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An der Schwelle des Psalmistenalters überraschte mich die »Wila« (Wiener literarische Anstalt) mit der Aufforderung, eine neue Sammlung von Aufsätzen herauszugeben. Der Wunsch weckte zunächst begreifliche Zweifel.
Ein alter Mann ist stets ein König Lear.
Was Hand in Hand mitwirkte, stritt,
Ist längst vorbeigegangen;
Was mit und an Dir liebte, litt,
Hat sich wo anders angehangen;
Die Jugend ist um ihretwillen hier.
Es wäre töricht zu verlangen:
Komm, ältle Du mit mir –
wann wäre das Goethewort wahrer gewesen, als in den tragischen Zeiten, die wir durchleben und durchleiden? Die Welt, in der ich aufwuchs, scheint versunken; die Gedanken, die bestimmend auf meine Generation wirkten, sind den Jüngeren vielfach fern und fremd; meine Vaterstadt Wien, in der ich, drei Jahre nach der Thronbesteigung Franz Josefs geboren, bis an das Ende seiner Tage durch mehr als zwei Menschenalter Augenzeuge seiner und ihrer schicksalreichen Wandlungen wurde, ist nach dem Ausgang des Weltkrieges ärger gefährdet, als während der Türkennot, des Dreißigjährigen Krieges, der napoleonischen Heereszüge, der Achtundvierzigerrevolution, der Schlachten von Solferino und Königgrätz. Und Österreich, das nach Grillparzers Preislied inmitten dem Kind Italien und dem Manne Deutschland gemutete, wie ein wangenroter Jüngling, gleicht augenblicklich weit eher einem abgehärmten Sträfling, der wehrlos zusehen muß, wie frühere, mit allen Heimlichkeiten wohlvertraute, von langverhaltenem Haß erfüllte Hausgenossen, gieriger als seine offenen Feinde, Stück um Stück seiner Habe sich zu eigen machen. Und düsterer noch als die fluchbeladene Gegenwart bedroht eine rätselschwere Zukunft Wien und Kleinösterreich mit unausdenkbarem Unheil. Die von den Habsburgern übernommenen Farben des alten Deutschen Reiches Schwarzgelb weichen dem Schwarz und Rot der heute stärksten Parteien. Und mag auch Wien nach dem neuesten Schlagwort als Umschlagplatz nicht untergehen: das verfallende Wiener Bürgertum ist dem Untergang nahe; den Zügen der alten Kaiserstadt prägen sich nach dem Vergleich scharf aufschauender Gäste durch den Zufluß buntgemischter Händler und Abenteurer verhängnisvolle Ähnlichkeiten mit Meßplätzen und Hafenorten des Balkan ein. In solchen Stunden und Stimmungen drängt sich nicht nur dem Weichmütigen der Sehnsuchtsruf von Klaus Groth in Brahms' ergreifenden Tönen auf die Lippen:
O fänd ich doch den Weg zurück,
Den lieben Weg zum Kinderland …
Der Zeiten Wandel nicht zu sehen,
Zum zweitenmal ein Kind zu sein.
Die Weise wirkt nicht leicht irgendwo wehmütiger, als in Wien. Unser Kinderland blieb in allen Stufenjahren unseres Daseins die Heimat unserer Seele, Großösterreich galt den besten, bedeutendsten meiner Alters- und Gesinnungsgenossen als ein Staatswesen, das trotz aller Fehlgriffe seiner Machthaber, trotz oder gerade wegen der Gegensätze seiner Stämme berufen schien, unter starker Hand ein Vorbild verbündeten Wirkens verschiedener Völker zu schaffen. Zu diesem Glauben hat sich mein Lebensfreund Heinrich Friedjung auch nach dem Zusammenbruch der Monarchie mannhaft bekannt; in seinem letzten Buch »Historische Aufsätze« beginnt die Vorrede, die sein politisches Testament werden sollte, mit der Erklärung: »Wir alten Österreicher sind besiegt, aber nicht erschüttert in unserer Überzeugung, daß dieses Reich seinen unendlich schwierigen Beruf zwar unvollkommen, aber – bis zur kläglichen Selbstpreisgabe im Oktober 1918 – in Ehren erfüllt hat.« Zwei Wahrheiten hielt Friedjung zur Bekräftigung seiner Ansicht für unbestreitbar: seit Wallenstein hatte sich im Kaiserstaat als stärkste Triebkraft ihrer Einheit stetig eine Wehrmacht fortgebildet, in der Soldaten aller Stämme wie zuvor bei Kolin, Aspern, Leipzig, Novara bis zuletzt bei Gorlice und am Isonzo zusammen ihre Schlachten schlugen, und in den weitgedehnten, vielgestaltigen Ländermassen der Hausmacht war unter der gemeinsamen Dynastie bei den vielsprachigen Völkern eine besondere Kultur österreichischer Färbung erwachsen, die ihre feinsten und reichsten Blüten in der Reichshauptstadt trieb.
