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Erinnerungen an das Ehepaar Gabillon und an Amalie Haizinger.

Von Auguste Wilbrandt-Baudius.

Das Ehepaar Gabillon.

Der französische Schriftsteller Prosper Mérimée nach dem Anhören der gewichtigsten historischen Erzählungen immer nur gesagt haben: »Von alledem interessiert mich nur – die Anekdote!« Ich fühle ihm das nach. Und so geniere ich mich also viel weniger, mit den kleinen Spitzbuben, den Anekdoten, herauszurücken. Sie umdrängen einen, wie die Kinder ihre Mutter umdrängen, und schreien oft ins ernste Gespräch hinein: »Mich auch! Mich auch reden lassen!«

Und warum soll man sie nicht reden lassen? Gibt man nicht durch die Anekdote ein Momentbild, das oft überzeugender wirkt als die längsten Erläuterungen?

So zum Beispiel: Es war in den Sechzigerjahren. Wir hatten Probe von dem Laubeschen Lustspiel »Gottsched und Gellert«. Der Darsteller des Gottsched (Förster) war unpäßlich. Statt seiner spielte unser Direktor Laube die Rolle. Das tat er gern und tat es ausgezeichnet. Es war immer ein Genuß, ihn bei solcher Gelegenheit zu sehen. Er war also ganz bei der Sache und spielte höchst ergötzlich die Angst und Verlegenheit des Professors Gottsched. Dann im letzten Akt wird die Situation gefährlich, durch Gottscheds Schuld. Ich erinnere mich nur, daß plötzlich in wilder Aufregung gerufen wird: »Die Preußen rücken ein!« und daß alle auf der Bühne in größter Angst sind. Da erscheint, wie eine Lichtgestalt, Prinz Heinrich, der Bruder des Königs. Er wurde von Ludwig Gabillon gespielt. Frau Professor Gottsched aber? Diese Rolle hatte Laube der Frau Zerline Gabillon geben müssen, unserer geistreichen, treffsichersten Schauspielerin. Geben müssen? Ja, war er, als Direktor und Dichter, denn nicht froh, eine wichtige Rolle so gut besetzen zu können? …

Nein, doch nicht. Die Wege des Herrn sind unergründlich. Dem Direktor waren all die Eigenschaften eines überlegenen, sogar kritischen Frauengeistes meist störend. Es war öfters zu Zungengefechten zwischen Laube-Benedikt und Zerline-Beatrice gekommen, bei denen Frau Zerline das letzte Wort behalten hatte. Und nun hatte der Dichter Laube vom Direktor Laube verlangen müssen: Überwinde deinen alten Groll, gib für dieses Stück deine geistreichste Schauspielerin her.

Und jetzt, auf dieser »Gottsched und Gellert«-Probe mußte gar noch der Direktor ganz demütig zuhören (denn er spielte ja, wie gesagt, für den unpäßlichen Förster diesmal den Professor Gottsched), wie ihm Prinz Heinrich-Gabillon eine lange Lobrede auf Frau Professor Gottsched hält. Eine Lobrede, worin er zufällig alle die trefflichen Gaben nennt, welche Zerline Gabillon im Leben auszeichneten: Klugheit, Geist, Überlegenheit und – Unerschrockenheit …

Man denke sich dieses Momentbild. Gabillon-Prinz Heinrich in der Mitte, alle überragend, zu seiner Rechten Frau Gabillon-Gottsched und in der Ecke der kleine Laube, mit Feuereifer seine Gottsched-Rolle spielend, und demgemäß hilflos – beschämt zum Prinzen Heinrich aufblickend, der ihn streng tadelt. (Weil er die Frau schlecht behandelt hat.) Und nun schließt Gabillon mit folgenden Worten: »Seien Sie dieser Frau dankbar. Sie hat uns alle vor großer Gefahr bewahrt. Und – schätzen Sie diese Perle nach Verdienst!«

Einen Moment bange Pause. Es zuckt um jeden Mund – da bricht Laube in Lachen aus. Sonnenthal – ist fertig. Kann nur noch lachen, nicht mehr reden. Und wir alle, als wir Frau Zerline, hold errötend, an ihres Direktors Schulter ruhen sahen – denn Gabillon hatte sie zu ihm geführt – wir alle freuten uns des verrückten Humors dieser Stunde. Wir dachten wohl alle: wenn sie doch jetzt sich versöhnen wollten!

