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»Ein Wirt wünscht Sie zu sprechen, Herr Graf.«
»Wer ist es?«
»Der Klauzen.«
»Gut. Ich komme … Was will er?«
»Ich weiß nicht, Herr Graf. Er sagt es nicht.«
»Schön.«
Der schlanke Diener verschwand geräuschlos aus dem Kabinett und der Graf setzte seine Zeitungslektüre noch eine Weile fort. Dann knisterte das Blatt und er erhob sich. Blass vor Hitze trat er an das hohe Fenster, dessen Markise tief herabgelassen war und öffnete es ein wenig. Die Glut eines Ofens schlug ihm von draußen entgegen, »Grässlich«, murmelte er, indem er das Fenster schnell wieder schloss und sich dem kostbaren Barometer zuwandte, das seit Wochen hartnäckig auf »trocken« wies. Auch jetzt keine Hoffnung! Der Graf verzog das Gesicht und ging mit langsamen Schritten einem Tischchen zu, auf dessen schwarzer Marmorplatte in einer breiten silbernen Schüssel eine Siphonflasche inmitten durchsichtiger Eisstücke stand. Zischend fuhr das kühle Selterswasser in das geschliffene Glas, und der Graf trank.
Dann betrat er das Speisezimmer.
Im Schloss gab es keinen eigentlichen Empfangsraum für die Bauern, und diese wurden daher im Korridor abgefertigt. So hatten es Vater und Großvater gehalten, so tat es auch der gegenwärtige Besitzer. Er kam zwar aus der Residenz, der Universität der feinen Sitten eines Landes, und es war ihm auch anfangs gegen seine Würde gewesen, halbe und ganze Stunden lang in der Zugluft des Ganges, von den Mädchen, dem Diener und der Köchin belauscht, sich mit seinen Wirten zu unterhalten. Allein im Speisezimmer, wohin er die Bauern beschieden, ließen sie einen so schweren Geruch von Transtiefeln und muffigen Kleidern zurück, dass er auf die Gewohnheit von Vater und Großvater zurückgreifen musste. So wollte er auch diesmal in den Korridor hinaustreten, als er sich erinnerte, Klauzen gehöre zu seinen intelligenten Pächtern. Der mochte sich also wohl schon vom Trangeruch emanzipiert haben. Der Graf berührte den Knopf der Klingel, worauf abermals der schlanke Diener erschien.
»Führe ihn hierher, ins Speisezimmer«, befahl er.
»Jawohl, Herr Graf«, versetzte der Diener, indem er sich leicht verbeugte und hinausging.
Der Graf zog sich hinter den Speisetisch zurück. Der Mann konnte am Ende dennoch Transtiefel haben, und für diesen Fall bedeutete eine Entfernung von vier Schritt immerhin einen Vorteil. Außerdem ließ er sich von Leuten mit einiger Bildung nicht die Hand küssen. Der Tisch stellte also eine stumme Ablehnung des Handkusses dar, falls der Wirt Takt genug besaß, dies zu bemerken. Im Korridor schob der Graf gewöhnlich die Hände auf den Rücken, indem er dabei freundlich: »nicht nötig, nicht nötig«, sagte. Aber er hatte dabei immer ein unangenehmes Gefühl und erschwerte daher, so viel er vermochte, die Ermöglichung solcher Szenen.
Nach einer kleinen Weile öffnete sich die Tür und ein bäuerlich, aber anständig gekleideter Mann trat ein und blieb hart an der Tür stehen.
»Guten Tag, gnädiger Herr Graf.«
»Guten Tag.«
Der Gruß klang bescheiden, seine Erwiderung freundlich. Herr und Pächter blickten einander an. Der Graf sah in ein gebräuntes, volles, hübsches Bauerngesicht, aus dem Kraft und zufriedenes Selbstbewusstsein sprachen, der Wirt in feine blasse Züge, große, freundliche Augen und auf einen energischen Mund.
»Sie sind der Klauzen-Wirt Andrikson?«, sagte der Graf.
»Ja, gnädiger Herr Graf.«
»Es freut mich, Sie zu sehen, Andrikson. Ich habe bereits von Ihnen gehört. Sie sind ein tüchtiger, fleißiger Wirt.«
Andrikson wurde verlegen und murmelte etwas vor sich hin. Dann sagte er: »Arbeiten muss man, gnädiger Herr Graf, sonst geht es nicht in diesen Zeiten.«
»Ja, man hat's nicht leicht«, versetzte der Graf. »Es ist eine schwere Zeit, sowohl für die großen, als für die kleinen Landwirte … Leiten Sie schon lange das Klauzen-Gesinde?«
»Mein Vater starb vor zwei Jahren, gnädiger Herr Graf.«
»Nun, da haben Sie Zeit genug gehabt, um von ihm das Wirtschaften gründlich zu erlernen. Wie geht's Ihnen denn?«
»Der gnädige Herr Graf werden mir die Antwort auf diese Frage erlassen.«
»Warum?«
»Weil ich nicht undankbar sein … mich zeigen möchte. Der gnädige Herr Graf haben uns zwei Rubel vom Taler seit diesem Frühjahr erlassen – da darf man vor Ihnen nicht über schlechte Ernteaussichten klagen.«
»Stehen Ihre Felder denn so schlecht, Andrikson?«
»Es regnet nicht, gnädiger Herr Graf. Und außerdem … ich habe beinahe nur schweren Boden.«
»So … Aber die Felder können sich vielleicht noch erholen; Wir haben jetzt so lange trockenes und heißes Wetter gehabt, dass wir jeden Tag ein Gewitter erwarten dürfen. Heute freilich kommt es nicht mehr«, setzte er, indem er sich an den Stand des Barometers erinnerte, lächelnd hinzu.
»Nützen würde der Regen wohl, aber den Schaden gutmachen kann er nicht mehr, gnädiger Herr.«
»Ich fürchte es beinahe auch. Das ist schlimm; Andrikson … Ja … Aber da Sie sagen, dass Sie nicht gekommen sind, um über schlechte Ernteaussichten zu klagen, so hat Sie ein anderer Grund zu mir hergeführt. Was haben Sie denn für ein Anliegen, lieber Andrikson?«
»Gnädiger Herr …«, sagte der Wirt, blieb aber stecken, indem er sich abermals verfärbte.
»Reden Sie nur ganz dreist, Andrikson. Ich habe meinen Wirten bereits gezeigt, dass ich Ihnen allen wohl will. Sie jedoch, als der Sohn eines Mannes, den mein Väter immer zu seinen besten Leuten gezählt, können meiner besonderen Unterstützung jederzeit versichert sein. Das heißt, falls Sie einer solchen bedürfen. Ich denke, Sie sind Ihrem Alten nachgeartet. Ihr Ansehen wenigstens spricht dafür. Was haben Sie? Sprechen Sie ohne jede Scheu.«
Der Wirt hatte die Finger der linken Hand zur Faust geballt und rieb dieselbe mechanisch an der Handfläche der Rechten.
»Gnädiger Herr Graf« begann er, »es ist keine Klage, die mich zu Ihnen führt, und dennoch – ist es eine. Ich muss mich über Ihren Förster beklagen.«
»Über den Förster? Was hat denn der …? Hat er Ihnen etwas verweigert, das Sie brauchen?«
»Er droht, mich beim Gericht anzugeben.«
»Nanu! Weshalb denn?«
»Weil ich ungesetzlicherweise Eichen gehauen haben soll.«
Die Haltung des Grafen wurde um ein Unmerkliches straffer.
»Was? Was?« fragte er. »Sie sollen Eichen gehauen haben? Wie kommt er zu der Behauptung? Haben Sie denn welche gehauen?«
»Ja, gnädiger Herr Graf. Aber nicht ungesetzlicherweise.«
»Hören Sie mal, hören Sie mal, hören Sie mal, Andrikson! Wo haben Sie denn die Eichen gehauen?«
»Wo anders, als in meiner eigenen Grenze.«
Der Graf richtete seine hellen Augen auf den Bauern und sah ihn einen Augenblick durchdringend an.