Welche Wunder Wiener Luft auf die rechten Leute wirkt, weiß die Welt: Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Brahms mehrten und mehren unablässig das Glück von Menschen aller Zungen und Zonen. Im alten Burgtheater schlossen heimische und reichsdeutsche Dramaturgen und Darsteller einen dauerhaften Künstlerbund, der den Empfänglichen aller Stände die Schauspiele der Weltliteratur unübertroffen vor Augen führte. Die Vorstadtbühne schuf ein Volkslustspiel, das nach Platen lustiger war als alle deutschen Theater und ließ in Meistern der Mundart, Raimund und Anzengruber, den Besten ebenbürtige Dramatiker erstehen. Die bildende Kunst feierte nicht von den Tagen Schwinds und Waldmüllers bis auf Makart, Ferstel, Otto Wagner. Unsere medizinische Schule stand ihrem alten Ruhm. Die Universitäten gaben allmählig nach Deutschland im Verhältnis nicht weniger Talente ab, als das Reich seit Leo Thuns Reformen nach Österreich gesandt hatte. Das Volksschulwesen erntete, was Hasners weitschauende Gesetzgebung, das Kunstgewerbe, was Eitelberger und seine Leute ausgesäet. Es fehlte nicht an Staatsmännern, die wie Felix Schwarzenberg, Andrassy, Kalnoky, Stefan Tisza Großmachtpolitik zu treiben fähig und würdig waren. Heer und Flotte vergaßen nicht Führer wie Radetzky und Tegetthoff. Trotz aller Reibungen des Alltags, in allem Überdruß des Sprachenzankes, in allen Drangsalen des Weltkrieges bauten und vertrauten die Kinder des Zeitalters Franz Josefs in ihrer Mehrheit auf den Halt der Dynastie, auf die durch Geschichte und Erfahrung vorgezeichnete Überlieferung eines Donaureiches so zuversichtlich, daß Friedjung, durch die Waffenstreckung im Lebensnerv verwundet, Wallensteins Wort wiederholte: das aber ist geschehen wider Sternenlauf und Schicksal.
In Wirklichkeit ist es auch bei dieser weltgeschichtlichen Wende mit natürlichen Dingen zugegangen. Die Schöpfung des neuen Kleindeutschland hat das alte Großösterreich in seinen Grundfesten verschoben; der Prager Friede, der die Deutschen Österreichs aus dem staatsrechtlichen Verband mit Deutschland verdrängte, wurde die Keimzelle des Friedens von Saint-Germain, und der Versuch, zum Ersatz der in Italien und Deutschland verlorenen Stellung sich Bosniens dauernd zu bemächtigen, führte, wie das unzeitig niedergestimmte Patrioten geahnt und prophezeit hatten, zur Sprengung des Gefüges der Monarchie. Bismarcks spätere Bündnispolitik erhöhte nicht die seit 1866 unablässig geminderte Geltung der Deutschen Österreichs, und der Kaiserstaat erschien in der Epoche des ungemessen überspannten, immer ungestümer sich durchsetzenden Nationalitätengedankens als dessen leibhaftiger, unzeitgemäßer Widerspruch. Kommende, zumal nichtdeutsche Geschichtschreiber wird es darum im Gegensatz zu Friedjung vermutlich weit weniger wundernehmen, daß Österreich 1918 in die Brüche ging, als daß die Monarchie bis zum Ausgang des Weltkrieges im Heer- und Staatswesen als Großmacht sich behauptete. Die Deutschen, die zuerst die Ostmark als Kulturträger auf- und ausgebaut, hielten bis zuletzt als Staatspartei fest am Donaureich: unbeirrt durch den Vorwurf, zu germanisieren, darauf bedacht, zu humanisieren; nicht getroffen durch die Anklage, die anderen Stände niederzuhalten, stets am Werk, Alle zu gleicher Höhe zu heben. Der ungemessene Haß, mit dem slawische und romanische Parteiführer am Ende des Weltkrieges den Deutschen diese Treue vergalten, zeigte den schuldlos Geopferten erst, in welcher Selbsttäuschung über die wirklichen Gesinnungen der anderen Nationalitäten sie befangen gewesen; sie wollten als Heiligtum Aller hüten, was maßgebende Führer der Tschechen, Polen, Italiener längst innerlich preisgegeben hatten: das völkerverbindende, großösterreichische, gemeinsame Vaterland.