Auch der ritterliche Gabillon, der soeben seine Frau wieder einmal hatte beschützen dürfen (diese ritterlichen Rollen waren wie für ihn geschrieben), er hatte vielleicht einen ähnlichen Gedanken. Sein grundgütiges Gesicht leuchtete – doch nur einen Moment. Sofort war er wieder in seiner Rolle. Ein verbindliches Lächeln, ein Achselzucken gegen seinen Direktor hin, das wohl sagen sollte: »Pardon, ich mußte die Worte meiner Rolle sagen, die der Dichter Laube geschrieben hat.« Mir aber schoß es durch den Kopf: »Frau Zerline, sehen Sie doch: Laube entdeckt Sie ja plötzlich, er schaut Sie verklärt an, wie Petruchio sein gezähmtes Käthchen anschaut. Jetzt nur einen freundlichen Blick, ein Lächeln! Man sieht's ihm ja an, er wartet darauf! Er liebt ja die guten Ausgänge, sogar bei Trauerspielen.« Ich schaute herum und ich schämte mich fast dieser meiner Wünsche. Die da standen, sie waren nun wieder ganz in ihren Rollen, nachdem der Lachausbruch vorüber war. Vor allem Laroche-Gellert. Sein Gesicht war undurchdringlich. Ich weiß aber, daß dieser große Künstler – übrigens auch ein von Laube vielfach Verkannter – stark war im Beharren, in vornehmer Ablehnung von solchen Versöhnungen, die nicht aus der inneren Überzeugung kommen. Ich fühlte wieder einmal so recht, als jüngstes Kind des Hauses: Ja, ich bin hier in einer großen, alten Familie. Aber es ist eine vornehme, eine ihrer Würde bewußte, stolze Familie.

Amalie Haizinger.

Die schöne Sechzigjährige hatte als Zwanzigjährige sogar die Bewunderung von Goethe erregt. Sie war die jüngste »Alte«, die ich je gekannt habe: Amalie Haizinger. Sie ging mit dem Jahrhundert. Aber als sie im Hochsommer 1860 zu uns nach Berlin kam, da trug sie, die eben erst am 6. Mai sechzig Jahre alt geworden, doch schon ihre große Matronenhaube mit der blendend weißen Tüllrüsche und den schweren Seidenbändern. Sie gab sich ganz als Matrone, trotz ihrer inneren Jugend und ihres durch und durch mit Theaterblut getränkten Wesens. Und auch die Schnupftabaksdose hielt sie oft in der feinen, gepflegten Hand. »Des isch gut für die Auge,« meinte sie, »und es macht den Kopf schön klar.« Und so saß sie gemütlich unter uns während der Proben zu »Ein Kind des Glücks«, ihren weißen Strickstrumpf in der Hand, den sie nur auf Minuten weglegte, wenn sie den »Herren Kollegen« ein Prischen anbot aus ihrer Schnupftabaksdose. Diese waren alle verliebt in die Sechzigjährige, ebenso die Kolleginnen; und nun gar voll Anbetung waren wir Jungen und Jüngsten.

Auf den Proben hatten sich damals immer Gruppen um sie gebildet, die ihrem herzigen Plaudern lauschten. Wenn dann der Inspizient kam, sie abzurufen, so hatte sie draußen einfach ihre Szene probiert und absolut nichts von den Mitspielenden gefordert; nie gesagt: »Diese Nuance mache ich, diese Unterstützung fordere ich, dies und das bitte ich, sich zu merken«, wie es etwa Virtuosen tun würden. Sie hatte nur genau so gespielt, wie sie die Rolle am Abend spielte, voll Wärme und Humor, so daß sie uns Schauspieler alle mitgerissen hatte. Ohne Worte hatte sie uns gesagt, was sie wollte. Nach ihrer Szene kam sie dann gleich wieder ins Künstlerzimmer, nahm ihren Strickstrumpf wieder auf, und ich höre sie noch sagen: »Ja, wo waren wir denn unterbrochen worden beim Schwätze? … ja, richtig, bei mei'm Toni seine Pferd' …«

Sie erzählte uns von ihrem Sohne, ihrem Toni, dem jungen Kavallerieoffizier in Wien, dem Adjutanten des großen Radetzky. Von seinen Pferden und … das ist doch ganz merkwürdig: wie oft so ein Viech krank ist! Es ist kaum zu glauben! Der Toni schreibt's ihr immer gleich! Und sie – jetzt eben hätte sie ihm geantwortet: von dem Breslauer Gastspielhonorar wolle sie die Doktorrechnungen zahlen. »Nein, was so ein Viech koscht!« schloß sie ihre Rede unter großem Gelächter … Und daß ihr Toni die Stimme von seinem Vater geerbt habe und so wunderschön singt.

