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Charlotte Wolter


Charlotte Wolter, verwitwete Gräfin O'Sullivan, k. u. k. Hofschauspielerin am Burgtheater; geboren am 1. März 1834 in Köln am Rhein, gestorben am 14. Juni 1897 in Wien.


Die größte deutsche Tragödin ihrer Zeit hat aus ungemein ärmlichen und traurigen Verhältnissen sich emporgearbeitet; ihre Wiege soll in der Werkstatt eines mit Kindern reicher, als mit Glücksgütern gesegneten Schneiders gestanden haben. Wie die schwer nachzuprüfende Fama weiter meldet, soll sie als Zehnjährige zufällig in das Theater ihrer Vaterstadt gekommen sein, beim Vorübergehen vom Ballettmeister halb im Scherz aufgefordert, mitzustatieren. Von Stund an ließ sie der Kulissenzauber nicht mehr los. Mit 16 Jahren ging sie abenteuerlustig in die weite Welt. Ihre erste Lehrerin, eine sonst wenig bekannte Burgschauspielerin Frau Gottdank in Wien, richtete ihr Augenmerk insbesondere auf schöne Plastik der Bewegungen. Ihr erstes belangreicheres Auftreten fand am 25. Mai 1857 in Ofen statt, wo sie am Deutschen Festungstheater die Jane Eyre gab. Der Direktor stellte bald darauf die Zahlungen ein. Die Gesellschaft wagte sich notgedrungen auf Wanderfahrten, die unter anderem nach Stuhlweißenburg führten. Diese Schmierenwirtschaft brachte der jungen Wolter nur Demütigungen und Enttäuschungen. Sie mußte ihre geringen Habseligkeiten verpfänden. Gleichwohl sollte sie im Straßenkleid die »Jungfrau von Orleans« darstellen, und als sie Miene machte, sich zu weigern, ließ sie der Stuhlrichter durch bewaffnete Panduren auf die Bühne führen und zum Spiele zwingen. Am nächsten Morgen war sie verschwunden, durchgegangen. Eine Weile später tauchte sie wieder in Wien auf. Hier gönnte ihr Nestroy an dem dazumal von ihm geleiteten Carl-Theater gegen ein Monatsgehalt von fünfzig Gulden ein höchst bescheidenes Unterkommen für Anmelde- und Zofenrollen, die man ihr lediglich ihrer Schönheit willen anvertraute; sonst galt sie nicht nur für vollkommen talentlos, sie war das Stichblatt schnöder Späße für den Direktor und die Modesoubretten. »Ich gehörte zu jenen Personen,« so bekannte hernach Anna Grobecker, »die Charlotte Wolter gar kein Talent zutrauten. Ich sah sie zum erstenmal in der Rolle eines Kammermädchens in der »Liebschaft in Briefen« und fällte trotz ihrer bestechenden Erscheinung ein abfälliges Urteil. Daß sie dort nicht am Platze war, ahnte meine Weisheit damals nicht, und so konnte ich es nicht lassen, sie nach Herzenslust zu bekritteln. Sie trat meiner Meinung nach zu vornehm ein, geruhte einen Brief abzugeben, warf einen gelangweilten Blick in das Publikum und ging gravitätisch ab, als ob sie zwei Schleppträger hinter sich hätte. Mein Gott, dachte ich, der fehlt auch alles zur Kammerzofe. Unser Regisseur, der alte Papa Lang, gab mir auch vollständig Recht, als ich ihm sagte: »Fräulein Wolter ist zwar sehr schön, aber sie hat meiner Ansicht nach keinen Funken Talent!« Frau v. Wassowitsch, unsere Anstandsdame und eine Lehrerin der Wolter, war außer sich über meine Äußerung und rief entrüstet: »Was, die Wolter hat kein Talent? Sie hat Talent und sogar ein bedeutendes, von dem die Welt noch einmal reden wird. Ihr werdet es sehen, sie wird nächstens in Brünn die Maria Stuart spielen«. »Na, das wird nett werden«, rief die Grobecker und der alte Praktikus Lang stimmte lachend mit ein. Unbeirrt durch solche Meinungen und Gegenmeinungen der Kameraden hatte der feine Kenner und Kritiker Rudolf Valdek dem verkannten Talente seinen Beistand angedeihen lassen. Im Herbst 1858 forderte ihn der Wiener Literat Kajetan Cerri auf, sich der Vielbespöttelten anzunehmen. Die Wolter war indessen Valdek selbst schon vorher ausgefallen, sowohl durch die angeborenen, außerordentlichen Naturgaben, wie durch die erstaunliche Unbeholfenheit im Gebrauch dieser elementaren Mittel der Darstellung. »Ein Kopf, dessen Profil die schönste Kamee würde abgegeben haben, eine mittelgroße Gestalt von bestem