Ihr selbstloser heroischer Irrtum wurzelte in denkwürdigen Überlieferungen der bedeutendsten Herrscher und Geister meiner Heimat. Was Maria Theresia und Josef II. gewollt, stand auch dem letzten Kaiser als Lebensziel vor Augen; als im Gespräch mit ihm ein hochangesehener bürgerlicher Politiker, auf die Frage, zu welcher Partei er gehöre, sagte: »zu derjenigen, zu der nur ein einziger Anhänger gehört, der ich bin«, fragte Franz Josef: »Und was ist das für eine Partei?« »Die österreichische, Majestät.« Eine Antwort, auf die der Monarch nach dem Zeugnis von Berta Suttner lächelnd erwidert haben soll: »Ra und ich – zählen Sie mich nicht?« Grillparzer beirrten die herbsten eigenen Schicksals-, die folgenschwersten Fehlschläge der Regenten wie der Regierten keinen Augenblick in der nach seinem Wort geradezu kindischen Liebe, mit der er am Vaterland hing; 1809 machte ihn so wenig, wie das System Metternich, wie 1866 und 1870 wankend im Glauben an die weltgeschichtliche Aufgabe Österreichs. Und der aus seinem Innersten kommende Ausspruch Rudolfs II.: »Mein Haus wird bleiben immerdar« kehrte, republikanisch gewendet, vor 1918 in dem pathetischen Bekenntnis eines sozialdemokratischen Führers zu dem Vers der Volkshymne wieder: Österreich wird ewig stehen. Ironischer in der Form, nicht minder fest in der Sache schickte Bauernfeld seinen Denkwürdigkeiten als Motto das Wort Börnes voran: »Wie das Herz der Welt überhaupt, so hat auch jedes Herz, auch das des besten Menschen einen Fleck, der ist gut österreichisch gesinnt. Es ist das böse Prinzip.« Und gleiche Gesinnungen teilten und verkündeten von Anastasius Grün bis auf Marie Ebner, Saar, Rosegger die Stimmführer unserer Dichtung. Pessimistischer hat Anzengruber vorausgesagt, daß nach dem kranken Mann gleich die kranke Madame Austria unter das Messer kommen werde und die Einkehr der irregewordenen Menschheit nur durch die Schule grimmiger Leiden erwartet: »der Krieg«, so monologisierte er vor 30 bis 40 Jahren, »wird schließlich den Krieg unmöglich machen; nicht die Milde, der Greuel, der himmelschreiende Greuel war von je der Lehrer der Völker.« Ein gallenbitterer Trostgedanke, auf den nicht allein die Stämme des durch Welt- und Bürgerkrieg aus den Fugen getriebenen Österreich die Probe zu machen haben werden. Die Folge muß zeigen, ob die Völkerhetzen abschließen werden wie die Glaubenshetzen: mit der Einsicht, durch wechselseitige Duldung sich mindestens nicht schlimmer zu verstehen, als im alten Österreich.
