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Alfred Berger

I.

In den Akten der philosophischen Fakultät der Universität Wien fand ich folgendes, dem Habilitationsgesuch Bergers Berger, Alfred Freiherr von, Doktor der Rechte und der Philosophie, Universitätsprofessor, Dramaturg, zuletzt Direktor des Burgtheaters; geboren Wien 30. April 1853, gestorben Wien 24. August 1912. beiliegende Curriculum vitae:

»Ich bin am 30. April 1853 in Wien als der jüngere Sohn des Dr. J. N. Berger geboren. Meine Mutter starb im Jahre 1858. Ich wuchs in größerer Stille und Weltabgeschiedenheit auf, als bei Kindern einer Großstadt, zumal wenn der Vater mitten im Strome des geselligen, geschäftlichen und politischen Lebens tätig ist, gewöhnlich zu sein pflegt. Der Winter verfloß in Wien, in der Stille des Hauses, zwischen Büchern, unter fleißigem Studium der vorgeschriebenen Lehrgegenstände unter Aufsicht eines Hauslehrers; der Sommer in den Gebirgen des oberösterreichischen Salzkammergutes, in innigem Verkehr mit Natur, Land und Leuten, wie er Stadtkindern meistens versagt ist. Meine Mittelschulprüfungen legte ich beim Schottengymnasium in Wien ab. Da ich nicht die Schule besuchte, fehlte mir der Verkehr mit Altersgenossen beinahe ganz; ich hatte nur meinen älteren Bruder als vertrauten Lern- und Spielkameraden. Diese Einsamkeit, angeborener Zwang, und der unmittelbare Einfluß wie das Beispiel meines Vaters, der uns an seinem tiefen und regen Geistes- und Seelenleben rückhaltlos teilnehmen ließ, gaben den früherwachten Kräften meiner Seele bald eine Wendung nach innen. Ich träumte viel und grübelte viel. Gedanken, mir neu und fremdartig, über Dinge, für die mir die Benennungen fehlten, beunruhigten und verwirrten mich, regten mich im Innersten auf – Gedanken, von denen ich erst später erfuhr, daß ihnen nachhängen, um sie womöglich zu Ende zu denken, Philosophieren heißt. Zugleich begann ich, mein Innenleben zu beobachten; mancherlei innere Erfahrungen häuften sich in meinem Gedächtnisse an; unwissentlich und unwillkürlich trieb ich Psychologie. Auch meinte ich, eine dichterische Ader in mir zu verspüren. Ich verlegte mich mit leidenschaftlichem Eifer auf dichterische Versuche. Im Herbst des Jahres 1870 besuchte ich als öffentlicher Schüler der achten Klasse das Schottengymnasium. Am 9. Dezember desselben Jahres starb mein Vater, dessen größte Erfolge und Ehren sowie sein leidensvolles Siechtum in die Jahre meiner Entwicklung fielen und diese verklärten und trübten. Im Sommer 1871 erhielt ich das Zeugnis der Reife zum Besuche einer Universität. In der vollen Gärung der Entwicklung, über alles im unklaren, am meisten über mich und meine Neigungen, wurde ich, einer Art von Familientradition folgend und instruktiv nach einem verständigen Gegengewicht gegen das, was in mir phantastisch war, suchend, was so viele werden, die nicht wissen, was sie werden sollen: Jurist. Wiewohl ohne tiefere Neigung, erledigte ich meine juridischen Studien mit Ehren. Daneben versenkte ich mich in das Studium Kants und Schopenhauers und strebte mit allem Ernste nach dichterischem Können. »Die Kunst zu lernen, war ich nie zu träge.« Wäre ich nicht schon früh zu der Einsicht gekommen, daß mein Talent nicht stark und stetig genug ist, um einem Dichterberufe zur Grundlage zu dienen, so würde ich mich wohl ganz der Dichtkunst gewidmet haben. Doch die bisweilen selbstmörderische Kritik, die meine Dichterkraft beeinträchtigte, bewahrte mich auch vor törichter Überschätzung derselben. Im Februar 1873, wenige Monate vor Ablegung der rechtshistorischen Staatsprüfung, schrieb ich eine einaktige, dem trojanischen Sagenkreise entnommene Tragödie: ›Oenone‹, welche alsbald vom Direktor Dingelstedt zur Aufführung am Hofburgtheater angenommen wurde und im folgenden September mit leidlichem Erfolge in Szene ging. 1875 beendigte ich meine juridischen Studien und erwarb 1876 den Doktorgrad. 1877 veröffentlichte ich ein Bändchen Gedichte und bereiste im Frühjahr und Sommer 1878 Italien und das südliche Griechenland. Im Jahre 1881 ließ ich eine Sammlung inzwischen entstandener Gedichte als Manuskript drucken und veröffentlichte 1882 in Grünhuts Zeitschrift eine rechtsphilosophische Abhandlung über ›Bewirken durch Unterlassen‹, welche ich im Herbst vorher verfaßt hatte, um mich an der juridischen Fakultät zu habilitieren, welchen Gedanken ich jedoch fallen ließ, da Fachleute meinten, meine Abhandlung sei eine rein philosophische. Im Jahre 1883 schrieb ich eine Flugschrift wider Du Bois-Reymonds Vortrag ›Goethe und kein Ende‹.