»In der eigenen Grenze? Und da sagen Sie, dass das nicht ungesetzlicherweise geschehen sei?«, sprach er langsam. »Sie kennen doch Ihren Kontrakt? Ihr Kontrakt enthält keinen einzigen Punkt, welcher Ihnen gestattet, eine stangendicke Espe ohne die Genehmigung des Hofes abzuhauen. Von Eichen gar nicht zu reden. Wenn Sie also gehauen haben, so haben Sie sich gegen das Gesetz vergangen.«
»Gnädiger Herr Graf, es scheint wohl so. Aber wenn Sie mir erlauben, die Sache zu erklären … so … so … wird sie Ihnen gewiss anders erscheinen.«
Ein leichter Schatten legte sich an das Gesicht des Grafen.
Von den reinsten Absichten beseelt, hatte er die Beamtenkarriere aufgegeben und war aufs Land gezogen, um seinen hundertundfünfzig Wirten Vorbild, Berater, Helfer, Beschützer zu sein. Sein Vater war kränkelnd jahrelang Winter für Winter in südliche Kurorte gereist, die Bewirtschaftung des Gutes einem wenig skrupulösen Verwandten überlassend. Was dieser durch seine Strenge an den Bauern gesündigt, das wollte der Graf sühnen. Er hatte nicht auf die warnenden Stimmen geachtet, welche ihm die Baltesern'schen Bauern als eigenmächtig, überbildet und verwöhnt durch die lange Milde eines alten Seelenhirten dargestellt hatten. Er hatte an die Parabel von der Sonne und dem Sturm gedacht und war siegesgewiss in Schloss Baltesern eingezogen. Nun sah er den Kampf beginnen. Nein, er hatte schon begonnen. In den wenigen Monaten, seit er sein Erbe angetreten, waren ihm bereits mehrere hässliche Vorfälle begegnet. Es war ihm eine gefälschte Pachtquittung präsentiert, und ein Buschwächter war der Bestechung überführt worden. Außerdem hatte ein kleiner Wirt ein Fuder Ziegelsteine aus der Ziegelei gestohlen. Jetzt sollte sein Wohlwollen wahrscheinlich wieder auf die Probe gestellt werden.
»Sprechen Sie«, sagte der Graf nach einer kurzen Pause, ohne den freundlichen Ton zu ändern.
»Der gnädige Herr Graf werden mir gestatten, ziemlich weit auszuholen.«
»Sprechen Sie, sprechen Sie.«
»Ich muss den gnädigen Herrn an die Zeiten der Frone erinnern. Als diese abkam und die Pacht eingeführt wurde, hatte das Klauzen-Gesinde mehr Wald und Strauch als Felder. Das war fast überall so und konnte so nicht bleiben. Darum erlaubte der verstorbene gnädige Herr den Wirten, die Wälder auszuhauen und die Felder zu vergrößern. In jedem Frühjahr durfte man Rodungen machen für Gerstenkorn. Das ging so lange Zeit. Dann wurde das Roden verboten.«
»Ja«, sagte der Graf. »Das Roden sowohl als auch das Abhauen einzelner Bäume.«
»So ist es, gnädiger Herr. Aber mein Vater hatte zur Zeit der Rodungen in den zum Abhauen bestimmten Wäldern die Eichen stehen lassen. Ich erinnere mich nicht, dass er auch nur eine einzige abgehauen hätte, obwohl das gestattet war. Ich war damals noch ein kleiner Junge, aber ich hab' es nicht vergessen, was er damals sagte. ›Sie zieren das Feld‹, sagte er von den großen Eichen. ›Die müssen noch wachsen‹, meinte er von den kleinen. ›Es wird schon die Zeit kommen, da wir sie nötig haben werden. Dann werden sie uns schön bei der Hand sein.‹ So sind sie denn alle stehen geblieben, und manches meiner Felder sieht deshalb jetzt aus wie ein Eichengarten.«
»Und von diesen Eichen haben Sie gehauen?«
»Von diesen, gnädiger Herr Graf. Die Eichen in meinen Feldern wären alle längst zu Holz zersägt oder sonst irgendwie verbraucht worden, wenn mein Vater sie nicht geschont hätte. Ich bitte, es mir daher zu verzeihen, wenn ich es auszusprechen wage, dass ich … sozusagen … meine Eichen auf Ihrem Grunde gehauen habe. Ich habe sie von meinem Vater geerbt.«
Der Graf lehnte sich leicht gegen die Ecke des Büfetts zurück und der Zug von Strenge um seinen Mund wurde deutlicher. Was tat dieser Mensch? War er so bäuerlich beschränkt, dass er ein längst verjährtes Recht seines Vaters in vollem Ernst für sich noch in Anspruch nahm, oder war es bäuerische Verschlagenheit, die ihn so reden hieß? Weshalb hatte er gerade jetzt die Eichen gehauen? Hatte er sich nicht den Wechsel der Besitzer von Baltesern und die damit unvermeidlich verbundene lässigere Beaufsichtigung von Feld und Wald zunutze machen wollen?
»Weshalb haben Sie die Bäume nicht noch zu Lebzeiten meines Vaters gehauen?«, fragte der Graf. »Er wusste um die Sache. Warum taten Sie dies gerade jetzt?«
»Ich hatte das Holz gerade jetzt nötig, gnädiger Herr Graf.«
»Wozu?«
»Ich habe mir einen Wagen für die Riga'schen Fahrten und zwei Arbeitswagen bestellt.«
»Sie haben also nur so viel gehauen, als für diese drei Wagen nötig ist? Was macht man aus Eichenholz für solche Wagen? Die Bretter nimmt man doch von Tannen?«
»Die Bretter von Tannenholz, gnädiger Herr Graf, die Speichen und Naben jedoch müssen aus Eichen- oder Ulmenholz sein.«
»So. Sie haben also für diese drei Wagen das nötige Material abgehauen?«
»Gnädiger Herr Graf … ich muss Ihnen … es sind … sind mehr Bäume abgehauen.«
In den blassen Wangen des Grafen stieg eine feine Röte auf. Also einfacher, frecher Waldfrevel. Und der Mensch da mit dem Biedermannsgesicht vor ihm wollte die Tat nicht eingestehen und log ihm deshalb ein gut erfundenes Märchen vor! Der Graf ging in sein Kabinett und der Wirt hörte, wie das Selterswasser aus der Siphonflasche ins Glas zischte. Als der Graf zurückkam, war die Röte von seinen Wangen verschwunden.
»Hören Sie mal, Andrikson, wir sind beide vernünftige Männer, beide zu gescheit für irgendwelchen Hokuspokus. Gestehen Sie offen, was Sie getan haben. Ich weiß es, der Bauer sieht noch immer den Wald als beinahe herrenloses Eigentum an. Sie sind … Sie haben Schulunterricht genossen, aber der alte Adam, das heißt; die alte Ansicht steckt auch noch zum Teil in Ihnen. Diese Ansicht hat Sie zu dem begangenen Unrecht verleitet Machen Sie dasselbe in meinen Augen nicht noch größer, indem Sie es zu beschönigen suchen. Gestehen Sie frei, Sie haben mir die Eichen gestohlen.«
Es war, als ob das letzte Wort des Grafen nicht bloß Wort, sondern Wort und Schlag zugleich gewesen wäre. Mit einem merklichen Ruck fuhr Andriksons Kopf zurück und sein Gesicht wurde sehr bleich.
»Gnädiger Herr«, stammelte er nach einer Weile, dem Grafen fest in die Augen blickend, »Herr Graf, das … das ist ein Wort … welches ich … nicht annehmen kann.«
»Da kann ich Ihnen nicht helfen, lieber Andrikson. Man muss alles beim rechten Namen nennen. Auf wieviel Rubel schätzt denn der Förster die abgehauenen Stämme?«
Andrikson schwieg.
