben werden.
Da in einer Nacht schreckte Feuerschein das Beesumneek-Gesinde aus dem Schlafe. Beesumneeks große Heuscheune, welche fast seinen ganzen Heuvorrat barg, stand in Flammen. An Rettung war nicht zu denken. Das einzige, was man tun konnte, war, Vorsichtsmaßregeln zu treffen gegen die Übertragung des Feuers auf das Gesinde selbst, denn große Lagen brennenden Heus wurden vom Winde gerade nach dem Gesinde getragen. Beesumneek schäumte vor Wut. Es war offenbar, die Scheune war von ruchloser Hand in Brand gesteckt worden. Wer jedoch konnte die Freveltat vollbracht haben? Es war schwer, irgendwelche Vermutungen auszusprechen, denn ein Gerichtsvorsitzender zieht sich ja bei Handhabung der Gerechtigkeit so viele Feinde zu …
Am nächsten Tage brachte Krikums Knecht, welcher in der Mühle gewesen war, die Nachricht von dem in der Nacht geschehenen Unglück.
»In verflossener Nacht ist Beesumneeks große Heuscheune niedergebrannt«, sagte er, sich an den Mittagstisch setzend, um den schon das übrige Gesinde versammelt war und aß. Mutter Krikum, welche schon mit Schmerzen achtzehn tüchtige Bissen in Jahns Mund hatte verschwinden sehen, bemerkte, wie der Knabe zusammenzuckte, sich verfärbte und eine Kartoffel auf die Erde fallen ließ.
»Ach, Gott«, sagte eine Magd, »gestern Nacht! Wie ist denn das gekommen? Aus Unvorsichtigkeit? Vielleicht sind Zigeuner daran schuld!«
»Zigeuner?« versetzte der Knecht, »weswegen sollten die eine Heuscheune in Brand stecken? Das hat einer getan, der sich an Beesumneek hat rächen wollen, sag' ich, und so spricht ein jeder.«
»Da hast recht, Andsch«, bestätigte die Wirtin und wischte sich ein paar Tränen mit dem Schürzenzipfel aus den Augen; »mein Bruder hat so viele Feinde – auch in unserem Hause befindet sich ja einer! Nicht wahr, Jahn«, wandte sie sich an diesen, »Du freust dich wohl von Herzen über Beesumneeks Unglück?«
»Nun, weinen werde ich gewiss nicht darüber, das können Sie sich wohl denken, Wirtin«, versetzte der Angeredete höhnisch, »dazu hab' ich zu wenig Augen im Kopfe. – Lihse komm, dreh' mir den Schleifstein!« Damit klappte er sein Messer zusammen, griff nach seiner Mütze und ging hinaus.
»Warte Mordbrenner«, murmelte die Wirtin.
»Wie kannst Du nur mit dieser Sense mähen, Jahn?«, fragte das Mädchen, nachdem es lange schweigend den Schleifstein gedreht hatte, »sie ist kurz wie ein Messer.«
»Wie das Gras so die Sense; ich mähe ja auch Schnee statt Grummet«, erwiderte Jahn. »Komm später mit den Decken auf die Wiese, um das Gras einzubinden – ich hab' Dir auch etwas zu sagen.«
»Ich weiß es schon«, dachte Lihse.
Jahn ging.
Kurz darauf kam Beesumneek, um seine Schwester von dem Brandschaden in Kenntnis zu setzen und um sich zu beraten. Mutter Krikum nötigte ihn sogleich ins Wirtszimmer und schloss die Tür.
»Ich weiß es schon, weshalb Du kommst«, rief sie erregt, »Deine Scheune ist gestern Nacht in Brand gesteckt und unser Jahn ist der Täter.«
Beesumneek fuhr auf.
»Es, ist so«, nickte die Schwester und erzählte, was sich beim Mittagessen zugetragen. »Du könntest selbst ein Verhör mit ihm anstellen« schloss sie, »er ist jetzt allein auf der Wiese unten, hat sich die Lügen noch nicht so gründlich zurechtgelegt und würde sich bei Deinen Fragen vielleicht in Widersprüche verwickeln.«
»Ja, aber hat denn auch jemand gemerkt, dass er in der Nacht nicht zu Hause gewesen ist?«, warf Beesumneek ein, »Das ist doch die Hauptsache.«
»Leider nein; aber was ebenso gegen ihn zeugt, als wenn er nicht zu Hause gewesen wäre: Er schlief bis jetzt, trotzdem es schon so kalt geworden ist, noch immer auf dem Pferdestalle.«
Nach einigen ferneren Erörterungen begab sich Beesumneek auf die Wiese. Er war davon fest überzeugt, dass Jahn und kein anderer die Scheune angezündet habe; –
»Nun Söhnchen«, sagte er zu dem Knaben, welcher das gemähte Gras in einen Haufen zusammenharkte, »Du arbeitest ja sehr fleißig – hast in vergangener Nacht gut geschlafen? Guten Morgen!«
»Guten Morgen! Danke, sehr gut und Sie?«, erwiderte Jahn, Beesumneeks Ton nachahmend und ruhig weiterharkend.