Gefüge, eine wohllautende Stimme und dabei die Schönheit wie verschleiert durch einen gleichsam unbeweglichen Ausdruck, der Gang vernachlässigt, Laut- und Satzbildung in hohem Grade mangelhaft. Was Wunder, wenn eine Erscheinung, wo die Natur so viel versprach und der Geist so wenig zu halten schien, mit Befremden bemerkt und ihr Name in nicht beneidenswerter Weise bekannt wurde. Dabei war dieses Fräulein Wolter nicht mehr in der ersten Jugendblüte, denn sie stand in der Mitte der Zwanziger. Sie war auch keine Anfängerin, denn seit wohl zehn Jahren gehörte sie der Bühne an. Im Carl-Theater trat sie nur selten und stets nur in unbedeutenden Rollen auf. Dagegen war sie jeden Abend im Zuschauerraum zu sehen. In der ersten Galerie, in der Mitte derselben, saß sie da und sah aufmerksam ihren Kollegen zu, die drunten Komödie spielten, wobei manchmal ein Zug von leisem Spott über ihre Lippen glitt.« Ein oder zwei Jahre waren in so unergiebiger Weise verstrichen, als ein Gastspiel Emil Devrients im Carl-Theater eine Wende im Leben der Wolter herbeiführte. »Aushilfsweise« hatte sie die Elisabeth in Richard III. zu übernehmen: »welch seltsame Verwandlung! Sie sprach zwar so schlecht, wie gewöhnlich, aber mit welchem Nachdruck. Wie edel war ihre Haltung, wie groß, frei und schön ihre Armbewegungen!« Es hieß, sie hätte damals die Aufmerksamkeit von Devrient erregt, wie ein ander Mal bei einem Gastspiel von Hendrichs in »Macbeth« ihre Hexe dem Berliner Heldenspieler Eindruck machte. Geholfen hätten ihr diese beiden Begegnungen wenig, wenn sie sich nicht beherzt entschlossen hätte, das Carl-Theater so schnell als möglich zu verlassen, fleißig an ihrer Ausbildung zu arbeiten, große Rollen zu lernen und vor allem die rechte Stätte für die Betätigung ihrer Kraft zu suchen. In diesen Tagen wurde Valdek mit ihr bekannt. Sie wohnte unweit der Leopoldstädter Kirche sehr bescheiden in der Jägerzeile. Außer einem halbdutzend tragischer Rollen (Adrienne Lecouvreur, Maria Stuart u. s. w.) lernte sie dazumal auch Französisch »mit eigentümlich gelassener Zuversicht und ohne von ihrer sonstigen Lebenslust was abzubrechen. Zu gute kam ihr, daß sie seit vielen Jahren mit der Bühne vertraut war. Sie wußte das Handwerk in der Kunst zu schätzen und mit taktfester Ausdauer auszuüben. Manchmal kam sie mir vor, wie eine junge Witwe, die wieder Braut geworden. Sie war Schauspielerin geworden und wollte es in höherem Sinne wieder werden.« Nun galt es vor allem, den damaligen Direktor des Burgtheaters, Laube, auf die Wolter aufmerksam zu machen. Es dauerte indessen noch geraume Zeit und bedurfte wiederholter Mahnungen, bis Laube Valdeks Wink beachtete. Als er die Wolter endlich, in einem Zofenröllchen, gesehen, sagte er Tags darauf zu Valdek: »Sie haben Recht. Sie ist eine bildschöne Person. Keine in unserem Burgtheater kann sich darin mit ihr messen. Auch scheint Talent in ihr zu stecken. Sagen Sie ihr, sie soll zu mir kommen.« Eine lange Unterredung mit der Wolter bestärkte Laube in seiner günstigen Ansicht. Nun hieß es weiter, ein Gastspiel auf einer fremden Bühne zu veranlassen, das Laube mitmachen wollte. Valdeks erste Bemühungen schlugen fehl; geradezu entrüstet schrieb ihm der Direktor des Breslauer Stadttheaters: »50 Gulden für ein Debüt? Ein solches Honorar würde vielleicht einer Frau Rettich zugestanden, niemals aber einer unbekannten Anfängerin, die höchstens umsonst auftreten dürfe.