Dem Kenner und Freund des gefährdeten Wien und des verschwundenen Großösterreich gebieten inzwischen Pflicht und Neigung, Zeugnis zu geben für eine taten- und leider auch versäumnisreiche Vergangenheit. Mögen Zweifler und Spötter solches Vorhaben abweisen, weil Gegenwart und Zukunft ewig unberechenbar und unbelehrbar bleiben; mögen Staatspathologen bis zum Jüngsten Tag mit einander streiten, ob Großösterreich an unheilbaren inneren Leiden, an ansteckendem Nationalitätenfieber oder an den Kunstfehlern seiner ungezählten Zivil- und Militärärzte zugrundegegangen ist; mag die Monarchie mausetot oder scheintot sein: ihre Erben werden ihre Hinterlassenschaft antreten, gute und böse Folgen ihrer Wirtschaft tragen müssen, wie die Franzosen des 19. und 20. Jahrhunderts Fluch und Segen des ancien régime. Und kommenden Geschlechtern wird wichtiger als der fragwürdige Wahrspruch der Geschichte, ob der Ruin des alten Welthauses verschuldet oder unverschuldet gewesen, die Frage sein, wieviel von seinen redlich erarbeiteten Besitztümern vergeudet, wie viel oder wie wenig von seinen in Jahrhunderten gesammelten unersetzlichen Gütern geborgen wurde. Der Wahrheit letzten Schluß muß die Wirklichkeit bringen, der Augenschein, ob es nicht bloß anders, sondern besser geworden.
Wir Kinder des Zeitalters Franz Josefs werden diese Endentscheidung nicht erleben und gedenken heute weniger als irgendwann Richter zu sein in eigener Sache. Frei von vorgefaßten An- und Absichten ließ sich indessen schon seit Jahren und Jahrzehnten ein Kreis von Gelehrten angelegen sein, im Geiste Lessings, der dem Historiker vor allem die Schilderung der Ereignisse zudachte und zutraute, die er selbst miterlebte, die Grundlagen zu schaffen für eine wahrhaftige Geschichte der Ära Franz Josefs I. Innere und äußere Politik, Kriegs-, Wirtschafts-, Literatur- und Kunstgeschichte haben kundige Pfleger gefunden. Über der Historien- soll die Bildnismalerei nicht zu kurz kommen. Wie sich in Wirklichkeit Tausende und Zehntausende von Einzelschicksalen zu wechselseitigem Heil oder Unheil mit dem Gesamtschicksal Großösterreichs verflochten haben, soll biographische Forschung und Kunst auf allen Gebieten menschlichen Wirkens bei allen Völkern der Monarchie den Lebensläufen der bemerkenswertesten Persönlichkeiten nachgehen, die mit- oder gegeneinander ihre Kräfte einsetzten als Geburtshelfer, Träger oder Totengräber dieses Zeitalters.
Seit mehr als einem Menschenalter regte ich in solcher Gesinnung immer wieder ein biographisches Denkmal des Zeitalters Franz Josefs im Stil der Allgemeinen Deutschen Biographie und der National Biography an. Dieser am weitesten ausgreifende meiner Wiener Biographengänge ließ mich gleiche Wege wandelnde, hochwillkommene Gefährten finden. Und der Plan, ein solches biographisches Monumentum Austriae aufzurichten, schien meinen Gesinnungsgenossen während und erst recht nach dem Kriege so wenig überholt, daß wir unverzagt seine Ausführung in Angriff nahmen und heute dank der Entschlossenheit und Opferwilligkeit der »Wila« seine Verwirklichung gesichert sehen dürfen. Selbst in friedlichen Zeitläufen hätte Wagemut dazu gehört, so weitgesteckte Biographenziele sich zu setzen; in unserer verzweifelten gegenwärtigen Lage kann das Werk nur gelingen mit dem Beistand aller Empfänglichen, zumal im Nachwuchs. Kinder und Enkel müssen Lust und Kraft aufbringen, Wollen und Wirken unserer Landsmannschaft in glaubhaftem Dasein zu erneuen und der Mit- und Nachwelt leibhaft vor Augen zu stellen. Sollten solche Wünsche sich nicht erfüllen, dann läge dies nur an der Lässigkeit von Händen, an der Unzulänglichkeit von Augen, die versagen, wo Blick, Feder, Pinsel, Meißel schöpferischer Künstler die unerschöpfliche Fülle wienerischer und altösterreichischer Art gestalten-, motive-, tönereich festhielten. Auf Biographengängen aller Spielarten begegnen sie uns, unbewußt die berufensten, neidenswertesten Wegweiser.