»Auf dreihundert«, sagte er dann leise und fügte hinzu; »Wenn es vors Gericht geht.«
»Ah! Dreihundert! Nun, ich hoffe, wir werden auch ohne Gericht zurechtkommen.«
»Ich glaube das auch, gnädiger Herr Graf.«
Der Graf überlegte. Wie sollte er wohl diese Angelegenheit am besten beilegen? Die Straftaxe wollte er nicht anwenden, der Wirt mochte im letzten Grunde denn doch in gutem Glauben gehandelt haben. Der Graf hat so viel Günstiges von dem alten Andrikson gehört, und der Sohn sah so ehrlich aus. Ob nicht die Anwendung der gewöhnlichen Taxe in diesem Falle das Richtige war? Denn zu gelinde mochte er auch nicht erscheinen – des Prinzips wegen.
»Nun, was meinen Sie, Andrikson, wie ich Sie strafen soll?«, fragte er endlich und ließ seine hellen Augen auf der Gestalt des Wirtes ruhen, der mit zwei tiefen Falten zwischen den Augenbrauen dastand.
»Der gnädige Herr Graf werden die Güte haben und die Sache so ansehen, wie ich sie dargestellt habe. Ich bitte ergebenst den Herrn Grafen darum.«
»Das kann ich nicht, das kann ich nicht, Andrikson. Bedenken Sie nur selbst. Wenn Sie noch für die drei Wagen allein gehauen hätten! Aber Sie haben mehr gehauen. Wozu haben Sie das getan?«
Der Graf verwandte seine Augen nicht von Andrikson und dieser bemühte sich vergebens, nicht zu erröten. Er schlug für einen Moment die Augen nieder und sagte dann mit fester Stimme:
»Der gnädige Herr Graf sollen die Wahrheit erfahren. Ich wollte das übrige Holz verkaufen. Heimlich habe ich es deshalb getan, weil mir der Herr Graf denn doch nie und nimmer gestattet hätten, auch nur einen Stamm abzuhauen.«
»So … So, so! Woher wissen Sie denn das so genau, Andrikson?«
»Erlauben nur der gnädige Herr Graf, dass ich gegenfrage: Hätten Sie mir das Hauen gestattet?«
Der Graf wurde nervös. Er hatte es sich so schön zurechtgelegt, mit den »einfachen« Bauern väterlich umzugehen, mit den »gebildeten« kordial und hatte dabei den sicher zu erwartenden Mangel an Formen großmütig übersehen wollen. In der Praxis wurde ihm dies jedoch schwer. Er fühlte sich auf seinem Gut als Grandseigneur und von Respektwidrigkeiten in seiner Würde verletzt. In der Theorie stellte er den intelligenten Edelmann neben den intelligenten Bauern, in der Wirklichkeit sprachen der jahrhundertelang vererbte Stolz und die aus diesem geborene Verachtung lauter als die Vernunft. Er verzog die Stirn.
»Sie reden mit mir nicht schicklich, Andrikson«, sagte er in strengem Tone. »Was geschehen oder nicht geschehen wäre, darüber brauchen wir nicht zu streiten. Es handelt sich jetzt nur um das, was geschehen ist. Schweifen Sie, bitte, davon durch unnütze Fragen nicht ab.« Er sagte die letzten Worte beinahe mit Heftigkeit, welche ihren Grund teils in der natürlichen Indignation über Andriksons Benehmen, teils in dem dunklen Gefühl hatte, dass er dem Wirten die Hölzer höchstwahrscheinlich verweigert hätte.
»Ich bitte den gnädigen Herrn Grafen um Verzeihung, ich habe den Herrn Grafen durchaus nicht erzürnen wollen«, sagte der Wirt. »Aber ich muss doch für mich sprechen. Der Förster hätte mir die Bäume nicht abgestempelt. So musste ich sie denn heimlich abhauen. Das war mein Recht. Ich muss es sagen, ich muss dabei bleiben.«
»Sie gestehen also Ihre Schuld nicht ein?«
»Gnädiger Herr Graf, was für mich mein Vater aufgespart und mir hinterlassen hat, ist mein, ebenso wie das Ihnen gehört, was der selige Herr Graf für Sie erspart und hinterlassen hat.«
Diese kühne Parallele raubte dem Grafen vollends die Geduld. Mit raschen Schritten begab er sich in sein Kabinett in der Absicht, kein Wort weiter mit Andrikson zu wechseln, zu schellen und ihn durch den Diener zu entlassen. Er besann sich jedoch, trank abermals ein halbes Glas Selters und suchte nach der Forsttaxe. Er wollte den einfachen Preis der Eichen berechnen. Erfand sie jedoch nicht und ging ins Speisezimmer zurück.
»Der Preis der Bäume nach der Straftaxe sind dreihundert Rubel. Sie werden mir hundert Rubel zahlen, Andrikson«, sagte er kurz und ruhig.
Andrikson stand da, bleich und stumm und presste heftig die Finger der Linken mit denen der Rechten.
»Der gnädige Herr Graf halten mich also wirklich für einen Dieb?«, sagte er mit unterdrücktem Zittern in der Stimme.
»Sie hören doch den Preis!«, rief der Graf mit verhaltenem Zorn. »Ich strafe Sie nicht als Dieb. Ich behandle Sie als Käufer. Sie kaufen von mir die Eichen!«
»Gnädiger Herr Graf, wie kann ich etwas kaufen, das ich mir genommen habe. Entweder durfte ich die Stämme abhauen, und dann habe ich nichts zu zahlen oder ich durfte es nicht tun, und dann bin ich ein Dieb.«
Der Graf ging zweimal im Speisezimmer nach rechts und zweimal nach links und blieb dann wieder am Büfett stehen, indem er mit den schlanken Fingern seiner Linken die Kante der glänzenden, kühlen Platte desselben umspannte.
»Hören Sie mal, Andrikson, jetzt muss ich mit Ihnen so reden, dass Sie mich verstehen. Ich kann Sie unmöglich für so dumm halten, dass Sie nicht begreifen sollten, was Sie getan haben. Sie stellen sich mir gegenüber absichtlich auf den einfältigen Standpunkt eines eingebildeten Rechtes. Sie wissen es sehr wohl, dass Ihrem Vater die Erlaubnis zum Abholzen der Eichen nur für einmal und nicht für immer erteilt worden ist. Hat Ihr Vater die Gelegenheit unbenutzt vorübergehen lassen, so hat er auch damit die Erlaubnis verwirkt. Von einem Recht, das auf Sie übergegangen ist, kann also nicht die Rede sein. Sie haben sich gegen das Gesetz vergangen, und wenn ich Sie ihm nicht anheimgebe, so danken Sie es keinem anderen Umstände als meiner Güte!«
In Andriksons Gesicht zuckte etwas wiederholt blitzartig auf, er faltete die Hände und rieb die Daumen heftig gegeneinander. Dann sagte er in tiefer Erregung:
»Der gnädige Herr Graf stellen mich nicht unter das Gesetz, erniedrigen mich aber trotzdem. Ich weiß es wohl, dass das Gesetz gegen mich ist. Das ist für alle gemacht und kann nicht heute so und morgen anders lauten. Es muss also gegen mich sein. Der Herr Graf brauchen aber nicht gegen mich zu sein. Der Herr Graf können für diesen Fall selbst ein Gesetz machen. Bin ich schuldig oder bin ich es nicht in des Herrn Grafen Augen? Der Herr Graf sagen, dass ich es bin. Der gnädige Herr glauben mir nicht, was ich erzählt habe, sonst würde ich nichts zu zahlen haben. Was soll ich tun? Ich kann nur sagen, dass mein Vater ein ehrlicher Mann war und dass ich auch nicht einen Groschen unrechten Gutes geerbt habe … und … dass ich in seinen Fußstapfen wandeln will. Ja, Herr Graf, ich kann es Ihnen beschwören, dass ich Ihnen die Wahrheit vorgelegt habe. Ich wusste, dass ich stehle, aber ich glaubte und glaube auch jetzt noch, dass ich mich selber bestohlen habe. Denn für keinen Fremden – weder für Sie noch sonst jemanden –, ganz allein für mich hat mein Vater die Eichen geschont, die sonst längst zu Staub und Asche verbrannt wären!«
Der Graf wandte sich, trat ans Fenster und blickte auf ein Beet rotglühender Pelargonien hinaus. Es gibt einen Ton in der menschlichen Stimme, der, sobald er angeschlagen wird, zum Glauben zwingt. In diesem Ton hatte Andrikson gesprochen. Der Graf war überzeugt. Aber durfte er dieses eingestehen? Was würden die Folgen der gänzlichen Straflosigkeit von Andriksons Tat sein? Die übrigen Wirte würden ihre Wälder verwüsten und, sich auf Andrikson berufend, die gleiche Milde für sich in Anspruch nehmen. Eine endlose Reihe von Streitigkeiten und Rechtsübertretungen tauchten vor den Augen des Grafen auf. Oder sollte er dem Bauer verzeihen und ihm Stillschweigen auferlegen? Eine solche Geheimniskrämerei vertrug sich nicht mit seiner Würde, außerdem hatte er die Höhe der Pön bereits genannt und er nahm nicht gern sein Wort zurück. Nein, er konnte die Tat nicht so hingehen lassen. Er wandte sich schnell wieder um.