Mit philosophischen Spekulationen und Studien habe ich immer mich angelegentlich beschäftigt. Die Hauptwerke Kants, Humes und Lockes, die wichtigsten Schriften Descartes', vor allem seine Abhandlung über die Methode, welche ich auch ins Deutsche übertragen habe, darf ich wohl als die Werke bezeichnen, an denen ich mir über meine eigenen Gedanken am meisten klar geworden bin. Doch habe ich auch die Hauptschriften der beiden Mills, die Psychologie Brentanos und viele andere Bücher, die über philosophische Gegenstände handeln, mit Sorgfalt gelesen und durchdacht. Am meisten nachgedacht habe ich über die philosophischen Fragen, welche sich an das Kausalgesetz knüpfen, und über das Problem der individuellen Fortdauer nach dem Tode, vor allem über den Ursprung des Glaubens an eine solche. Alfred Freiherr v. Berger, i. u. Doktor.«

Diese im Juli 1885 eingereichte Eingabe Bergers führte zu dem am 13. November gefaßten Beschluß der Kommission (Zimmermann, Gomperz, Heinzel, Zeißberg), »in Rücksicht auf die einhellig anerkannten trefflichen Arbeiten des Kandidaten auf dem Gebiete der Philosophie, auf die hervorragenden Fähigkeiten und den gediegenen Charakter desselben beim Kollegium den Antrag zu stellen, Berger zu den weiteren Habilitationsakten zuzulassen.« Nach Erledigung der ferneren Förmlichkeiten kam es am 16. Juni 1886 zur Probevorlesung Bergers über das Thema: »Hielt Descartes die Tiere für bewußtlos?« Seine akademische Laufbahn, unter so günstigen Vorzeichen begonnen, schien raschen Aufstieg zu verheißen. »Eine Philosophieprofessur in Czernowitz wurde mir in nahe Aussicht gestellt. Aber vorher wollte ich noch einen Wunsch befriedigen, der mir von den Knabenjahren her (seit ich die prachtvolle Schmetterlingsammlung des Dr. Kajetan Felder gesehen hatte) nachgegangen war: Ostindien und Ceylon zu sehen. In den Jahren 1886 und 1887 führte ich diese Absicht aus.« »Als ich« – so berichtete Berger 1910 in dem Blatt »Wie ich zum Theater kam« weiter – »von der Reise heimgekehrt war, schickte sich Adolf Wilbrandt gerade an, die Leitung des Burgtheaters niederzulegen. Ich aber brachte den festen Vorsatz nach Hause mit, mich nun mit gesammelter Kraft auf die akademische Tätigkeit zu stürzen (die Czernowitzer Hoffnung war während meiner Abwesenheit zu Wasser geworden) und eine große biographische Arbeit über Descartes in Angriff zu nehmen. An das Burgtheater dachte ich nicht. Ich bezog eine Sommerwohnung in Mödling, um ungestört zu studieren. Eines Morgens, an einem strahlend schönen Sommertag, empfand ich ein Gelüsten, in die Stadt zu fahren. Ich ging einige Stunden lang in den Straßen spazieren und kam schließlich auf den Michaelerplatz. Als ich das Burgtheater erblickte, fiel mir ein, daß es noch keinen neuen Direktor habe, und urplötzlich zuckte mir der Gedanke durch den Kopf, ob denn das nicht etwas für mich wäre. Ob meine Vorbildung mich nicht mehr zum Theaterleiter prädestiniere als zum Professor?« Ähnliche Urteile über Bergers eigentlichen Beruf hegte Franz Brentano. Zur Verwirklichung dieses Vorhabens half Bergers alter Freund Baron Pidoll (nachmals auch Bergers Trauzeuge) mit, der ihn beim damaligen Generalintendanten Baron Bezecny als literarischen Beirat des provisorischen Leiters der ersten deutschen Bühne nachdrücklich empfahl. 1887 wurde Berger zum artistischen Sekretär des Burgtheaters ernannt, und er bewährte sich in dieser Stellung als Beistand Sonnenthals und des bald nachher zum Direktor berufenen August Förster so trefflich, daß er allgemein als kommender Mann angesehen und scherzhaft der »Erb-Förster« des Burgtheaters genannt wurde. In den heiklen Zeiten der Übersiedlung aus dem alten Haus am Michaelerplatz in den neuen Prunkbau am Franzensring zeigte sich Berger gelehrig und tatkräftig, in allen künstlerischen und praktischen Aufgaben gleicherweise bedacht, das Rechte zu treffen. Die Abschiedsvorstellung im alten Burgtheater schloß mit einem von Sonnenthal vorgetragenen, von Berger gedichteten Epilog, der die Krone seiner zahlreichen, sinnvollen Improvisationen zu festlichen Anlässen bleibt. Eine Theaterrede, die unmittelbar an den Scheidegruß Iphigeniens anknüpfte und mit dem Gelübde ausklang, im neuen Haus das alte Burgtheater fortzuführen im Geiste der Überlieferungen Lessings, Kaiser Josefs und Schreyvogels. Wenige Monate nach diesem für die deutsche