« »Umsonst« waren aber näher drei (der Wolter vom Maler Aigner vermittelte) Gastvorstellungen in Brünn zu haben. Als Vertrauensmann Laubes fuhr Valdek zu diesen Proberollen. Der Erfolg war echt und stark. Das Gastspiel wurde verlängert. Vergnügt berichtete Valdek so günstig, daß Laube beim damaligen Oberstkämmerer Grafen Lanckoronsky auf Grund dieses Gutachtens das Engagement der Wolter für das Burgtheater beantragte. Vergebens. Der hohe Herr geriet bei dem Ansinnen, die Hofbühne durch eine »Nichtberühmtheit« des Carl-Theaters zu behelligen, in drollige Entrüstung. Infolge dieser schroffen Abweisung mußte sich die Wolter nach Berlin wenden, wo sie am Viktoria-Theater, unter dem früheren Direktor der Wiener Hofoper, Cornet, auftreten sollte. Auch hier fehlte es zunächst nicht an Hemmungen. Ihre Debütrolle mußte abgesetzt werden, da der erste Liebhaber erklärte, mit »dieser Person« schlechterdings nicht auftreten zu wollen, das sei die »personifizierte Talentlosigkeit«. Am nächsten Tag fällt der hochnäsige Liebhaber durch, während die Wolter in der Neuigkeit des folgenden Abends gefiel. Sie spielt nun Rolle auf Rolle, singt einmal auch in einem Vaudeville, lernt eifrig unter dem wackeren Regisseur Hein und bei Frau Perroni-Glaßbrenner, und erregt größere Aufmerksamkeit in dem Schauspiel »Ninon de l'Enclos«. Infolgedessen rät Frau Perroni-Glaßbrenner der Wolter, den Generalintendanten v. Hülsen zu besuchen und sich um das nach Lina Fuhr erledigte Fach am Königlichen Schauspielhaus zu bewerben. Herr v. Hülsen empfängt die Unbekannte freundlich und verblüfft sie im Verlauf des Gespräches durch den plötzlichen Anruf: »Stehen Sie einmal auf«. Die Wolter meint, der Sessel sei schadhaft geworden oder dergleichen und erhebt sich eilig. Der frühere Gardeleutnant mustert sie einen Augenblick scharf, dann sagt er gemessenen Tones: »Ich kann Sie nicht engagieren; Sie sind mir zu klein; auch habe ich bereits Frau Kierschner in Betracht gezogen.« Auch einem anderen Theaterleiter flößte die Statur der Wolter ursprünglich Bedenken ein. Dingelstedt war von Weimar nach Berlin gekommen, um im Viktoria-Theater seine Bearbeitung von Shakespeares »Wintermärchen« zu überwachen. Als ihm für die Hermione die Wolter empfohlen wurde, sagte er verdrießlich zum Regisseur: »Die soll die Hermione spielen? Sie ist für diese Rolle um einen Kopf zu klein.« Ruhig erwiderte Hein: »Warten Sie nur! Nach der ersten Szene wird sie um zwei Köpfe größer erscheinen.« Hein behielt Recht. Die Hermione der Wolter wurde eine Berliner Sehenswürdigkeit. Chéri Maurice, der sie im Winter 1860/61 sah, engagierte sie auf diese Leistung hin sofort fest auf drei Jahre nach Hamburg, wo sie am 19. August 1861 zum erstenmal als Adrienne Lecouvreur mit durchgreifendem Erfolg auftrat; dann spielte sie nach Maurices Bericht »Die Waise aus Lowood«, »Deborah«, »Marie Anne, das Weib aus dem Volke«, vor allem aber die Hermione, die im Lauf einer Saison dreißigmal gegeben wurde. »Versuche, Charlotte im Lustspiel zu verwenden, wollten nicht recht gelingen. Die für die Tragödie prädestinierte Künstlerin konnte an meiner Bühne in dieser Gattung, welche meine Konzession verbot, – erst 1866 trat Theaterfreiheit ein –, das Feld wo später ihre schönsten Lorbeeren blühten, nicht finden«. Laube setzte nun alles daran, die Wolter am Burgtheater wenigstens gastieren zu lassen: im Juni 1861 trat sie als Adrienne Lecouvreur, Jane Eyre, in der »Waisen aus Lowood« und der »Rutland« in »Graf Essex« auf, vom Publikum sofort mit großer Wärme willkommen geheißen, in der Kritik von Friedrich Uhl in ihrer Bedeutung und Begabung für die Tragödie richtig erkannt: »Die Aussprache« – der geborenen Rheinländerin – »ist noch nicht genug dialektrein und manchmal wird der Effekt, der sich mit der Melodie der Sprache erreichen läßt, der bestimmten Umgrenzung des Wortes geopfert; allein wir haben nur wenig Schauspielerinnen die Adrienne so effektvoll in Haltung, Mimik und leidenschaftlicher Entwicklung, namentlich nicht den letzten Akt so einheitlich stark und wahr darstellen gesehen«. Neben so entschiedenem Lob fehlte auch mäkelnde Gegnerschaft nicht. Allein Laube zweifelte keinen Augenblick an der schöpferischen Kraft der Wolter und er wußte nun auch den ehedem so spröden Oberstkämmerer von dem Wert der aufstrebenden Größe für das Burgtheater zu überzeugen. Chéri Maurice, der bis dahin allen Bitten Dritter um Lösung des dreijährigen Kontraktes der Wolter Widerstand geleistet, ließ sich endlich durch die Tränen der Künstlerin rühren, sie