»Andrikson, Sie werden jetzt nur fünfzig Rubel zahlen. Die übrigen fünfzig werden Sie mir nach Verlauf von sechs Jahren bringen.«
Indem er dies sagte, dachte der Graf, dass sechs Jahre eine lange Zeit seien, während welcher sich schon irgendwelche Gründe finden würden, die fünfzig Rubel zu streichen.
Die stämmige Gestalt Andriksons schien ein wenig kleiner zu werden. Er warf dem Grafen den Blick eines tödlich Verwundeten zu und sagte mit erstickender Stimme:
»Herr Graf, so bin und bleibe ich denn in Ihren Augen ein Dieb! Gut. Dann stellen Sie mich auch unter das Gesetz. Die paar hundert Rubel werden mich nicht an den Bettelstab bringen. Mögen sie hingehen, wo so viele andere Hunderte hingegangen sind. Ich verzichte auf Ihre Güte, Herr Graf.«
Der Graf kniff die Augenlider ein wenig zusammen, hob den Kopf ein wenig und sah den Sprecher mit einem Blick an, der deutlich sagte:
»Wurm!« Nichts erkältet den Menschen gegen den Menschen plötzlicher als trotzig zurückgewiesene Güte.
»Wie Sie wollen, Andrikson, wie Sie wollen«, versetzte er geschäftsmäßig und verließ mit würdevollen Schritten das Speisezimmer. In Gedanken aber wiederholte er Andriksons Worte: »Wo so viele andere Hunderte hingegangen sind! Ich verzichte auf Ihre Güte, Herr Graf … Na, ich werd' ihm! …«
Der Graf setzte sich wieder und nahm die Zeitung in die Hand. Aber er fand nichts anderes darin, als die Worte: »Wo so viele andere Hunderte hingegangen sind … Ich verzichte auf Ihre Güte, Herr Graf …« Heftig drückte er den Knopf der Klingel und befahl dem herbeieilenden Diener, den Förster zu rufen.
Inzwischen hatte Andrikson das Speisezimmer verlassen, hatte im Korridor seine Mütze genommen und war in die Glut des Sommertages hinausgetreten. Er war so voll schmerzlichen Zornes, dass er gar nicht darauf achtete, wohin er ging. Erst als ihn würziger Harzduft und eine erträglichere Luft umfing, besann er sich, dass er im Baltesern'schen Forst und auf dem Wege nach Hause sei. Nachdem er ein gutes Stück im Schatten der schlanken, hohen Tannen dahingegangen war, setzte er sich auf einen Baumstumpf am Wege.
Das war sie also, die vielgerühmte Güte des Grafen … Dreihundert Rubel … Ein Dieb … Er, des alten Andriksons Sohn, wurde als Dieb bestraft … Man glaubte ihm nicht … Er schwor und man glaubte ihm nicht! Nein, das konnte nicht sein. Die Sache war ja zu klar. Der Graf wollte aber das Geld haben, das war's! Er versteckte sich hinter dem Unglauben, um die hundert Rubel zu erlangen. Der Reiche hat ja niemals genug. Ach, es war ja so leicht zu sagen: »Andrikson, du hast gegen das Gesetz gefehlt«, wenn man auf das Gesetz in der eigenen Brust nicht hören wollte.
Er erhob sich und schritt weiter. Trotz aller Erregung fühlte er Hunger. Er erinnerte sich, wie seine Frau ihm Käse angeboten und er denselben samt seiner Pfeife in die Tasche zu stecken vergessen und wie sie weiter ihn gewarnt hatte, sich zu übereilen, und wie er ihr zuversichtlich geantwortet, sie möge sich nicht ängstigen, es werde alles gut gehen. Was sollte er ihr jetzt sagen? Hatte er sich nicht übereilt? Wäre es nicht besser gewesen, sich zufrieden zu geben und zu zahlen? Ihm fiel das Sprichwort ein: Vermeide mit dem Starken einen Kampf und mit dem Reichen einen Prozess. Konnte nicht jetzt noch alles gutgemacht werden? Nein, jetzt war es zu spät. Er hatte den Grafen heftig gereizt, indem er ihm selbstbewusst entgegengetreten war und das, so fühlte er, würde ihm der Graf nicht verzeihen. Und wenn der Graf auch zu verzeihen geneigt wäre – er konnte doch nicht bitten! Das hieße ja, sein Unrecht eingestehen, und er hatte nicht unrecht. Gar nicht? … Nein, oder doch nur so viel, als ein Mann unrecht hat, der sein verlaufenes Lamm aus einem Nachbarstalle, ohne Wissen des Nachbars, wieder nach Hause holt. Ja, so war es, genauso, Andrikson bedauerte, dass ihm dieser schöne Vergleich nicht in Gegenwart des Grafen eingefallen war. Aber er konnte ihn ja noch vor Gericht anbringen. Das half aber dann leider nichts mehr; der Graf hörte ihn dann nicht und das Gericht verurteilte ihn trotzdem … Dreihundert Rubel … Das war doch eigentlich eine große Summe. Und wenn man's so recht bedachte, so nahm er sie nicht aus seiner Tasche allein, sondern entzog sie in gleicher Weise seiner Frau und seinen Kindern … Eine unsagbare Bitterkeit bemächtigte sich Andriksons, eine ätzende Bitterkeit, wie sie nur entsteht, wenn der Mensch, ohne es sich zu gestehen, mit sich selber Versteck spielt und ein begangenes Unrecht mit einem erlittenen verwechselt.
Die Sonne schien durch die Bäume, das Harz duftete, von Zeit zu Zeit erklang der Ruf eines Vogels. Wersteweit dehnte sich der Forst aus. Er umfasste Sümpfe, Teiche, einen See, der die merkwürdige Form einer Sichel hatte, weite Lichtungen, bedeckt mit dürrem Gras, Heidekraut und Haselnussstauden. Andrikson kannte den Forst genau. Als Knabe war er im Sommer zur Beerenzeit so oft in demselben umhergestrichen. Das Klauzen-Gesinde lag ja auch ganz in der Nähe. Jetzt war die Zeit der Schwarzbeeren und Himbeeren und seine Kinder besuchten statt seiner die alten trauten Plätze.
Indessen machte sich der Hunger immer bemerkbarer. Andrikson bückte sich nach einigen Schwarzbeeren am Rande des Weges, aber sie waren mit feinem Staub bedeckt und er ließ sie stehen. Seine Verstimmung wuchs; das wühlende Gefühl unterdrückter Reue erbitterte ihn immer mehr und er wurde immer ungerechter gegen den Grafen. Und plötzlich war der Gedanke da: »Wenn ich mich an ihm rächen könnte!«
Aber das war unmöglich. Der Graf stand viel zu sicher und zu hoch da, als dass er ihn irgendwie hätte schmerzlich treffen können.
An einen weiten Aushau gelangt, der sich links am Wege hinzog, blieb Andrikson stehen. Ob er nicht der Gewohnheit aus der Knabenzeit folgen und da hinten, wo die vertrocknete Nussstaude stand, nachsehen sollte, ob der Himbeerstrauch noch immer da war? Oder dort bei der langen Kiefer mit der dünnen Krone und dem seltsam verkrüppelten Ast? Aber was war das? Eine Rauchwolke stieg plötzlich neben der Kiefer auf, Andrikson vernahm Flammengeknister und sah, wie ein Mann von der Erde aufsprang, etwas weiter weglief, eine lange Haselgerte abschnitt, zurücklief und auf die Erde wie wahnsinnig losschlug. Der Rauch breitete sich aus und der Mann arbeitete immer heftiger.
Wie von einer unsichtbaren Macht gedrängt, eilte Andrikson nach rechts über den Weg in den Wald und verbarg sich hinter den Bäumen. Um keinen Preis wollte er bemerkt und um Hilfe angerufen werden. Gelang es dem Manne nicht, das Feuer zu unterdrücken, so mochte der Wald brennen. Mochte das Feuer Andrikson rächen! … Mit gespanntester Aufmerksamkeit sah der Wirt dem Kampfe zu. Die Flamme schien den Mann zu äffen. Bald lohte sie zu seinen Füßen, bald schlug sie viele Schritte von ihm entfernt empor. Der Mann lief hin und her, nach rechts, nach links und hatte endlich mit heißer Mühe das Feuer buchstäblich mit seiner Gerte erschlagen. Schweißtriefend stand er inmitten einer bräunlich-schwarzen Insel da und sah umher, ob es nicht noch irgendwo aufleuchten würde. Aber das Feuer blieb tot. Nachdem er noch eine Weile gewartet, spie er aus, zog seine Pfeife hervor, rauchte an, löschte das Zündholz mit den Fingern aus und schritt den Weg dahin, den Andrikson gekommen war.
Regungslos starrte Andrikson auf die ausgebrannte Stelle. War nicht irgendwo an den braunen Rändern noch ein kleines Flämmchen zu entdecken? … Nein, alles Spähen und Warten war vergeblich. Behutsam näherte sich Andrikson dem Wege und schritt schnell über denselben hinweg der Brandstätte zu. Es musste brennen! Der Zufall hatte ihm gezeigt, wie der Graf für seine Härte gestraft werden konnte. Andrikson konnte sich rächen, ohne selbst im geringsten Gefahr zu laufen. Der Mann, der soeben davongegangen war, lebte auf dem Gute, aß des Grafen Gnadenbrot und suchte für den Hof im Sommer Beeren und Pilze. Er trug mit seinen Kleidern den strengen, durchdringenden Geruch verbrannten Grases davon. Dieser Geruch würde sofort den Verdacht auf ihn lenken und der Alte würde auch sicherlich nicht leugnen, denn das Feuer war wider seine Absicht entstanden und er hatte sich redlich bemüht, es zu ersticken … Andrikson duckte sich, holte seine Zündholzschachtel hervor, entzündete mit einem Mal drei Zündhölzchen, steckte das dürre Gras in Brand und warf dann die Zündhölzchen weit fort. An beiden Stellen flammte es auf, und Andrikson eilte wieder über den Weg zurück in den Wald.
Er wollte weiter fliehen, aber mit unwiderstehlicher Gewalt zog es seine Blicke nach der Lichtung. Er musste sehen, wie der gelbe Teufel immer mehr gelbe, rote, bläuliche Teufelchen gebar, die mit großer und immer größerer Geschwindigkeit weitersprangen, -krochen, -flogen. Geradeaus, nach rechts, nach links wälzten sie sich fort, ein immer lauteres Sausen und Knattern verursachend. Vögel flogen auf, Krähen kreischten, ein Hase sprang in einiger Entfernung in wilden Sätzen davon. Bald stiegen die ganze Breite der Lichtung entlang Rauch und Flammen auf. Ein kaum merklicher Luftzug gab dem Feuer die Richtung. Es strebte über die Lichtung den Bäumen zu. Wenn der ganze Forst ausbrannte! Das hatte er ja gewollt, mit diesem Wunsche hatte er das Feuer in das dürre Gras geworfen … Damit der ganze Forst ausbrenne? Hatte er das wirklich gewollt? Der ganze Forst – fünfzehn Quadratwerst herrlicher Fichten! Der ganze Forst? Furchtbar, furchtbar! Wer konnte es ertragen, den ganzen Forst brennen zu sehen? Nein, das hatte Andrikson nicht beabsichtigt! Er hatte bloß den Grafen schrecken wollen, er hatte ihn fühlen lassen wollen, wie es tut, wenn man schuldlos leidet. Aber den ganzen Forst – ach, das konnte ja auch gar nicht geschehen! Denn dort hinter den Bäumen, gerade gegenüber der Lichtung, befand sich der sichelförmige See; in dessen Bucht musste der Brand erlöschen!
Aber wenn das Feuer um die beiden Spitzen des Sees hinausging! Es breitete sich mit einer solchen unglaublichen Schnelligkeit aus! Jetzt war es bereits bis zur Mitte der Lichtung, jetzt lohte der junge Nachwuchs da hinten schwirrend auf und jetzt – jetzt packte der gelbe Teufel mit unheimlichem Zischen die großen Fichten! Ein tödliches Entsetzen bemächtigte sich Andriksons. Was hatte er getan? Was hatte ihm der Forst getan, dass er ihn der Vernichtung preisgab – der schöne große Forst! Und der Graf! War er denn wirklich so schlecht gewesen, dass er mit dem Verlust des ganzen Forstes gestraft werden musste?
Aber das Feuer griff immer weiter, um sich. Sollte Andrikson zusehen, wie die ganze Breite des Forstes in Brand geriet? War denn nicht noch Rettung möglich? Rettung? Durch wen? Durch ihn selbst – gemeinschaftlich mit anderen! Wie, sollte er Leute zu Hilfe rufen gegen einen Feind, den er selbst heraufbeschworen? Wenn er es tat, so fiel der Verdacht der Missetat noch weniger auf ihn … Der nächste menschliche Wohnort war sein Gesinde. Also dorthin! Wenn es nur nicht schon zu spät war! … Er begann zu gehen, zu eilen, zu laufen. Bald waren die letzten Bäume des Forstes hinter ihm und die Glut des Sommertages umfing ihn wieder. Er achtete nicht darauf, sondern lief weiter. Das Blut hämmerte ihm bald in den Schläfen, als ob es ihm den Kopf sprengen wollte, ein heftiger Druck trieb die Augen fast aus ihren Höhlen, aber er mäßigte seinen Lauf nicht. Unweit des Gesindes stolperte er über einen faustgroßen Stein und fiel hin. Er hatte keine Kraft mehr aufzustehen und blieb liegen. Das Gesicht ins welke, warme Gras drückend, dachte er: »Mag es brennen. Mir ist jetzt alles einerlei. Es ist doch aus mit mir …« Nach einer Weile jedoch kehrte seine Energie wieder, er richtete sich sitzend auf und blickte nach dem Forste. Eine weiße, sehr breite Rauchwolke qualmte empor. Andrikson sprang auf. »Gott Vater«, betete er, »lass das Feuer nicht über den See hinausgehen! Herr Gott! Herr Gott!« Dann schleppte er sich weiter.
Endlich war das Gesinde erreicht.
Im Gehöft stand seine hübsche junge Frau und blickte nach dem Forst.
»Der Forst brennt?« rief sie ihrem Manne halb fragend, halb berichtigend entgegen.
»Der Forst brennt«, wiederholte Andrikson. »Wo sind die Knechte? Schnell! Und die Mägde und alle!«
»Was? Alle? Sollen denn alle …? Aber Jahn, wie du aussiehst! Was ist dir? Was ist dir?«
»Wo sind die Leute? Wo sind sie?«
»Auf dem Felde, mein Gott! Mag es doch brennen. Man wird es schon löschen. Der Herr hat Wald genug … So zu laufen! Hättest du dich lieber nach den Kindern umgesehen, anstatt so zu rennen.«
»Nach den Kindern? Wo sind denn die Kinder? Nicht zu Hause?«
»Nein. Sie wollten Beeren suchen gehen. Mir ist so bange. Der Kahrlen hat bisweilen Zündhölzer in der Tasche. Wenn die Kinder nur nichts im Forst angerichtet haben.«
»Sind denn die Kinder in den Forst gegangen?«, rief Andrikson, und es war ihm, als ob ihm jemand das Herz aus der Brust risse.
»Wohin sollten sie denn sonst gegangen sein, sie wollten ja Beeren suchen«, versetzte die Wirtin. »Ach Gott, ach Gott.«
»Wo sind die Leute? Rufe sie! Rufe sie!« schrie der Wirt, wobei sich seine Stimme überschlug und heiser wurde. »He Jungens, he Mädchen! Zu Hilfe, zu Hilfe!«
»Um Gottes willen! Schweig doch!«, rief die Wirtin erschreckt. »Was hast du? Ich werde sie schon alle zusammenrufen. Ob eine Fichte mehr oder weniger Feuer fängt, das ist doch einerlei. Es ist Sünde zu sagen, aber wahr ist's: Der Brand hat ja auch sein Gutes. Arme Leute werden zu billigem Holz kommen.«
Die Wirtin eilte davon, und Andrikson ging im Gehöft wie betäubt umher. Er warf sich auf die Bank vor dem Hause nieder, stand auf, setzte sich wieder, stand abermals auf und ging ins Zimmer. Leer, alles still und leer … Da stand in der Ecke das Bettchen seiner Knaben. Wenn sie doch jetzt in ihm lägen! Die Flachsköpfe aneinandergeschmiegt, der Jüngere das Händchen zur Faust geballt, mit dem Daumen nach innen … Der Wirt begann zu zittern. Nein, o nein, der Gedanke war zu grässlich … Er wankte wieder hinaus und blickte nach dem Forst. Die Rauchwolke war hoch immer im Wachsen begriffen. Wo nur seine Leute steckten! Übrigens – es war ja doch schon zu spät …
Endlich waren die Leute da, bewaffneten sich mit Schaufeln und Beilen Und eilten, von Andrikson fortwährend angespornt, nach dem Forst. Die Wirtin blieb allein zu Hause.
»Wenn ihr den Kindern begegnet, saget, dass sie keinen Augenblick länger im Walde verweilen sollen; hört ihr? Hörst du, Jahn! Schicke sie sofort nach Hause!«, rief sie einmal über das ändere den Leuten nach.
Im Forste war das Feuer unterdessen in der Seebucht bis ans Wasser gedrungen, war über die Spitzen des Sees hinausgegangen und breitete sich jetzt als doppelarmiger Strom immer weiter aus. Ratlos stand Andrikson mit seinen fünf Menschen da. Was sollten die Schaufeln und Beile in ihren Händen! Die Flammen sprangen hoch oben von Baumkrone zu Baumkrone. Ein Funkenregen sprühte hernieder, immer aufs Neue das trockene Moos und Fallholz in Brand steckend. Sollten sie ein paar Bäume abhauen? Sollten sie einen fadenlangen Graben ziehen? Es wäre lächerlich gewesen. Aber getan musste doch etwas werden.
»Geh, laufe ins Gut, Peter, und melde, dass der Forst brennt«, befahl endlich Andrikson. »Weiß Gott, sie werden's heute sonst gar nicht erfahren. Wir Übrigen wollen … wollen die Kinder suchen.«
»Die Kinder suchen? Aber die werden jetzt schon zu Hause sein«, versetzte jemand.
»Wir Übrigen werden suchen«, wiederholte Andrikson. »Wenn sie nach Hause gegangen wären, so mussten wir ihnen begegnet sein.«
Niemand widersprach weiter, denn man hätte ihnen allerdings begegnen müssen, falls sie nicht auf einem ungewohnten Umweg nach Hause gegangen waren.
Aber wo sollte man sie suchen? Wenn sie tiefer in den Forst geflüchtet waren, so hatte man nicht zu sorgen: Das Feuer konnte sie nicht überholen. Wenn sie aber in der Bucht von den Flammen umzingelt worden waren!
Dieser furchtbare Gedanke schien in allen aufgestiegen zu sein, denn wie auf ein stummes Geheiß wandten sich alle der Seebucht zu. Andrikson wurde aschfahl. Es konnte also geschehen sein! Wenn eines der Mädchen oder einer der Burschen über diese Möglichkeit gelacht hätte, so wäre er bös geworden, hätte aber doch noch gehofft, denn die Hoffnung schöpft sich Nahrung noch aus dem dürrsten Trostwort, aber jetzt war es ihm, als müsste er jeden Augenblick auf die verbrannten Knochen seiner Buben stoßen.
Mit verhaltenem Ächzen begann er zu suchen. Die Knechte und Mägde umschritten, ihre Pasteln schonend, vorsichtig die noch rauchenden Stellen, Andrikson dagegen achtete nicht, wohin er seine Füße setzte. Er verschwand zwischen den schwarzen Stämmen und war bald am Ufer des Sees. Die Knaben waren vielleicht von den Flammen an das Ufer gedrängt worden. Vielleicht ins Wasser, denn stellenweise war sogar das Schilf versengt. Waren sie ertrunken? Andrikson spähte ins Wasser, er schritt die Bucht hinauf, hinab – nichts! Er verließ wieder das Ufer und kehrte zu seinen Leuten zurück, die sich über die Lichtung verteilt hatten und suchend sich der Bucht näherten. Endlich war man gewiss, dass die Kinder hier nicht verunglückt sein konnten.
»Sie werden nach Hause gegangen sein«, bemerkte ein Mädchen. »So große Knaben … Es wäre auch wirklich ein Wunder, wenn sie sich nicht zu retten verstanden hätten.«
»So geh nach Hause, Lihse, und sieh, ob sie da sind und komm wieder«, sagte der Wirt. »Ja, geh, geh!«
Das Mädchen entfernte sich und die Zurückgebliebenen fragten, was sie nun tun sollten.
»Ich weiß nicht«, antwortete Andrikson matt. »Suchet. Löscht. Suchet doch noch …«
»Ach Wirt, die Kinder sind sicherlich zu Hause. Ganz gewiss. Du hast uns ganz unnütz erschreckt.«
»Meinst du? Nun ja, Gott geb' es, Gott geb' es … Ob wohl der ganze Wald ausbrennen wird? Was meint ihr?«
»Wer kann das wissen! Wenn das Feuer so weiterfrisst und keine Menschen kommen und ein Sturm sich erhebt … Wind haben wir schon.«
»Gehen wir, gehen wir«, sagte der Wirt. »Wir müssen löschen. Wir müssen tun, was wir können.«
Sie verließen die Lichtung und fingen an, weit unterhalb des Feuers einen Graben auszuwerfen. Als ihre Arbeit um einige Faden vorgeschritten war, wurde es im Walde laut und der Förster erschien, begleitet von einer Anzahl Gutsarbeiter. Nach einer kurzen Erwägung hieß er aufhören und Andrikson mit den Leuten noch tiefer in den Forst hineingehen und dort mit dem Graben beginnen – hier würde das Feuer sie vorzeitig erreichen. Er selbst entfernte sich dann schnell, um mit Hilfe der mitgebrachten Feuerspritze auf dem anderen Flügel des Forstes gegen die Flammen anzukämpfen.
»Wo ist der Graf selbst?«, fragte ein Mädchen aus dem Klauzen-Gesinde einen Hofesknecht.
»Er ordnete noch an, wohin die Boten zu reiten haben. Das ganze Gebiet soll noch heute benachrichtigt werden. Er wird bald hier sein.«
Nach einer Weile kam die Aufforderung vom Förster, es möchten ihm zwei kräftige Männer zu Hilfe eilen, das Pferd könne mit der Spritze nicht durch das Dickicht, sie müsse von Menschen gezogen werden.
»Ich gehe«, sagte Andrikson. »Wer kommt noch?« Er sah sich um, und da er keine kräftigere Gestalt erblicken könnte, als die seines Knechtes Peter, so winkte er ihm und sie schritten davon.
Aber auch mit Menschenkraft war es schwer und endlich unmöglich, die Spritze fortzubewegen. Auch der Forst war in den letzten Jahren nachlässig verwaltet worden, es lag zu viel Fallholz auf der Erde und die Bäume standen stellenweise allzu dicht. Gerade, als es beschlossen wurde, auf die Hilfe des Wassers zu verzichten, kam der Graf herangeritten. Er sah, wie in den Leuten die starke Anstrengung des Ziehens noch nachzitterte und erblickte neben dem Förster Andrikson mit schweißbedecktem, beinahe entstelltem Gesicht. Aller Zorn gegen ihn war plötzlich wie ausgelöscht.
»Ah, Andrikson!«, rief er und sprang vom Pferde. »Und so fleißig. Ich danke Ihnen, Andrikson, für die Benachrichtigung. Das war hübsch von Ihnen. Ich danke Ihnen.« Und mit raschen Schritten trat der Graf auf den Wirten zu, ergriff dessen geschwärzte Hand und drückte sie.
»Herr Graf … Herr Graf …« stammelte Andrikson, »ich tat … ich tat nur … was … was …«
»Ich werde daran denken, Andrikson. Aber erholen Sie sich doch. Sie scheinen mir zu viel gearbeitet zu haben.«
»O, ich bin nicht müde, gnädiger Herr. Gar nicht.«
Der Förster fragte, was zu tun wäre. Er berichtete, dass mit der Spritze nichts unternommen werden könne und dass auf der anderen Seite des Forstes ein Graben gezogen wurde.
Man solle die Spritze in Sicherheit bringen und den Leuten helfen gehen, sagte der Graf.
Die Anordnung wurde befolgt, und Andrikson arbeitete wieder an der Spitze seiner Dienstboten. Der brenzliche Geruch, der von der Brandstätte herüberwehte, war bereits stärker zu verspüren als vorhin.
»Wir werden wenig ausrichten, Herr Graf«, bemerkte der Förster trübe. »Die rote Hyäne hat gar zu flinke Beine.«
»Wir bekommen bald Sukkurs. Die Boten müssen jetzt schon eine Anzahl Wirte benachrichtigt haben«, antwortete der Graf und sah in die Wipfel der Bäume. Er war sehr blass und ein nervöses Zucken bewegte seine Lippen.
Dann wandte er sich den Leuten zu, um sie zu noch eifrigerer Tätigkeit anzuspornen. Da sah er, wie ein alter Mann sich matt auf seine Schaufel lehnte. Der Graf ging auf ihn zu, nahm ihm die Schaufel aus der Hand, indem er ihm ein paar freundliche Worte sagte, und begann selbst zu graben.
Das war der beste Ansporn und die Leute arbeiteten mit Aufbietung all ihrer Kräfte. Nur Andrikson schien zu erschlaffen. Immer häufiger und mit immer größerer Unruhe blickte er nach der Stelle, wo seine Magd wieder erscheinen musste. Endlich kam sie. Sie sah erhitzt und verstört aus.
»Die Kinder sind nicht zu Hause«, sagte sie leise, nachdem sie den Grafen gegrüßt hatte und zu Andrikson getreten war.
»Nicht?«, schrie dieser auf. »Meine Kinder! Meine Kinder!«
»Was gibt's da?« fragte der Graf, und jemand erzählte ihm den Sachverhalt.
Der Graf trat auf Andrikson zu.
»Sie vermissen Ihre Kinder, lieber Andrikson?«, fragte er.
»Ja, gnädiger Herr«, antwortete der Wirt, sich mühsam beherrschend. »Heute Morgen sind sie hergekommen, um Beeren zu suchen. Und jetzt sind sie noch nicht zu Hause. In der Lichtung wuchsen allerlei Beeren.«
»Sie meinen doch nicht … nein, Andrikson, Sie dürfen nicht gleich das Schlimmste denken. Den Kindern ist sicherlich gar nichts geschehen.«
»Aber dann müsste sie doch jemand gesehen haben.«
»Das ist doch nicht notwendig. Sie können tiefer in den Wald hineingegangen sein … Wie alt sind Ihre Kinder?«
»Der Älteste ist soeben zehn geworden.«
»Na, sehen Sie. Zehn Jahre. Dann ist Ihr Junge doch schon ein strammer Bengel. Der wird dem Feuer aus dem Wege zu gehen gewusst haben. Nein, nein, beruhigen Sie sich nur, Andrikson, den Kindern wird gewiss nichts geschehen sein.«
»Ich möchte das so gerne glauben. Aber … aber … Gestatten mir der gnädige Herr Graf, dass ich suchen gehe. Ich kann nicht weiterarbeiten, bevor ich weiß, wo die Kinder sind.«
»Gewiss, gewiss; gehen Sie, gehen Sie! Und wenn Sie wollen, nehmen Sie noch jemand mit!«, versetzte gütig der Graf.
»Nein, Herr Graf,, ich werde schon allein …«
Andrikson übergab seine Schaufel der Magd und ging. Als er sich allein sah, war es ihm, als müsste er die Namen seiner Kinder laut in den Wald hinausschreien. Aber er hielt an sich, denn er schämte sich, gehört zu werden. Stumm irrte er umher, und erst als er weit weg war, rief er mit halber Stimme einmal über das andere: »Jahnit! Kahrlit! Jahnit! Jahnit!«
Aber es kam keine Antwort.
Nach langem vergeblichem Suchen wandte sich Andrikson wieder dem Aushau zu. Unterwegs begegnete er wiederholt Personen, die zum Löschen herbeigeeilt kamen. Er fragte sie alle, ob sie nicht ein paar Kinder gesehen hätten, erhielt aber immer ein Nein zur Antwort. Er hörte großen Lärm in der Gegend, wo der Graben gezogen wurde und schloss daraus, dass bereits viele Menschen zusammengekommen sein mussten. Der Forst würde also wahrscheinlich gerettet werden. Aber was lag jetzt mehr daran! Er ging weiter und gelangte an die lange brennende Linie, die sich mit unverminderter Schnelligkeit vorschob. Andrikson umschritt sie und betrat den ausgebrannten Teil des Forstes. Die Unterlippe fest zwischen die Zähne gepresst, die Schultern ein wenig emporgehoben, als fürchte er jeden Augenblick von irgendwoher einen Schlag, schlich er zwischen den geschwärzten Stämmen dahin. Gleich einem rötlich-braunen, verworrenen Netz breiteten sich über ihm die kahlen Äste aus. Von weitem glänzte der See und sah fremd und unheimlich aus mit seiner bläulichen Mitte und den dunklen Rändern, von denen missfarbene Streifen, die verzerrten Spiegelbilder der Fichten, sich weit in das Blau hineinmischten. Es wurde stiller und stiller, und schließlich umgab Andrikson die feierliche Ruhe eines Friedhofes. Die Sonne hatte sich bereits tief geneigt und eine seltsame Dämmerung erfüllte den Wald. Hier und da stieg noch ein dünner Rauchfaden schräg in die Luft, flammte noch, gleichsam aus sich selbst die Flamme erzeugend, ein vereinzelt stehengebliebener Himbeerstrauch auf. In Zwischenräumen tönte irgendein gedämpfter Laut von den Brandstätten herüber, die Stille und die Ruhe nur noch mehr vertiefend. Wie unter einer Last schleppte sich Andrikson weiter. Am Rande der Lichtung brach er zusammen und weinte.
Sterben, sterben! …
Die Sonne sandte ihre schrägsten Strahlen durch den Forst, dann erlosch sie.
Andrikson raffte sich auf. Noch einmal nach Haus, noch einmal nachsehen, ob die Kinder nicht zu Hause waren!
Langsam schreitend erreichte er das Gesinde.
Da saß seine junge Frau am Wege und starrte ihn ah. Erstarrte sie an. Dann begann sie zu schreien.
»Tot! tot!«, rief sie. »Hast du sie gefunden? O, meine Kinder, meine Kinder, meine Kinder!«
Der Wirt erzählte, dass er vergeblich nach ihnen gesucht habe.
»Dann werde ich sie finden«, jammerte die Wirtin. »Ich werde ihre verbrannten Knöchlein finden. Ach, meine Kinder, meine Söhnchen!«
Sie ging ins Haus, wo sie bereits alles vollständig beschickt und wohlverwahrt hatte und gab dem Hütermädchen und dem Jungen, die jetzt ganz allein daheim bleiben sollten, einige Anordnungen.
Dann gingen sie hinaus in die Dämmerung, die Wirtin voran, der Wirt hinterher. Von Zeit zu Zeit fragte sie, ohne den Kopf zu wenden, nach den Einzelheiten des Brandes, aber ersichtlich nicht aus Interesse an demselben, sondern mit einer deutlichen Beziehung auf die Kinder. Endlich sagte sie:
»Die Hitze hat sie in den See getrieben. Sie werden ertrunken sein.«
Nun sprach sie weiter kein Wort und nahm, als sie am Wege eine mannshohe Stange fand, dieselbe auf die Schulter. Andrikson ließ sie das Holz tragen. Er fühlte sich selbst zu matt dazu. Es war ihm übrigens auch alles gleichgültig. Wenn die Kinder tot waren, so war es einerlei, wo sie lagen und ob sie gefunden wurden oder nicht. Mochte die Frau suchen.
An der Spitze des Sees angekommen, blieb Andrikson stehen. Ein Schauder erfasste ihn beim Anblick des dunklen Wassers. Die Wirtin dagegen begann, ohne zu zögern, die Seebucht mit der Stange, so tief diese reichte, sorgfältig zu untersuchen. Langsam drang sie vorwärts, langsam, wie hypnotisiert, folgte ihr der Wirt. Endlich, nach stundenlangem Suchen hob die Frau etwas Unförmliches über den Wasserspiegel. Andrikson fühlte, wie ihn ein Schwindel erfasste und sich ihm eine Ohnmacht näherte. Da ließ die Frau die Stange zurücksinken und suchte weiter.
Andrikson wandte sich ab. Er konnte nicht länger zusehen. Ohne ein Wort zu sagen, ging er davon. Wie ein Betrunkener wandelte er zwischen den schwarzen Stämmen dahin. Es war ihm, als ob eine eiserne Faust sein Herz gefasst hielte und es unbarmherzig fester und fester zusammenpresste. Er stöhnte. Er konnte nichts anderes mehr denken, als das eine und immer wieder das eine: »Vorbei, alles vorbei!«
Er ging und ging und ging, blieb stehen, lehnte sich an einen Stamm, starrte lange Zeit vor sich hin und ging wieder. Er wusste nicht, wie lange er so zweck- und sinnlos umhergestreift war, als er sich wieder in der Nähe des Feuers befand. Es sah herrlich aus, wie die Flammen an den Bäumen emporloderten und wie dann Myriaden Funken nach allen Seiten herniederstoben. Der Brand machte den Eindruck eines Riesenfeuerwerks, angezündet zur frohen Augenweide und Belustigung. Aber war es denn auch nicht so? Johlten und sangen da hinten nicht fröhliche Menschen? Andrikson horchte und lenkte dann unwillkürlich seine Schritte dem Lärm zu. Nein, sein Ohr hatte ihn nicht getäuscht. Nach einer Weile gelangte er an eine lange Schneise und einen in gleicher Richtung sich hinziehenden, frisch ausgeworfenen Graben, längs welchem Wachtpatrouillen hin und her gingen. Der Forst war gerettet. Andrikson dachte das, aber nicht das leiseste Gefühl froher Genugtuung überkam ihn. Wäre es nicht besser gewesen, wenn der Forst vernichtet worden wäre? Und mit dem Forst sein Gesinde? Und sein Weib, das da in dem schwarzen Wasser umhersuchte und er selbst – sollte er sich nicht erhängen? Vielleicht war es das Beste, aber er hatte noch Zeit, zu überlegen.
Andrikson wollte weitergehen, als ihn eine der Wachen anrief:
»He, du! Gehst du schon nach Hause?«
Der Wirt hatte keine Lust zu antworten und schwieg.
Aber der Mann schrie nochmals:
»Gehst du schon nach Hause?«
»Nein«, sagte Andrikson.
»Aus welchem Gesinde bist du?« fragte die Wache, offenbar in der Absicht, ein Gespräch anzuknüpfen.
»Aus dem Klauzen.«
»So. Ah! Hast du den Wirten nicht gesehen?«
»Ich bin es selbst.«
»So, so. Der Graf sucht dich. Geh doch hin. Dort zu dem großen Feuer.«
»Der Graf? Was will der Graf?«
»Er hat da ein paar Kinder.«
»Kinder? Meine Kinder?«
»Deine – ich weiß nicht wessen.«
Andrikson stürmte davon. In wenigen Minuten hatte er das Feuer erreicht, um das eine große Menschenmenge versammelt war, Butterbrote aß und Schnaps und Bier trank. Abseits von der Menge brannte ein kleineres Feuer. An diesem saßen der Graf, der Förster, der Verwalter und standen seine beiden Buben.
Unversehrt.
Mit wankenden Knien näherte sich Andrikson der Gruppe.
Der Graf sprang auf, sobald er den Wirten erblickte.
»Da sind Sie also endlich, Andrikson«, rief er fröhlich. »Nun, sagte ich nicht, dass die Bengels viel zu vernünftig sind, um sich verbrennen zu lassen? Bloß verirrt haben sie sich gehabt. Das Unglück passiert aber nicht nur kleinen Leuten. Nun, ich habe sie glücklich gefunden und bin froh, dass meine Hand sie Ihnen wieder zuführt. Nehmen Sie sie und bringen Sie die Kinder schnell nach Hause, damit sich Ihre Wirtin nicht weiter unnütz ängstigt.«
Lächelnd trat der Graf mit den Knaben auf Andrikson zu, und diesem war es, als ob er sein Leben aus den Händen des Grafen zurückempfange. Dumpf aufschluchzend, mit der Linken den Hals des Ältesten umfassend, sank er vor dem Grafen nieder.
»Mein Junge … Herr Graf … Mein Junge …«
Er presste die Kinder an sich und griff dann nach der Hand des Grafen.
»Herr Graf … Herr Graf …«
»Nein, nein, nein, Andrikson. Wenn Sie mir danken wollen – nein, danken Sie nicht. Ich habe nichts getan, das Ihren Dank verdient«, wehrte der Graf ab.
»Nein, gnädiger Herr, Sie wissen ja nicht … Sie geben mir meine Kinder wieder, und ich … und ich …«
Er verstummte.
Aber das Übermaß seligsten Gefühls duldete keine Beschränkung durch den Verstand, an nichts mehr gebunden, ganz frei sein wollte seine Seele, frei und erlöst von dem schweren Geheimnis seiner Tat, die zu sühnen in diesem Augenblick ihm als ein Genuss erschien. Und stammelnd drängten sich ihm wieder die Worte über die Lippen.
»Und ich … und ich … schlagen Sie mich, Herr Graf, schlagen Sie mich …«
»Fassen Sie sich doch, Andrikson, fassen Sie sich, lieber Andrikson«, sagte der Graf und legte ihm die Hand beruhigend auf die Schulter.
»Nicht, nicht – schlag mich, ich … ah … ich … Hund!«
»Was?«
Sie sahen sich an. Der Graf fuhr zurück.
»Ich bin … ich habe …«
»Andrikson!«, schrie der Graf auf, fasste sich schnell und wiederholte schmerzlich: »Andrikson, Andrikson!«