»Ich hatte eine schlechte Nacht, meine große Heuscheune ist niedergebrannt.« Dann, plötzlich ganz nahe zu Jahn herantretend und seine Hände wie Eisenklammern um dessen Schultern legend, fügte er mit leiser zischender Stimme hinzu: »Und Du, Junge, hast es getan!«
Einen Augenblick war's, als wollte Jahn unter der Wucht dieser Anschuldigung zusammenbrechen, dann jedoch richtete er sich fest auf und sagte grob und laut:
»Beesumneek, wie kommst Du darauf? Bist Du halb oder ganz verrückt?«
»Bube«, schrie jetzt Beesumneek, mit dessen Selbstbeherrschung es zu Ende war, »Bube, gestehe, oder ich zermalme Dich!« Und er schüttelte heftig den Knaben.
»Wenn's Dir um weiter nichts als um ein Geständnis zu tun ist: Ja ich hab' es getan«, sagte Jahn …
Beesumneek stieß einen Fluch aus und ließ Jahns Schultern los. Dann aber stürzte er sich wie ein wildes Tier auf ihn, packte ihn bei der Kehle und presste sie heftig zusammen. Nur mit äußerster Mühe gelang es Jahn, sich loszureißen, wütend biss er Beesumneek in einen Finger und gab ihm einen Faustschlag ins Gesicht.
»Wurm!« knirschte dieser, außer sich vor Wut, ergriff Jahn, hob ihn wie eine Feder in die Höhe und ließ ihn mit aller. Macht auf die Erde fallen.
Ein leiser Schmerzensschrei entfuhr den Lippen des Knaben, mühsam versuchte er mit beiden Händen sich in die Höhe zu richten, sank jedoch ohnmächtig zurück.
Dunkles Blut drang unter seinem Rücken hervor – er war auf die nachlässig von ihm mit der Spitze nach oben hingeworfene Sense gefallen und diese war ihm tief in den Rücken gedrungen …
Wie zur Bildsäule verwandelt starrte Beesumneek das leblose Opfer seiner Wut an, mit offenem Munde, gläsernen Blicken; dann aber, gepackt von entsetzlicher Angst, kaum wissend, was er tat, floh er, statt Hilfe zu holen, dem nahen Wäldchen zu. –
Als Lihse endlich kam und schon von Weitem Jahn regungslos daliegen sah, beschleunigte sie, nichts Gutes ahnend, ihre Schritte und stürzte, als sie erblickte, was geschehen, wie wahnsinnig neben Jahn zur Erde. Im nächsten Augenblicke jedoch sprang sie wieder auf, riss ihr Tüchlein vom Kopfe, lief damit zum nächsten Graben und tauchte es in dessen trübes kaltes Wasser; dann eilte sie wieder zu Jahn zurück und drückte ihm das nasse Tuch auf die Stirn.
Nach einigen Minuten schlug er matt die Augen auf.
»Beesumneek?« war das Einzige, was das Mädchen heiser hervorpressen konnte.
Jahn nickte fast unmerklich.
»O Gott, mein Gott. Wie wusste er denn, dass Du –«
»Ich sagte … es ihm selbst … um ihn zu ärgern. Doch ich … hab' die Scheune … nicht … angesteckt … Ein anderer … mir zuvorgekommen … ich … wollte es … tun … eile nach … Hilfe … ach …«
*
Nach drei Tagen war Jahn tot. Beim Transport nach Hause hatte er Sprache und Bewusstsein verloren. Der zweimal zu Hilfe gerufene Arzt hatte nichts nützen können und das Sprichwort, mit welchem sich Mutter Krikum im Stillen zu trösten gesucht, war diesmal zu Schanden geworden: Das Unkraut war vergangen. –
Am nächsten Sonntage fand Jahns Beerdigung statt.