vom 1. Juni 1862 ab freizugeben. Sie mußte sich nur verpflichten, drei Jahre nacheinander ein einmonatliches Gastspiel im Thaliatheater zu absolvieren. Ihre letzte Hamburger Rolle war gleich der ersten Adrienne Lecouvreur. Am 12. Juni 1862 erschien die Wolter in der Rolle der Iphigenie als Mitglied des Burgtheaters, dem sie fortan durch volle 35 Jahre angehörte: als Liebling aller Kunstfreunde, als die stärkste Stütze der Tragödie, in den Dichtungen der Klassiker von Sophokles bis auf Shakespeare, Racine, Lessing, Schiller, Goethe, ebenso außerordentlich wie in den neueren und neuesten Dramen von Grillparzer, Hebbel, Otto Ludwig, Wilbrandt, Dumas fils, Sardou, Augier u. s. w. In 127 Rollen ist sie 2109 Mal aufgetreten. Gastspiele und Ehrengastspiele führten sie zunächst in die österreichischen Landeshauptstädte Prag, Pest, Graz, Innsbruck, Brünn; weiter nach Berlin, Köln, München, Weimar, Koburg u. s. w., von wo sie Orden, Widmungsgeschenke und unzählige Kränze heimbrachte, mit deren Schleifen sie das Stiegenhaus ihrer Hietzinger Villa buchstäblich tapezierte. Nach Amerika ging sie trotz lockender Anerbietungen niemals. Den fragwürdigen Ruhm der Wandervirtuosin hat sie stets verschmäht.

Angesichts solcher Erfolge und Leistungen begreift man das stolzbescheidene Wort, mit dem sie einem Biographen auf die Bitte um Einzelheiten aus ihrem künstlerischen Werdegang erwiderte: »Meine ganze Theaterkarriere liegt vor den Augen des Publikums. Sie ist ein aufgeschlagenes Buch. Lesen auch Sie daraus.« Überblickt man diesem Rate gemäß das (von Albert J. Weltner veröffentlichte) statistische Verzeichnis ihrer Burgtheaterrollen der Zeitfolge nach, dann zeigt sich, daß Laube die Wolter nicht nur in klassischen Charakteren, als jugendliche heroische Liebhaberin und Heldenspielerin hinausstellte. Neben der Iphigenie, der Jungfrau von Orleans, der Julia, Maria Stuart, dem Klärchen, der Hero, der Prinzessin im »Tasso«, Sappho, Phädra, Preciosa, Orsina, Lady Macbeth erprobte er Größe und Grenze ihrer Kraft im älteren deutschen und französischen Schauspiel; er ließ sie selbst im Lustspiel, in Moretos »Donna Diana«, Bauernfelds »Bürgerlich und Romantisch«, Töpfers »Rosenmüller und Finke« sich versuchen; er brachte endlich nur für sie gedachte und gemachte »Wolter-Stücke«, wie Mautners »Eglantine«, Weilens »Edda«, Mosenthals »Pietra« u. s. w., ihren Paraderollen zuliebe, zur Aufführung. Alle künstlerischen Schöpfungen der Wolter in diesem ersten Jahrfünft ihrer Burgtheaterzeit (1862 bis 1867) überglänzte jedoch ihre Kriemhild in den beiden ersten Teilen von Hebbels Nibelungen-Trilogie. Laube hatte die mächtige Dichtung viel zu lange zurückgedrängt, angeblich, weil ihm die rechte Darstellerin für die Braut und Witwe Siegfrieds fehlte. Mit der Wolter errang Hebbels Werk nun endlich eine geradezu triumphale Aufnahme. Als Tochter Utens von gewinnender Sittsamkeit; vor dem Münster mit Brunhild, wo sich die Königinnen schalten, von einer im Burgtheater bis dahin unerhörten Wildheit; am Sarge Siegfrieds zusammenbrechend mit dem dazumal zum erstenmal vernommenen, theatergeschichtlich gewordenen »Wolter-Schrei« überwältigte und überzeugte sie durch die Wahrheit dieser fessellos hinrasenden, dämonischen Naturkraft zumal das jüngere Geschlecht. Vergebens höhnte der seither besser belehrte Ludwig Speidel solche und ähnliche Offenbarungen ihres gewaltigen Naturells als »groben Naturalismus«. »Kurze eckige Bewegungen«, so schrieb er 1864, also schon nach ihrer Kriemhild, über ihre Deborah, »die einander in der unschönsten Weise schneiden; gewaltsame Ausrenkungen des Satzbaues, grelle Naturschreie, wie sie der Gipfel der Lust und die Spitze des Schmerzes bezeichnen, vor denen aber die Muse, welche auch die Leidenschaft schön will, die Ohren verstopft!