Aus dem Volksleben der Brigittenauer Kirchweih griff Grillparzer wie aus einem ungeheuren aufgeblätterten Bilderbuch den Plutarch der unberühmten Namenlosen, mitten unter ihnen den armen Spielmann, heraus. Und von Raimunds und Bauernfelds Tagen bis auf Anzengrubers »Viertes Gebot« und Schönherrs »Ballade vom Untergang« suchten und fanden Dramatiker auf Höhen und in Niederungen des Wienertums ihre Urbilder. Vom Stefansturm schaute Stifter bei Sonnenlicht und zu nachtschlafender Zeit aus nach Veduten mit Staffagen, die zugleich mit ihm Landschafter und Aquarellisten, Rudolf Alt und seine Leute, mit nimmermüder Liebe umfaßten. Den Genremalern und Porträtisten des Wienertums von Danhauser, Daffinger, Kriehuber bis auf den Radierer Ferdinand Schmutzer und den Plastiker Tilgner treten ebenbürtig unsere Novellisten Marie Ebner und Saar mit ihrer Galerie österreichischer Köpfe zur Seite und aus dem Born der Wiener Dialektmusik schöpfte Lanner wie Vater Strauß mit seinen Söhnen so reichlich, wie Schubert, der veredelte Wiener Tänze und Märsche zum Gemeingut des Erdenrundes machte. Absichts- und ahnungslos hielten sie das Wien und Österreich ihrer Tage in reinem Naturselbstdruck fest.
Der überzeugteste Stimmführer Großösterreichs war und bleibt aber der größte Dichter und Denker, den Kaiserstadt und Kaiserstaat hervorgebracht haben: Grillparzer. Er hat die Schäden des Staatswesens, die Schwächen des Menschenschlages gekannt, in Hauptwerken, vaterländischen Gedichten und Stachelreimen gezüchtigt, wie kein Zweiter. Von Rudolf von Habsburg bis auf Rudolf II. und Kronprinz Rudolf ist er in die Heimlichkeiten aller Habsburger rühmend und rügend eingedrungen. Alle Stände und Stämme der Völkerschaften, alle Stufenjahre der österreichischen Geschichte steigen in seinem Lebenswerk auf. Harte Wahrheiten und schonungslose Richtersprüche scheut er nicht; aus der Enge des basteienumgürteten Alt-Wien hat er weitere weltgeschichtliche Ausblicke gewonnen als die Männer der Staatskanzlei. In seinen historischen und politischen Studien, im »Ottokar«, »Bancban«, in »Libussa«, dem »Bruderzwist« und der »Jüdin von Toledo« hat er hineingeleuchtet in alle Irrgänge des Erzhauses, in alle Eigenheiten von Magyaren- und Slawen-, Juden- und Wienertum. Und mit prophetischem Gemüt weissagte er den rächenden Tag, an dem »mit der Geschichte Demantwage« Gericht gehalten werden wird über die Sünden der Väter, die Engherzigkeit der Diplomatie, die Übergriffe der Klerisei, die Abkehr von den Ideen Maria Theresias und Josefs, die entfesselten, unbezähmten Massen. Den deckenden Ausdruck für diese, mit keiner anderen vergleichbare Gedanken- und Phantasiewelt hat Grillparzer aber in einem unscheinbaren Stammbuchvers gegeben, der das schlichteste und schönste Ruhmesblatt im Stammbuch Wiens bleiben wird:
Hast Du vom Kahlenberg das Land Dir rings besehn,
So wirst Du, was ich war und was ich bin verstehn.
Ein Mann, den sein Lebensweg nach Weimar, Berlin, Rom, Athen, Paris, London und sein Wissensdrang zu den Denkern und Dichtern aller Zeiten und Zungen geführt hat, wies in diesem Bekenntnis auf Wien und sein Weichbild als Wurzel und Wipfel seines Wesens und Schaffens hin. Der Blick, der das Nächstliegende liebreich umfaßte, drang zugleich, auf das Äußerste geschärft, ebenso in die Weite. Und der Urwiener, der mit jedem Atemzug seiner Landsmannschaft anhing, verleugnete just darum als alter Josefiner nicht sein Weltbürgertum:
Ich hab' erdacht im Sinn mir einen Orden,
Den nicht Geburt und nicht das Schwert verleiht,
Und
Friedensritter soll die Schar mir heißen,
Die wähl' ich aus den Besten aller Länder,
Aus Männern, die nicht dienstbar ihrem Selbst,
Nein, ihrer Brüder Not und bittrem Leiden;
Auf daß sie, weithin durch die Welt zerstreut,
Entgegentreten fernher jedem Zwist,
Den Ländergier und was sie nennen: Ehre
Durch alle Staaten sät der Christenheit
Ein heimliches Gericht des offnen Rechts
*
Nicht auf der Brust trägt man den Orden,
Nein, innen, wo der Herzschlag ihn erwärmt,
Er sich belebt am Puls des tiefsten Lebens.