Theatergeschichte bedeutsamen Abend starb Förster auf dem Semmering, jählings von einem Herzschlag getroffen. Zu einem ihm amtlich angebotenen Provisorium unter Sonnenthals Oberleitung mochte sich Berger nicht verstehen: so gab er – nach der Ansicht seiner besten Freunde vorzeitig – seine Entlassung als artistischer Sekretär. Wilbrandt und Speidel traten öffentlich für Bergers Berufung zum Direktor ein; ebenso der Schreiber dieser Zeilen, der im März 1890 in der Münchener »Allgemeinen Zeitung« nach der Ernennung des bis dahin nur als Rechtsgelehrter namhaft gewordenen Max Burckhard zum artistischen Sekretär sich zu der Meinung bekannte: »Die heutige Lage des Burgtheaters ist mindestens ebenso verzweifelt wie unmittelbar vor der Berufung von Schreyvogel und Laube. Es verlangt eine Auffrischung seiner Mitglieder, eine Erneuerung seines Repertoires, vor allem aber einen Direktor, der hinter den genannten größten Dramaturgen nicht allzuweit zurückstehen dürfte. Ein Wundermann der Art wird freilich leichter begehrt als gefunden; gibt es doch, nach Wilbrandts Wort, unter den 40 Millionen Deutschen vielleicht keine vier, welche zum Amt eines Burgtheaterdirektors berufen wären. Einer der wenigen, welche alle Stimmfähigen eines Versuches würdig erklärt haben, war Alfred Berger. Ein Wiener Kind, der Sohn eines unserer namhaftesten Parlaments- und Staatsmänner, hat sich Alfred Berger in jungen Jahren als Lyriker und Dramatiker hervorgetan, bald aber mit weiteren dichterischen Arbeiten nicht mehr an die Öffentlichkeit gewendet. Trotz der strammen Zucht juristischer und philosophischer Fachbildung hat er als Privatgelehrter die alte Liebe zur Poesie treu gepflegt: ist er mit dem Ernst, den keine Mühe bleichet, den Geheimnissen dichterischen, zumal dramatischen Schaffens nachgegangen, ist er auch im Studierzimmer ein dankbarer Schüler des Burgtheaters geblieben. Als Wilbrandt ging und Sonnenthal zeitweilig mit der Direktion betraut wurde, hat man für den stillen Forscher und Kenner die halbverschollene Würde eines artistischen Sekretärs neu belebt. In dieser Stellung hat sich Berger nach dem Urteil aller Berufenen als Arbeitskraft ersten Ranges, gelehrig in allem Technischen, geneigt und geschickt, auf die Bedürfnisse des Tages einzugehen, ohne die Forderungen der hohen Kunst jemals preiszugeben, kurzum als ein Ideal bewährt. Beim Abschied vom alten Burgtheater ward ihm die Ehre zuteil, als Sprecher der Jugend Neu-Wiens zu epilogieren; in schlichten, warmen Worten hat er damals gesagt, was unser aller Herzen bewegte, und in den Schlußstrophen ausgesprochen, was fortan jeder neue Direktor zu Ehren bringen soll: ›den alten Geist im neuen Burgtheater‹. Die nähere Erläuterung zu diesem Grundtext hat Berger in den Vorlesungen gegeben, welche er an der Universität Wien im letzten Winter über ›Ästhetik des Dramas‹ hielt: diese Vorträge sind so gescheit, so unmittelbar aus der Anschauung und Erfahrung eines auch theoretisch vollbewanderten Theaterkenners hervorgegangen, daß sie nicht unwert sind, neben Schreyvogels ›Sonntagsblättern‹ genannt zu werden. Mit all diesen Talentproben und Vorarbeiten hat nun Baron Berger gewiß noch lange nicht den Beweis erbracht, daß er der beste, ja auch nur ein leidlicher Dramaturg des Burgtheaters wäre; wohl möglich, daß der mustergültige Sekretär als Direktor nicht die nötige Festigkeit, auf Entdeckungsreisen nicht das richtige Spürtalent bewiesen hätte. Eines Versuches aber mußte er gewürdigt werden, und eines Versuches wäre er auch gewürdigt worden, ja, er säße zur Stunde ohne Frage an Försters Stelle, wenn er nicht seiner Neigung gefolgt und die erste Naive, nicht nur des Burgtheaters, Stella Hohenfels, zur Frau genommen hätte. Ein strenges, bureaukratisch streng eingehaltenes Hausgesetz lautet nun, daß niemand, der mit dem Burgtheater verheiratet sei, Direktor werden könne; diese alte (von Wilbrandt geradezu töricht genannte) Satzung hat man offenbar auf die Spitze treiben wollen mit der Berufung des Dr. Burckhard, der weder mit der Bühne, ja auch nur mit der dramatischen Kunst jemals in dem entferntesten Schwägerschaftsverhältnis gestanden. Es wäre eine traurige Genugtuung für die Parteigänger der Kandidatur Bergers, wenn eine erste Bühne des Deutschen Reiches in nicht allzu ferner Zeit seine bedeutende Kraft in ihren Dienst stellen würde.«