« Der Kritiker vergaß bei diesem maßlos absprechenden Urteil, daß der in gigantischen Wasserstürzen niedertosende Rheinfall bei Schaffhausen durch andere Reize wirkt, als die majestätische Ruhe des Rheinstromes bei Köln. Er übersah zugleich, was dem weisesten und größten Kenner Alt-Wiens, dem greisen Grillparzer, in seiner einsamen Zelle nicht entging: die Notwendigkeit der neuen Spielweise. Grillparzer begriff es, daß die Sappho der Wolter alle früheren Darstellerinnen in manchen Beziehungen überragte, »obschon die Schröder diese Rolle unübertrefflich und mit großartigem Schwung gab und eine Kraft der Rede, des Organs und Ausdrucks hatte, mit einem Wort eine Meisterin der Deklamation war, wie sie sich kaum wieder findet. Allein es war dem Geist des Stückes entgegen, daß ältere oder reizlose Frauen diese Rolle spielten, weil Entsagung in der Liebe von Seiten der Frau in reiferen Jahren allzusehr in der Ordnung der Natur liegt, als daß dadurch das Hauptinteresse nicht von der Heldin abgleiten und auf die jüngere Melitta übergehen mußte.« Er hob auch gerecht und mild den Unterschied zwischen dem akademischen, hohenpriesterlichen Wesen einer Rettich und der Leidenschaft der jüngeren Heroine hervor: » Julie Rettich«, so sagte Grillparzer zu Frau v. Littrow-Bischoff, »war eine hochbegabte Frau, in ihrer Jugend ein vortreffliches, über jeden Tadel erhabenes Mädchen und sie hat alles geleistet, was heller Verstand, hohes Talent, wahre Bildung und ein vortreffliches Genie zu leisten vermögen. Aber eben den Anlauf der Begeisterung – welcher oft dem ihrigen weit untergeordneten Charakteren zu Gebote steht – den Anlauf der Begeisterung zu nehmen, dazu fehlte ihr die Fähigkeit. Sie versetzte häufig auf den Boden der Reflexion, was der Phantasie angehören sollte, und wenn sie den Ausbruch der Leidenschaft mit mächtigen Mitteln auch darzustellen wußte, der Ausdruck der leidenschaftlichen Natur lag ihrem Wesen fern, wie auch ein gewisser Reiz der Anmut und Lieblichkeit, obschon sie eine interessante, bedeutende, ja eine schöne Erscheinung war!« Als die Zeitungen die Lady Macbeth der Wolter tadelten, schenkte Grillparzer diesen Verdammungsworten keinen Glauben: »Ich denke, mir würde ihre Auffassung dieser Rolle gefallen haben.« Und noch bevor er die von Frau v. Littrow in seine enge Klause geführte Wolter bei sich begrüßt hatte –, »wie ein alter Märchenkönig, der sich väterlich-freudig über die glänzende, lebensvolle Erscheinung des auf dem niedrigen Sessel ihm gleichsam zu Füßen sitzenden Feenkindes mit dem Korallendiadem neigte« – äußerte er: »Solch eine Schauspielerin, welche Anmut und Talent vereint, hätte mich, wenn sie mir in meiner Jugend begegnet wäre, schon durch den Wunsch, wie würde sie dies und jenes spielen, zu vielem begeistert und angeregt, zu Dichtungen bestimmt, welche durch den Hauch der Persönlichkeit wachgerufen werden und welche, weil mir in den Jahren, da ich produktiv war, eine solche fehlte, unterblieben.«

Dichtergrößen, wie Grillparzer und Hebbel, begegneten unter den jüngern Dramatikern der Wolter nicht mehr. Allein die edleren unter ihnen, Wilbrandt und Nissel, sahen ihre Eingebungen durch diesen von Grillparzer mit Recht so hochgerühmten »Hauch der Persönlichkeit« in ungeahnte Höhen gehoben: die Wolter hat die rasende Sinnlichkeit der Messalina durch Schönheit geadelt, durch das Naturrecht heidnischen Tumultes heißen Blutes, trotziger Abkehr von dem stoischen Tugendstolz der Kontrastfigur Arria zu einer so einzigen Gestalt herausgearbeitet, daß sie alle Zuschauer, selbst die Gegner des Dramas, fortriß, Makart zur malerischen Nachbildung dieses unerreichbaren Urbildes anregte, Wilbrandt aber zu mehr als einem Preislied auf ihre Kunst und Art entzündete: – niemals zu einem besseren und aufrichtigeren, als dem Festgruß zu Ehren ihres 25jährigen (1887 feierlich begangenen) Burgtheater-Jubiläums:

Römische Kraft, die mit den Göttern ringt,
Griechische Schönheit, die noch Frevel adelt,
Ein deutsch Gewissen, das belehrt, getadelt
Rastlosen Kampfes Kunst und Stolz bezwingt,
So kenn' ich Dich, so dank' ich Dir von Herzen
Verkünd'rin höchster Wonnen, tiefster Schmerzen.

Diesen Hymnus stimmte nicht nur der Dichter und Kenner an. Die Verse waren zugleich das Ehrenzeugnis des Direktors. Unter Wilbrandt, wie zuvor unter Laube und Dingelstedt, wie hernach unter Förster und Burckhard war die Wolter, eifersüchtig darauf bedacht, unbestritten als die erste tragische Schauspielerin des Burgtheaters sich zu behaupten, nimmermüde gewesen im Dienste ihrer Kunst. Laubes harte Zucht beherzigend, mühte sie sich bis an das Ende ihrer Laufbahn – zuletzt mit vollem Gelingen – die Idiotismen der Kölner mundartlichen Aussprache abzustreifen, die Rhythmik des Verses, die Melodik der »gesetzlich klaren Rede« sich zu eigen zu machen. Die ehedem ihrer überstürzten Vortragsweise halber so herb Angelassene beherrschte in den Siebziger- und Achtzigerjahren gebundene und ungebundene Rede mit gleicher Überlegenheit: das »Parzenlied« in der Iphigenia wirkte in ihrem Munde wie Musik (wohlgemerkt: nicht wie Gesang); die Prosa Lessings, vordem eine Klippe Wolterscher Kunst, trug sie späterhin zum Gipfel ihres Könnens. Hatte Laubes Einfluß die Wolter sprechen lehren, so hob Dingelstedts auf das fertige Bühnenbild gerichteter Sinn ihre angeborene Gabe, Haltung und Tracht künstlerisch zu bilden. Niemand hat diese Fähigkeit feiner gewürdigt, als der feinste Wiener Kritiker bildender Kunst, Ludwig Hevesi: »Laube, der Ausstattungsfeind, führte ein gesprochenes Theater, erst unter Dingelstedt sah man ein gestimmtes Theater. Gestimmt, in Wien, auf Hans Makart. Der erste Laut von ihren Lippen fuhr elementar durch die tausend Herzen und, ehe man noch etwas gesehen, war man auf den tragischen Ton gestimmt. Durch alle Fibern rieselte der Schauer, den dieses Organ weckte, als eine Empfindung sinnlicher Wohligkeit, farbiger Wärme. Das ist das tönende Bild moderner Zeiten, denn auch Bild war sie und war es mit unwiderstehlicher Machtfülle. Von Iphigenie bis zur Fedora, von Maria Stuart bis zu Helena: Bild um Bild, und immer eine andere Schönheit.« Solcherart trat sie in stetig steigender Entwicklung an immer neue Aufgaben. Fehlschläge gab es nur, wenn sie ihrem Wesen völlig fremde Rollen (die Jüdin von Toledo, Libussa, Sidonie in »Fromont jun. und Risler sen.«) sich aufreden ließ. Desto voller in ihrem Element in dämonischen, überlebensgroßen Gestalten, in Shakespeares Historien, in Goethes »Faust«. Erstaunt wähnte man jahrelang, daß das Alter keine Gewalt über sie habe. Ihr Zauber verstärkte sich. »Nicht nur in dem Orgelton ihres Organs, das von den Schmeicheltönen der Kantilene bis zum Donnerhall des Dies irae als »böses Gewissen« im »Faust« sich steigern konnte; nicht nur«, wie ich gleich nach ihrem Heimgang in der »Allgemeinen Zeitung« schrieb, »in der Plastik ihrer Posen, die Zug und Stil und zugleich volle Glaubwürdigkeit und Naturtreue offenbarten, wie die Meisterstücke griechischer Bildnerkunst – sie hielt uns in wachsender Liebe und Bewunderung fest durch den »Ernst, den keine Mühe bleichet«. Sie hat die Geschenke einer überreichen Natur ausgemünzt im Dienste einer großen, kerndeutschen, das heißt kongenial in den Geist aller sich vertiefenden Kunstübung. Denn ihren klassischen Schöpfungen ebenbürtig waren ihre britischen Charaktere, unter denen ihre Lady Macbeth obenan steht. Ihren antiken Gestalten gesellte sie Typen, wie Sardous Georgette: eine Kokottenfigur, derengleichen ich niemals überlegener, ausgelassener, leichtblütiger irgendwo auf dem französischen Theater gesehen habe. Und den Heroinen, Mänaden, Teufelinnen ihrer jüngeren Jahre, der Königin Margarethe in den Königsdramen, Wilbrandts Messalina und der Volandinne in Kriemhilds Rache folgten in ihren letzten Lebensjahren Matronen: eine Lea in den »Makkabäern,« eine Volumnia im »Coriolan«, die Pastorin in Richard Voß' »Neuer Zeit« und die Hamburger Patrizierin in Philippis »Dornenweg« – Erscheinungen von gehaltener Würde, wie ich sie vorher und nachher weder auf der deutschen, noch auf einer anderen Bühne je zu Gesicht bekommen. Und was nicht zu vergessen ist: die Wolter war in alledem Original. Sehr empfänglich für gute künstlerische Ratschläge ihrer Direktoren und Kameraden, von Laube und Dingelstedt bis auf Wilbrandt, Förster, Sonnenthal und Berger, ahmte sie niemals einen fremden Ton, irgendein heimisches oder ausländisches Muster nach. I am myself alone durfte sie mit Shakespeares König sagen. In Kostümfragen hat sie Makart manche Anregung zu danken. In der Auffassung einzelner Stellen hat sie die Kenneransicht ihres edlen, auch künstlerisch edel empfindenden Gatten (des belgischen Grafen O'Sullivan) beherzigt. Im ganzen hat sie ihr Bestes, Eigenstes nur aus sich selbst geschöpft.«

1894 mußte die Wolter zum erstenmal ihre Wirksamkeit am Burgtheater unterbrechen. Ein älteres chronisches Nierenleiden trat plötzlich akut so heftig und qualvoll auf, daß die Ärzte die Möglichkeit eines Wiederauftretens bezweifelten, jedesfalls im Interesse ihres physischen Befindens am liebsten ein- für allemal ausgeschlossen hätten. Stärker, als der Wunsch nach Genesung, war indessen die Sehnsucht nach dem über alles geliebten Berufe. Im Winter 1895/96 trat sie, zunächst in der »Sappho«, auf, mit überströmender Herzlichkeit willkommen geheißen von der Burgtheatergemeinde. Mit höchster Selbstüberwindung spielte sie nun u. a. auch als neue Rolle die Johanna Wedekind im »Dornenweg« unübertrefflich. Hier war einmal der Geist stärker als das Fleisch. In den Ferien verschlimmerte sich aber ihr Zustand wieder, und nun begann ein monatelanges, martervolles Siechtum, dem ein barmherziger Tod erst am 14. Juni 1897 ein Ziel setzte. Ihrem letzten Wunsche gemäß wurde sie in ihrem reichen goldverzierten Kostüm als Iphigenie in den Sarg gebettet und an der Seite ihres ihr im Tode vorangegangenen Gemahls auf dem Hietzinger Ortsfriedhof bestattet. Der damalige Direktor des Burgtheaters, Dr. Burckhard, widmete ihr die folgende würdige Grabrede:

»Charlotte Wolter, die große, unsterbliche Künstlerin, die so oft im Leben spielend den Tod besiegt hat, indem sie seine Schauer verklärend in die befreienden Regionen ihrer Kunst erhob, sie ist dem Furchtbaren nun doch erlegen. Nicht mit sanftem Kusse schloß er diese Augen, nach heißem Kampfe hat er sie gebrochen. ›Dieses Ringens blutige Qual‹ – sie blieb ihr nicht erspart. Nur widerstrebend verließ die Seele den Körper, aus dessen Antlitz bis zu den letzten Augenblicken der Schimmer antiker Schönheit widerstrahlte; der Hauch des Odems sträubte sich, für immer diesem klassisch geformten Munde zu entschweben, der ihm tausend- und tausendmal ein wundervolles Instrument gewesen, das er bald in melodischen Glockenklängen erklingend, bald in mächtigem Orgeltone dahinbrausend mit den herrlichsten Symphonien belebte, jetzt alle Sinne zu begeistertem Jubel hinreißend, jetzt die Herzen der atemlos Lauschenden mit den Schauern heißester Leidenschaft erfüllend – das Leben floh nur zögernd aus der abgeklärten Harmonie, die inmitten des dissonierenden Weltgetriebes sich in dieser Künstlerbrust aufgebaut hatte.

Wie hast Du Dich selbst erfaßt, Charlotte Wolter, da Du gewünscht, nicht in den Farben der Trauer den Weg des Todes zu beschreiten, sondern mit hellem Schimmer die Räume füllen zu lassen, von denen die letzte Fahrt Dich hierherführte, so den Gedanken, den Altmeister Goethe in seiner Gedächtnisrede zum brüderlichen Andenken Wielands geäußert, für Dich nachempfindend: ›Ein festlich geschmückter Saal, mit bunten Teppichen und munteren Kränzen, so froh und klar als Dein Leben, möge vor den Augen Deiner trauernden Freunde erscheinen.‹

Was das Leben an Glück, an Liebe, an Ehre, an Ruhm bieten kann, es ward Dir, Charlotte Wolter, in reichstem Maße zuteil. Nach kurzem Kampfe, wie er wohl noch keiner Künstlerseele erspart blieb, bist Du in raschem Fluge zu den lichten Sonnenhöhen ewigen Ruhmes emporgeschnellt; es war Dir gegönnt, durch Jahre an der Seite eines feinsinnigen, Dich und Deine hehre Kunst voll würdigenden Gatten dahinzuwandeln, der mit zarter Fürsorge Deine Pfade ebnete. Tausende, Tausende haben Dir zugejubelt und Dich geliebt und verehrt, wie selten Menschen geliebt und verehrt werden; durch große Reiche, über weite Meere hin flog der Ruhm Deines Namens und Deiner Kunst; Du warst durch Dezennien der belebende Mittelpunkt, um den sich ein großes Kunstinstitut, ja um den sich die dramatische Produktion eines ganzen Volkes drehte.

Aber hast Du Großes von Deiner Zeit empfangen, so hast Du es nur erhalten, weil Du ihr Großes gegeben hast. Gedenken wir der schönsten, der erhabensten Eindrücke unseres Lebens, Charlotte Wolter, so werden wir stets auch Deines Namens gedenken, und hast Du uns durch Dein Scheiden vieles genommen, so hast Du uns vieles gelassen Quellen: Rudolf Baldek: Deutsche Zeitung, Wien, 14. Mai 1887. – Laube: Das Burgtheater. – Aus dem persönlichen Verkehr mit Franz Grillparzer von Auguste v. Littrow-Bischoff. Wien 1873, Seite 54 ff., 102 ff. – M. Ehrenfeld: Charlotte Wolter, Wien 1887 (eine nur einzelner stofflicher Angaben halber zu erwähnende Gelegenheitsschrift). – Adolf Wilbrandt: Neue Gedichte (»Aus dem Burgtheater«, Charlotte Wolter, 1874, 1887). – Charlotte Wolter. Nachruf von Ludwig Hevesi. »Wiener Fremdenblatt« vom 15. Juni 1897. – »Neue Freie Presse« vom 15. Juni 1897 (mit Albert J. Weltners Rollenverzeichnis der Wolter). Ebenda: 17. Juni: Charlotte Wolter 1834 bis 1897 von Ludwig Speidel und Bericht über ihre Leichenfeier. – Charlotte Wolter von Paul Schlenther, »Vossische Zeitung« vom 15. Juni 1897. – Leo Hirschfeld: Charlotte Wolter. Ein Erinnerungsblatt mit Illustrationen und einer statistischen Rollentabelle, Wien 1897. – Alexander v. Weilen: Allgemeine Deutsche Biographie: Wolter. – Die Bilder und Büsten der Wolter (von Makart, Canon, Angeli, Tilgner u. s. w.) waren in der Wiener Theaterausstellung in einem besonderen Wolter-Zimmer vereinigt und in Karl Glossys Katalog dieser Ausstellung verzeichnet. – Nach dem Tode der Wolter wurden ihre reichen Kunstschätze, einschließlich sämtlicher Porträts ihres Gemahls und der Meisterin, von H. O. Miethke versteigert; der Katalog ihres Nachlasses (Wien, H. O. Miethke, 1898) reproduziert Makarts Bild der Wolter als Messalina, Angelis Wolter-Porträt, Canons Wolter-Bild, Matsch's Ölbild Charlotte Wolter als Sappho, die Wolter-Büste von Tilgner. – Bildnisse der Wolter sind auch in der Porträtgalerie des Burgtheaters und im Wiener Städtischen Museum.: den reichen Schatz unvergänglicher Erinnerungen an die Künstlerin, mit der gelebt, von der empfangen zu haben, noch spätere Geschlechter uns neiden dürfen. Nimm unseren Dank für alles, was Dein Genius so überreich uns gespendet: durch Jahrhunderte wird Dein Name ein Leitstern sein für alle, die in der Schauspielkunst das Höchste anstreben.«


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