Der Geheimbund eines Friedensordens, der am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges Rudolf II. wirklich durch den wirren Sinn gezogen und von Grillparzer zum Bund der Besten aller Länder verklärt worden ist, erschien niemals nebelhafter, als in den Wirren unserer totkranken Welt. Als echter Seher hat er indessen in so vielen Prophezeiungen recht behalten, die auf die ersten Hörer paradox wirkten, daß auch sein Traum von Friedensrittern, die eine menschenwürdigere Zukunft heraufführen sollen, nicht für alle Zeiten ein Trugbild bleiben muß. Die Wahrheit hat nach Schopenhauer ein langes Leben vor sich und der feurigste Apostel der Erziehung des Menschengeschlechtes zählt getrost mit unendlich langen Zeiträumen: »was habe ich denn zu versäumen«, fragt Lessing. »Ist nicht die ganze Ewigkeit mein?«
Sammeln wir in solcher geduldiger Zuversicht Saatgut. Sorgen wir vor für kommende Ernten lichterer Zeiten. Welcher Überfluß fruchtbarer Keime auf dem Nährboden meiner Heimat gedeiht, erfährt nicht zum wenigsten der Biograph. Quellenforschungen zur Lebensgeschichte Beaumarchais', Berthold Auerbachs, Rochus v. Liliencrons haben mich nach Frankreich, Spanien, England, Schwaben, Schleswig-Holstein, mit entscheidenden Schicksalen meiner Helden aber immer wieder nach Wien und Österreich zurückgeführt. Für die Lebensläufe von Anzengruber, Marie v. Ebner-Eschenbach, Saar hat mir lebendiger Verkehr mit diesen Meistern, unmittelbare Anschauung ihrer Zeit und Welt unersetzliche Aufschlüsse gewährt.
Meine jüngsten Wiener Biographengänge wenden sich zu Schutzgeistern meiner Kindertage, Führern meiner Jugendzeit, Lebensfreunden meiner Mannesjahre Karl Goldmark, Rosegger, Ludwig Lobmeyr, Alfred Berger; zu Größen des alten Burgtheaters Charlotte Wolter und Auguste Wilbrandt-Baudius. Sie führen zu seltenen Frauen, Josefine v. Wertheimstein und Fürstin Marie Hohenlohe, die, selbst Künstlernaturen, die rechten Gastfreundinnen wurden für Grillparzer und Hebbel, Bauernfeld und Saar, Liszt und Rubinstein, Tegetthoff und Unger, Schwind und Lenbach und ungezählte Landsleute und Fremde, die an dieser Geselligkeit ohnegleichen teilnehmen durften. Dem Besuch, mit dem der Werkmeister der Allgemeinen Deutschen Biographie, Rochus v. Liliencron mich in meinem Wiener Heim überraschte, der Tafelrunde, bei der unser verehrter Gast in der Villa Gabillon durch einen liebenswürdigen, von niemand vorausgesehenen Zufall mit Gräfin Luise Schönfeld-Neumann zusammentraf, dem Gegenbesuch, den ich ebenso unvermutet als Nachfolger Liliencrons in der Leitung der Allgemeinen Deutschen Biographie meinem unerreichbaren Vorgänger, meinem unvergeßbaren Beschützer im Sankt-Johannis-Kloster vor Schleswig abstatten sollte, gilt einer meiner liebsten Biographengänge. Von Karl Schönherr, den ich seit seinen Anfängen als stärkste dramatische Begabung des Vaterlandes unter den Jüngern willkommen hieß und den Zukunftsaufgaben der Literatur Deutschösterreichs ist die Rede in den letzten der in diesen Blättern festgehaltenen Biographengänge. Sollten sie zugleich die letzten eines siebzigjährigen Lebens bleiben, dann mögen rüstigere, schärfer blickende, tiefer schürfende Wanderer neue Bahnen suchen für Biographengänge im Umkreis des Stephansturms, im Gebiet der Doppelmonarchie. An Liebe und Treue für Wien und Altösterreich wird mir auch dann schwerlich irgendwer zuvorkommen.
Wien, Pfingsten 1921.
Anton Bettelheim.