»Was Gott tut, das ist wohlgetan«, sagte die weinende Mutter Krikum wiederholt zu ihren aus der Nachbarschaft zusammengebetenen Gästen, als diese Jahns raschen Tod besprachen. »Wer weiß, was aus dem Jungen später noch geworden wäre … Ich möchte nur wissen, ob er selbst den unglücklichen Fall getan, oder ob nicht das Mädchen – sie waren ja beide so wild –«
Der Schulmeister wiederholte am Grabe eine längst eingeübte Rede, erhielt für seine Mühe einen Rubel und fuhr mit zum Trauerhause. Hier tranken die Gäste Zichorienkaffee, aßen Ferkelfleisch und Erbsen und hernach tanzte die Jugend auch ein wenig bei Harmonikamusik. Spät nachts trennte man sich.
Beesumneek war nicht auf der Beerdigung erschienen, obwohl auch an ihn, als an Mutter Krikums nächsten Verwandten, eine Einladung ergangen war. Die betrübte Wirtin erklärte ihren Gästen, dass ihr Bruder durch den Feuerschaden stark erschreckt und in Folge dessen unwohl sei.
Um Lihse hatte sich niemand gekümmert. Vom Kirchhofe heimgekehrt, hatte sie sich gleich auf die Mauer hinterm Ofen gesetzt und starrte, teilnahmslos gegen ihre Umgebung, vor sich hin. Sie wurde dort von keinem bemerkt, nur ihre Mutter, welche auch zur Beerdigung herübergekommen war, trat von Zeit zu Zeit zu ihr, einige freundliche, tröstende Worte an sie richtend. Die redselige Frau war ernstlich um das Mädchen besorgt und als es sich gar weigerte, zum Abendessen zu kommen, da begann sie zu weinen.
»Tochter, Kind, was hast Du?«, sagte sie ängstlich, »Ach, blicke doch nicht so um Dich, Du machst mir Bange, sprich doch, weine Dich aus. Du hast ja noch keine einzige Träne vergossen und ich weiß doch, dass Du Dich mit Jahn gut vertragen hast und sein Tod Dir zu Herzen geht. Aber sitze nicht da, so stumm und kalt – o Gott, o Gott, mache mich nicht unglücklich! Du hast ein rasches Herz. Bedenke aber, Du bist mein einziges Kind, mein ganzes Gut auf Erden! Wenn Du Dir Schlimmes antust – ich werde sterben vor Gram!« –
Sie kam jedoch nicht in die Lage, vor Gram sterben zu müssen. Lihse tat weder sich noch anderen Schlimmes an. Sie war still, in sich gekehrt geworden, konnte zuweilen untätig stundenlang vor sich hinbrüten, aber sonst war sie die Alte geblieben. Als ihr Jahr bei Krikums um war, trat sie bei dem örtlichen Pastor in Dienst, blieb bei ihm vier Jahre und lernte in dieser Zeit von der Frau des Pastors feine weibliche Handarbeit verrichten und die Nähmaschine handhaben. Als sie dann des Pastors Dienst verließ, mietete sie sich und ihre Mutter bei einem Wirten ein und beschäftigte sich mit der Anfertigung weiblicher Kleidungsstücke. Mutter und Tochter lebten jetzt glücklich miteinander. Leider sollte dieses Glück nicht lange dauern. Schon nach einem Jahre erkrankte die Mutter an den Folgen einer starken Erkältung und starb. Lihse richtete eine kleine Beerdigung aus, zu welcher sie die nächsten Verwandten einlud, verkaufte dann nach und nach all' ihre Sachen, nahm ihren Pass und sagte, sie ziehe nach Riga. Keiner ihrer Bekannten hat sie jedoch weder dort noch sonst irgendwo wiedergesehen.
Einige Zeit nach Lihses Abreise durchlief aber folgende Schreckensnachricht das Gebiet: Beesumneek war ermordet worden! Man fand ihn in seinem Bette in der Kleete, wo er des Sommers zu schlafen pflegte, tot daliegen. Eine abgenutzte kurze Sense war ihm in's Herz gestoßen worden …
Jahns Grab, welches Sommer für Sommer einem reizenden Blumenbeete geglichen hatte, verwilderte nach Lihses Verschwinden mehr und mehr. Die Stiefmütterchen gingen aus, die Nelken, die Vergissmeinnicht. Zwischen den hochaufgeschossenen Nesseln schauen nur noch einzelne blaue Blümchen schüchtern hervor, doch auch diese werden bald verschwinden, bald verdrängt werden durch das üppig um den verfallenden Hügel wuchernde Unkraut.