Ich habe diesen – vor einem Vierteljahrhundert geäußerten – Ansichten nichts wegzunehmen. Berger war und blieb auch außerhalb des Burgtheaters einer seiner eifrigsten Helfer und Förderer. Als Meister der Rede und als Meister der Feder, als geistiger Führer seiner Frau und als anregender akademischer Lehrer war er darauf bedacht, das Erbe einer großen Vergangenheit zu hüten und zu mehren. Als Professor der Ästhetik an der Universität Wien wandte Berger sein Hauptaugenmerk der Ergründung der dramatischen Kunst zu. Als selbständiger Kopf gab er zur Verdeutschung der Poetik des Aristoteles von Theodor Gomperz in die Tiefe dringende Betrachtungen. Shakespeares Dramen, obenan den »Hamlet«, prüfte, zergliederte und durchleuchtete er unablässig wie seinen Doppelgänger als Denker und Dichter. Spanier und Franzosen, Griechen und Italiener, die deutschen Klassiker, Grillparzer, Kleist und seinen besonderen Liebling Hebbel pflegte er mit künstlerischer Kraft. Der neuen Richtung begegnete Berger, obwohl oder just weil er für Kleist, Hebbel und Otto Ludwigs Schiller-Kritik viel übrig hatte, zunächst zögernd. Die Beweglichkeit seines Geistes, die Schärfe seiner Zunge, die Stärke seiner Alt-Wiener Theatertraditionen stimmten Berger vielfach ironisch, spröde und streitbar gegen die Übertreibungen des Naturalismus in der neudeutschen Dichtung, Kritik und Schauspielerei. Die Wandlungen Gerhart Hauptmanns, die Bedeutung Ibsens erkannte und anerkannte Verger trotzdem mit voller Empfänglichkeit für ihre Künstlergaben, mit unbefangener Erkenntnis ihrer Schwächen und Grenzen. Die Proben, die Berger in seinen »Dramaturgischen Vorträgen« (1890, 2. Aufl. 1894), »Studien und Kritiken« (1900), in dem Büchlein »Drama und Theater« (1900), in zahlreichen Aufsätzen der »Neuen Freien Presse«, der »Presse«, der »Wage« und der von ihm mit Karl Glossy begründeten »Österreichischen Rundschau« u. s. w. gab, sind nur ein geringer Niederschlag der Ideen, die sich in seinem ruhelosen Gehirn drängten und in ungezählten Kursen, Gesprächen und Selbstgesprächen nach Ausdruck rangen. In zwei Vorträgen: »Einiges über mich selbst«, die Berger zum Abschluß seiner Vorlesungen im Wiener Frauenerwerb-Verein hielt und als Dank für seine Ernennung zum Ehrenmitglied desselben als Privatdruck an Freunde verteilte (jetzt Nachgelassene Schriften, I, 378 ff.), hat Berger uns in seine Werkstatt blicken lassen, und sicherer als jedes fremde Zeugnis in diesem Selbstbildnis den Reichtum, zugleich allerdings den in Selbstquälerei umschlagenden, bisweilen krankhaften Charakter seiner Gedankenwelt erkennen lassen. Eine lehrreiche Ergänzung zu dieser Gewistenserforschung geben die gleichfalls aus dem Jahre 1900 stammenden Jugenderinnerungen »Im Vaterhaus«, die Bergers junge Leiden, die ersten Stufenjahre des ebenso poesievollen als grüblerischen Knaben, Familiengeschichten und Kindheitseindrücke schonungslos, wie ein Nervenarzt, und dabei mit der gegenständlichen Gewalt eines, Turgenjew siegreich nachstrebenden, geborenen Erzählers festhalten. Diese Lebensurkunden werden jedem kommenden Biographen Bergers mit seinen handschriftlich erhaltenen Briefen an den Kreis naher Jugendfreunde (dem Kriminalisten Lammasch, dem Nationalökonomen Wieser, dem Chirurgen Hacker) als feste Fundamente dienen: das ganze Geheimnis seiner edlen, rätsel- und widerspruchsvollen Persönlichkeit wird sich aber nur dem erschließen, der an der Hand der Jugendtagebücher seines dichterisch und philosophisch wesensverwandten Vaters den innerlichen Zwiespalt dieser ungewöhnlichen Natur zu verstehen vermöchte. Beide haben trotz aller äußeren Ehren und Erfolge zeitlebens daran gelitten, daß ihr Tatendrang nicht in der entscheidenden Stunde den Wirkungskreis fand, den sie für den richtigen hielten: J. N. Berger, der Sprechminister des Bürgerministeriums, kam in Gegensatz zu denjenigen seiner Kollegen, aus deren Partei er hervorgegangen war. Alfred Berger wurde nicht im rechten Augenblick in das Amt berufen, in dem er glaubte, seine Lebensaufgabe am besten lösen und zugleich seinem heißgeliebten Österreich am wirksamsten nützen zu können.

Nach Burckhards Sturz 1898 wiederum übergangen, entschloß er sich, einem überraschenden Ruf nach Hamburg zu folgen, wo er 1900 das neugegründete, nach seinen Wünschen erbaute Deutsche Schauspielhaus fast ein Jahrzehnt hindurch leitete, durchweg als Schüler des alten Burgtheaters und zugleich als Neuerer, der, wie kein anderer vor und nach ihm, in Hebbel-Zyklen das ganze dramatische Lebenswerk des großen (nach Bergers Urteil: des größeren) Vorgängers von Ibsen auf der Bühne vor Augen stellte. Berger offenbarte sich in den Jahren 1900 bis 1909 als einer der fähigsten und leistungsfähigsten deutschen Theatermänner seiner Zeit, als tatendurstiger Führer und Bildner seiner Leute, dessen Spur und Vorbild nicht vergehen wird. Vor einseitiger Bevorzugung einzelner oder gar einer einzigen Richtung behütete ihn sein Kunstgeschmack, die alte Vertrautheit mit den Meistern der Weltdichtung. Vor törichtem, im Theaterbetrieb einer Großstadt unmöglichen Rigorismus bewahrte ihn wiederum nicht nur sein kluger Sinn, das Verständnis für die Notwendigkeit einer gesunden Haushaltung, sondern seine frische Empfänglichkeit auch für die Sorgenbrecher des Tages, sein lebendiges Mitgehen als Probenleiter und Zuschauer, der wohl wußte, wie heilsam anspruchslose Schwänke und volksmäßige Schnurren die Stimmung vorbereiten für ernste Schöpfungen und schwere Anforderungen an Darsteller und Theatergänger. Was Berger als Leiter des Deutschen Schauspielhauses anstrebte und auch an der Elbe zur unerläßlichen Umgestaltung des überkommenen Stiles an der Donau für die Zukunft des Burgtheaters im Auge behielt, hat er 1910 in dem Sammelband: »Meine hamburgische Dramaturgie« mit alter Beredsamkeit verkündet.

Aber den Umfang von Bergers Leistungen gab 1910 unbefangensten Aufschluß sein Nachfolger in der Leitung des Hamburger Schauspielhauses Karl Hagemanns: »Schon eine flüchtige Beschäftigung mit den (im »Statistischen Rückblick« vereinigten) Tabellen wird dem Leser zeigen, daß im Deutschen Schauspielhause während der ersten zehn Jahre seines Bestehens ungemein fleißig und systematisch gearbeitet worden ist. Obwohl die Gründer ursprünglich beabsichtigt hatten, ein vorwiegend modernes Theater zu schaffen, legte die Leitung sehr bald den künstlerischen Betrieb auf die Pflege eines gemischten Repertoires, wobei dann die Klassiker ganz besonders bevorzugt wurden. Und heute ist der Spielplan des Deutschen Schauspielhauses so reichhaltig und so vielseitig, daß es in dieser Hinsicht wohl von keinem Theater deutscher Zunge erreicht wird. Man hat im ersten Dezennium 3162 Vorstellungen von 317 Stücken gegeben: von Stücken aller Arten, aller Völker und Zeiten. Den Grundstock des Repertoires bildeten also die Klassiker und dazu natürlich Shakespeare, unser Urklassiker. Von Schiller wurde so ziemlich alles gespielt, von Goethe ebenfalls alles bis auf die frühen Einakter, ›Stella‹ und ›Götz‹, von Lessing ebenfalls alles bis auf ›Miß Sampson‹. Hebbel hat mit seinen sämtlichen Werken den Spielplan geradezu beherrscht. Auch Kleist war gut vertreten, Grillparzer sogar sehr gut.« »Auch aus Shakespeares Lebenswerk gab es eine reichliche und geschickte Auswahl.« »Molière steuerte im ganzen vier Werke bei.« »Von den Nachklassikern wurden Otto Ludwig und Anzengruber hinreichend berücksichtigt.« »Neben Björnson hat man vor allem Ibsen in den Vordergrund gestellt. Von neueren Theaterdichtern hat man Dreher, Halbe, Hirschfeld, Schönherr und Wildenbruch ziemlich oft, Hauptmann, Sudermann und Otto Ernst sogar sehr oft gespielt.«

Nach dem Sturz Schlenthers sah sich die Wiener oberste Hofbehörde veranlaßt, Berger die Leitung des Burgtheaters anzubieten. Die Hamburger taten alles Erdenkliche, ihn festzuhalten. Berger schwankte eine Weile. Nach harten Kämpfen, die zu schmerzlichen Mißverständnissen mit alten Hamburger Getreuen führten, entschied er sich schließlich für Wien. In der kurzen Spanne Zeit, die dem überarbeiteten, schon von tiefsitzenden Leiden Heimgesuchten vom Schicksal zugemessen war, hat er, ungeachtet mancher Hemmungen und Gegnerschaften, als echter Jünger des Burgtheaters das gediegene Alte (Shakespeare, Calderon, Goethe, Schiller, Grillparzer, Hebbel, Otto Ludwig) gepflegt und die begabtesten Neueren (Schönherr, Schnitzler) bevorzugt, darüber Alltagskost, wie »Die fünf Frankfurter«, nicht verschmäht, die fröhlichen Leistungen des alten Burgtheaters im heiteren Gesellschaftsstück durch aufmunterndes Anwerben heimischer und ausländischer Lustspieldichter erneuert, nur lang geplante Lieblingsaufgaben (»Hamlet«, »Heinrich VIII.«, Hebbel-Zyklus) leider, durch unbesiegbare Krankheit vorzeitig gefällt, nicht mehr lösen können.

Inmitten aller Sorgen und Anfechtungen der letzten Wiener Jahre hat Berger überdies Kraft und Lust gefunden, im »Buch der Heimat« 1911 gesammelte Landschaftsbilder, Erinnerungen und Dichterporträte und kurz vor seinem Ende in der Novelle »Hofrat Eysenhardt« ein grausames, nur allzu lebenstreues Charaktergemälde aus der österreichischen Richterwelt zu schaffen: Leistungen, die für sich allein genügen würden, sein Andenken dauernd in der Geschichte der deutschen Prosa zu erhalten. Was seine Frau, seine Familie und sein Freundeskreis an ihm verloren haben, ist so schwer in Worte zu fassen wie sein Wesen. Mit allen Eigenheiten und Widersprüchen, trotz aller gelegentlichen Wandelbarkeit seiner Entschlüsse, die dem Für und Gegen aller Dinge, den Irrgängen der Spekulation und Wirklichkeit sich nicht so leicht verschließen konnten wie gehärtetere Charaktere oder gedankenärmere, war Berger im Kern eine rechte Künstlernatur, dem Dichtung und Philosophie, das Vaterland und die Seinigen Lebens-, nicht Lippendienst waren. Die Gemeinde Wien widmete Berger ein Ehrengrab, gerade gegenüber der Ehrengruft Schreyvogels.

Worte, die ich unter dem unmittelbaren Eindruck der Todesnachricht am 26. August 1912 schrieb, mögen zeigen, wie sein Bild im Kreise seiner Freunde lebte:

»In meiner Ferienruhe trifft mich die Aufforderung des verehrten Herausgebers der ›Allgemeinen Zeitung‹, Alfred Berger ein Wort des Nachrufes zu widmen. In der Hauptsache wäre nur zu wiederholen, was ich in dem ersten Wiener Theaterbrief, den ich vor mehr als zwanzig Jahren in diesem Blatte schrieb, aussprach: Berger hätte das Zeug in sich gehabt, ein zweiter Schreyvogel für das Burgtheater zu werden. Ein Wort, das eine wehmütige Bekräftigung durch den Beschluß des Wiener Stadtrates erhält, dem Frühgeschiedenen ein Ehrengrab einzuräumen gegenüber der Stätte, die vor wenigen Monaten auf dem Wiener Zentralfriedhofe den vom Währinger Gottesacker dorthin überführten sterblichen Überresten Schreyvogels mit einer feierlichen Zeremonie gestiftet wurde. Ihr Hauptstück war eine Gedächtnisrede, wie sie mit gleicher Kraft des Wortes, mit gleicher Kunst der Charakteristik nur Alfred Berger zu halten vermochte.

Grillparzers in den Kern der Persönlichkeit seines Entdeckers Schreyvogel eindringender Nachruf: es war Liebe in seinem Umfassen, gilt im höchsten Maß von Bergers Fähigkeiten, Dichter, Denker, Darsteller der verschiedensten Zeiten, Völker und Begabungen zu verstehen, zu schildern und in lebendiger Rede jedem Empfänglichen vor Augen zu stellen. Schon in einer Anzeige seiner vor zwei Jahrzehnten bei Cotta gedruckten ›Gedichte‹ habe ich ihn wiederum in der ›Allgemeinen Zeitung‹ den Sprecher des geistigen Adels in Österreich genannt: damals stand Berger erst in den Anfängen einer akademischen, journalistischen und theatralischen Laufbahn, die Hörern und Lesern in Süd und Nord Meisterstücke der Improvisation, wie seine Fest- und Gedächtnisreden auf Mozart, Hebbel, Grillparzer bringen sollte: Schöpfungen, in denen Form und Gedanke einander vollkommen durchdringen. Blättchen, die mehr Geist und Anregung bieten als tausend Durchschnittsbiographen und pfundschwere ›Lederadur‹-Geschichten. Die Leichtigkeit, mit der Berger schlagfertig jedem Ruf standhielt und andere Male im Dienst des Augenblicks Tolstois, Björnsons, Wilbrandts Lebenswerk scharf und wahr bis zur Schonungslosigkeit ergründete, zeugt dafür, daß er nichts weniger als ein Schönredner, sondern einer der wenigen selbständigen Köpfe seiner Zeit war, die den Mut und zugleich Geist genug besaßen, im Wirrwarr der Gegenwart Urteile zu fällen, die vielfach von der Nachwelt übernommen werden dürften. Er wäre geschaffen und berufen gewesen, als dichterisch angelegter, den gesündesten und heikelsten Naturen mit derselben Überlegenheit nachspürender Kenner einer der bemerkenswertesten Führer und Ärzte des modernen Kunstgeschmackes zu werden. Und die wenigen Bände, die bisher von seinen Studien gedruckt in die Welt gingen, dürften durch neue, ausgiebigere Proben aus dem Nachlaß bereichert, seine Geltung immer stärker beglaubigen, Alfred Berger dicht neben Schreyvogel, Feuchtersleben und Kürnberger rücken, als österreichischen Meisterkritiker.

Wer nun gar mit dem unversieglichen Redner in jahrzehntelangem, lebendigem Gedankenaustausch stand, konnte Berger nur als Geisteswirt ohnegleichen bei jeder neuen Begegnung willkommen heißen. Dramatiker, Philosophen, Politiker, Größen und Narren zeigte er, einmal in tiefgründender Betrachtung, andere Male mit einem wie Höllenstein ätzenden Witzwort, ein drittes Mal mit jugendlicher, der Berichtigung bedürfender Überschwenglichkeit. Stets, wo er irrte und wo er ins Schwarze traf, als Mann, der nur aus dem Eigensten schöpfte.

Daß ein solcher Reichtum der Ideen und Kenntnisse, eine solche rastlose Forscherfreudigkeit seit der ersten Jugend kein höhers Ziel kannte als Burgtheaterdirektor zu werden, ist mir – so hoch ich die Bedeutung der ersten Wiener Bühne einschätze – je länger ich mit Berger zusammenlebte, desto rätselhafter geworden. Sein Abgott, Shakespeare, konnte nicht eilig genug das Globe-Theater im Stiche lassen und wie sein Prospero die Stille seiner weltabgeschiedenen Zauberinsel suchen. In dieser maßlosen Leidenschaft, Bühnenkönig zu sein, hat Berger andere, seinen seltenen Naturanlagen gemäßere Lebensaufgaben vertagt: die Grillparzer-Biographie, die er mir für die Sammlung ›Führende Geister‹ kontraktlich verbriefte, hat es nur zu Bruchstücken gebracht, wie seine Shakespeare-, Dante-, Aristoteles-Studien. So muß seine Grabschrift lauten, wie die von Grillparzer auf Franz Schubert gemünzte: Hier begrub die Kunst einen reichen Besitz und noch viel größere Hoffnungen. Besonders tiefsinnige Nekrologisten haben Alfred Berger angesichts dieser und vieler anderer Unbegreiflichkeiten seines Wesens ›zwiespältig‹ genannt. Er war ein bißchen verwickelter: tausendspältig und tausendfältig im besten und im bedenklichen Wortsinn. Wer ihn gekannt, wird ihn nie vergessen, und wer dem Sterbenden ins Auge geblickt, wie ich bei einem dreistündigen Besuch, mit dem er mich – es war wohl einer seiner letzten Ausgänge – am 12. August überraschte und durch eine aufrichtige Darstellung seiner Leiden bewegte und gleich nach einem mühsam bezwungenen Tränenerguß durch feurige Mitteilungen über kommende Arbeitspläne zur Begeisterung hinriß, weiß, daß dieser einzigen Persönlichkeit, einem der bedeutendsten und merkwürdigsten Österreicher unserer Tage, dem außerordentlichen Künstler, diesem reichen Geist nicht ein in der ersten Stunde nach dem Verlust hingeschriebenes flüchtiges Wort gerecht werden kann. Er hat sein Bestes nur ahnen lassen. Was er an Arbeiten zurückließ, ist gleichwohl ansehnlicher als die Ernten ungezählter, satter Mittelmäßigkeiten. Sein Leben und sein Lebenswerk wird eines der fragmentarischen, sibyllinischen Bücher Wlassack, Chronik des Burgtheaters, 1876. – Die Theater Wiens: Weilen, Geschichte des Hofburgtheaters, 1902. – Otto Rub, Das Burgtheater. Statistischer Rückblick, Wien 1913. – Speidel, Persönlichkeiten. Ein Wiener in der Fremde. – Ludwig Gabillon. Von Helene Bettelheim-Gabillon, 1900. – Anton Bettelheim, Acta diurna: Aus dem Burgtheater, 1899. – Wilbrandt, