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Der rote Reiter

Ein Duft, der an Weihnachten gemahnte, zog durch die Schule. Selbst im Vorraum konnte man riechen, dass Dielen gewaschen und Weizenkuchen gebacken waren und dass der Tannenbaum bereits im Hause stand.

Ich war mit meiner Arbeit noch nicht zu Ende. Die Gebietskasse hatte für den Weihnachtsbaum einige Rubel gespendet, wir beide hatten ebenfalls ein wenig in unsere Taschen gegriffen, und nun war es meine Aufgabe, die gekauften Sachen und das Naschwerk in dreiundvierzig Teile zu teilen und sie nach Nummern auf einen großen Tisch zu ordnen. Da das Geld nicht gelangt hatte, um für alle Bücher und dergleichen größere Geschenke anzuschaffen, so verlegte ich diese aufs Geratewohl da und dort unter verschiedenen Nummern über den ganzen Tisch hin: Während der Baum brannte, sollten die Kinder losen. Um keine Ungerechtigkeit zu begehen, hatte mein Bruder das Verteilen der Gaben dem Zufall überlassen.

Als die Kerzen angezündet waren, stand ich eine kleine Weile vor dem strahlenden Baume und zog den Duft ein, der von einem brennenden Zweiglein ausströmte. Herrgott, welch eine Fülle lebendiger Poesie steckte doch in diesem Geknister und in diesen schmalen Fädchen blauen Rauches. Mit Blitzesschnelle eilte an mir eine ganze Reihe von Weihnachtsabenden vorüber … »Soll ich sie hereinrufen?« fragte der Bruder. »Ja, alles ist fertig.«

Er öffnete die Tür, der Lärm verstummte und mit feierlichem Geflüster traten die Kinder zögernd in den Saal und stellten sich in der Tiefe desselben auf. Einige ihrer Angehörigen blieben an der Tür stehen. Während die Kinder sangen und Gedichte vortrugen, stand ich neben dem Tisch mit der Bescherung und prüfte ihre Gesichter. Mir schien, als ob sie alle zu wenig Sonne, zu wenig Licht, zu wenig Freude gehabt hätten. Selbst die Gesichter der Wirtskinder waren blass und ungesund. Ich habe mir immer das Bauernleben als das beinahe Vollkommenste vorgestellt, nun aber beim Schimmer von sechzig Kerzen sah ich plötzlich anders. Was mich so anzog, war die Natur selbst und nicht das Leben dieser Menschen, die halbblind mit ihrer blinden Mutter kämpften. Und diese Dürftigkeit, die sich in den Kleidern der Kinder offenbarte, und diese Geschmacklosigkeit und Unbeholfenheit bei den Mädchen der Wirte! Wahrhaftig, man konnte es deutlich sehen, dass sie noch nicht zwischen geweißten Wänden lebten! Der Schatten vollgeräucherter Stuben lag wie schmutzige Farbe auf ihren jugendlichen Gesichtern. Dennoch blitzten die Augen. Gierig tranken sie die Schönheit des heutigen Abends und wanderten hungrig vom bunten Baum zum bunten Tisch und blieben an dem Naschwerk und den geheimnisvollen Tüten haften. Ein großes Mädchen in einer Kattunjacke mit dreierlei Knöpfen und plumpen Rockträgern über der Jacke sah die braunen Pfefferkuchenmänner an und schluckte und schluckte … Mir wurde das Mädchen unangenehm und zugleich tat es mir leid.

Welch eine hässliche Gier, dachte ich, und wieder: Armes Kind, wieviel hast du nicht schon entbehrt, und wieviel wirst du noch entbehren müssen! Ich dachte daran, dass wir noch einige Rubel mehr hätten spenden sollen, und dann stieß mein Blick auch auf ein kleines Jüngelchen, das, wahrscheinlich auf den Zehen stehend, seinen Kopf hinter den anderen Schülern von Zeit zu Zeit vorstreckte, um auch etwas von der Herrlichkeit zu erblicken.

+++

Ich winkte den größeren, dass sie Platz machen sollten, und nach vorn kam mein Bübchen in weißen Pasteln und Höschen, die für ihn zu lang und darum in dicken Falten nach unten gesunken waren. Aber die Weste stand ihm wie einem Junker, und um den Hals hatte er ein Tüchlein mit blassen Heiderosen. Erfuhr mit der Hand verwirrt über sein kurzgeschorenes Haar und begann dann die Geschenke auf dem Tische zu mustern.

Ganz in der Mitte stand ein roter Reiter mit weißer Zuckerschrift und goldenem Hut … ein süßer, schöner Kerl … Ich bemerkte, wie sich dem Reiter das Wohlwollen meines Bübchens zuwandte … Die Verlosung begann. Ich hielt die Lose in einer großen Mütze, und mein Bruder rief die Namen der Kinder nach einem Verzeichnis ab. Eines nach dem andern kam, zog sein Los und nahm seinen Gewinn an sich. Die Walnüsse begannen in der Saalecke zu krachen, und der Lärm wuchs. Die Bleistifte, Hefte, Bilder und Märchenbücher verschwanden vom Tisch, bloß der rote Reiter stand noch da. »Wer weiß, wem der zufallen wird?«, hörte ich in einer Ecke flüstern, und: »Wer den wohl kriegen wird?«, flüsterte es in der andern. Der Reiter hatte die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, selbst die Erwachsenen fingen an, sich für ihn zu interessieren. Das Häuflein der Unbeschenkten wurde immer kleiner, zuletzt blieben nur noch drei große Jungen und mein Bübchen nach.

Wer weiß, wer nun wohl den Reiter kriegen wird? Ich wünschte, dass ihn mein Hosenmännchen bekäme. Der stand da, ballte die Händchen, und blickte, ohne mit den Wimpern zu zucken, nach dem hartnäckigen Kerl hin. »Bei Gott, der Sihlit wird ihn kriegen!«, rief ein Mädchen laut irgendwo im Hintergrunde aus. Dieses plötzliche Hervorbrechen einer lauten Stimme aus dem Gesumme überraschte, und wir alle verstummten einen Augenblick. Das Gesicht meines Bübchens aber überflog ein leichtes Rot, und er holte tief Atem. Er war bis zum Halse voll von dem heißesten Verlangen nach dem roten Reiter. Ich fühlte es, dass sein kleines Herz bebte, aber er stand da wie ein Mann und erwartete sein Schicksal. Endlich wandte sich der Bruder auch an ihn. »Nun, Eltsar«, sagte er, »greifet nun beide mit Blulens als Letzte zugleich in die Mütze … Du bekommst ja den Reiter«, fügte er noch scherzend hinzu und beugte sich zu ihm hinab. Mit Siegermiene ergriff er das zusammengerollte Papier und zog bloß fünf Walnüsse, einiges Konfekt und einen Apfel heraus. Den Reiter ritt der große Blulens davon. Mein Bübchen war wie niedergeschmettert. Matt schleppte er sich in eine Ecke. In mir wallte es auf! Wie hässlich! Weshalb war dem Kleinen die Freude verdorben worden! Elender Zufall, der selbst unter dem Weihnachtsbaum sein tückisches Wesen bewahrte! »Nichts?«, rief unsere Mutter in bedauerndem Ton aus. »Ach … der arme Kleine.« Das fehlte gerade noch. Das Kind, das in seinem Schmerz und seiner Scham nicht wusste, an wen es sich schmiegen sollte, hielt nicht länger an sich, sondern folgte der freundlichen Lockung und befreite sich von dem Übermaß seines Gefühls, indem es heftig zu weinen begann. Unsere Mutter wollte dem furchtbaren Kummer ein Pflaster auflegen und stopfte dem Bübchen die Tasche mit Pfeffernüssen und anderem Naschwerk voll. Das half jedoch nichts. Heftig schluchzend und sich dessen schämend ging der Knabe hinaus.

Als die Kinder später beim Klange einer Violine oben in der Klasse zu tanzen begannen, bemerkte ich mein Bübchen nicht unter ihnen. Nachdem ich mich nach ihm vergebens umgeschaut, nahm ich einige Äpfel und ging in das Schlafzimmer der Mädchen hinunter. Richtig – da lag er in einem schmalen Bettchen und blickte mich mit halb ängstlichen, halb verschämten Augen an. Ich stellte das Licht auf das nebenstehende Bett, setzte mich zu dem Knaben und legte die Äpfel auf die Decke. Nach einer Weile zog der Kleine die Hand unter der Decke hervor und begann mit einem Apfel zaghaft zu spielen. Er hatte solch ein schmales, mageres Händchen, und indem ich es anblickte, wurde mir schwer und weh ums Herz. Über unseren Köpfen dröhnte die Diele und war das Kratzen der Füße vernehmbar. Dieser dumpfe Lärm schien alle Einsamkeit aufzuschrecken, die in den dunklen Ecken des Saales schlief. Ich fühlte mich mit diesem Kinde unendlich verlassen. »Iss!« sagte ich, und der Kleine begann langsam Stück um Stück von dem Apfel abzubeißen. »Und dann komm nach oben zu den andern.« »Nein, ich gehe nicht.« »Weshalb nicht?« »Ich … ich will nicht …« Das zarte Gemüt hatte noch immer nicht die Scham, die das Unglück neben dem Schmerz mit sich bringt, verwunden. Ich ergriff das magere Händchen und streichelte es. Ich weiß nicht, weshalb mir das Bübchen so sehr gefiel: ob deshalb, weil es so schwach war und ich wusste, dass sein Schicksal von ihm Kraft verlangte? War es das Tier in mir, das, in weiter Zukunft eine Katastrophe voraussehend, die Lust an derselben jetzt schon heimlich auskostete? Oder fesselte meine angeborene und jetzt durch den Heiligen Abend aufgeregte Gefühlsseligkeit mich an dieses Bettchen? … Der kleine Eltsar hatte einen Pfefferkuchen nicht bekommen, und dieses ging mir so sehr zu Herzen. Ja, hatte denn nicht auch ich unterm Tannenbaum gestanden, und hatte mir nicht ein ähnlicher grober Zufall die Festfreude verdorben? Empfand ich ihn als meinen Schicksalsgenossen? … Ich beugte mich tiefer hinab und blickte dem Kleinen in die Augen. Er sah mich an und lächelte dann. Zwischen seinen weißen Zähnen strömte mir sein Atem entgegen – ein gesunder Atem, der nach Äpfeln duftete. Ich wollte das Jungchen küssen. Jedoch ich tat es nicht, strich liebkosend mit der Hand über seine Stirn, ergriff das Licht und ließ ihn im Dunkeln allein.


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