Wenn man so erzählt, könnte es aussehen, als sei dieses gemütliche Schwätzen mit den Breslauer Kollegen nur so eine Art Leutseligkeit gewesen, um sich beliebt zu machen. Nein, es war mehr: es war die Freude am Glücklichmachen, die Höflichkeit des Herzens. »Diese Menschen, die für mein Gastspiel vielleicht des Nachts haben rasch lernen müssen, denen will ich mich dankbar zeigen«, dachte sie wohl. Und wenn sie nun von allem Möglichen sprach, nur nicht davon, wie wir sie unterstützen sollten, so tat sie dem schwerarbeitenden Personal damit eine Wohltat: Breslau hatte damals nur das eine Theater, aber es war ein Jahrestheater. Nicht ein Tag war geschlossen. Das Personal war nicht groß, es kamen viele Gäste im Sommer und es mußte tüchtig gearbeitet werden.

Also gönnen wir den müden Künstlern des Stadttheaters diesen Sonnenschein, dieses Lerchengezwitscher! Hören wir, lauschen wir ein klein bißchen, wenn sie ihren Kollegen aus ihren Erinnerungen erzählt:

Sie war als ganz junges Frauchen (sie hieß damals noch Frau Neumann, war aber schon eine Berühmtheit) eingeladen worden, am Hoftheater zu gastieren, und zwar als Emmeline in »Die Schweizerfamilie«. Dort lebte noch als Pensionierte eine alte Parze, eine frühere Berühmtheit. Besonders aber – o Schicksal – war diese noch in bestem Andenken als Emmeline in »Die Schweizerfamilie«. So was Herrliches je wieder gehört zu haben wie den Gesang und das Spiel unserer Milder – konnten sich die ältesten Leute nicht mehr erinnern. (Diese ältesten Leute, die sich ja überhaupt nie mehr an etwas erinnern können, was ihnen nicht paßt.) Also: die junge Emilie macht der alten, früheren Emmeline Visite.

Die Milder ( ungnädig, die Junge mit ihrer Lorgnette musternd). »Sie wünschen? Womit kann ich dienen?«

Amalie. »Möcht' mir nur erlauben, meine Aufwartung zu machen …«

Die Milder. »Mir? Hm! Viel Ehre, Madame Neumann.«

Amalie. »Ja, Ihnen, der unvergeßlichen Emmeline in ›Die Schweizerfamilie‹.«

Die Milder. »Hm! Mir? Warum denn gerade mir?«

Amalie. »Weil ich Sie bitten möchte … um Ihren Besuch im Theater und um Ihr gütiges Urteil über meine Em …«

Die Milder. »O nein!«

Amalie. »Nicht? Sie kommen nicht ins Theater?«

Die Milder ( immer eisiger). »O nein!«

Amalie. »Nicht?«

Die Milder. »Nein, nein, nein! … denn: ich will mir den Eindruck nicht verderben, den in dieser Rolle … eine gewisse Milder auf mich gemacht hat.«

*

Der zweite Mann unserer Haizinger, eben der, von dem ihr Toni die schöne Stimme geerbt hatte, lebte damals in Karlsruhe als Tenorist. Sobald er seine Pensionszeit erreicht hat, möchte er dann nach Wien übersiedeln. Einstweilen besuchen sie sich gegenseitig in ihren Ferien.

Da hatte ihr nun jemand aus Karlsruhe geschrieben, ihr Mann, ihr Haizinger – der habe gar eine Leidenschaft gefaßt … für seine Wirtschafterin! … Bald darauf begannen die Burgtheaterferien und Frau Haizinger reiste nach Karlsruhe, wie alljährlich.

»Aber ich hab' natürlich wieder mal den falschen Zug erwischt,« so erzählte sie uns, »komm' also in aller Gottesfrüh' dort an … im Häusche von mei'm Mann alles in tiefem Schlaf … Ich rufe, ich klopfe … alles still. Endlich tut sich oben ein Fenster auf, es erscheint eine wüschte Person … ungekämmte Haare, in einer großen Haube … die schreit: »Sie da unne – was kloppe Sie denn – was wolle Sie denn …«

Ich hab' ihr kein Wort geantwortet. Hab' nur hinaufgerufen: »O mein Haizinger, du bischt unschuldig!«


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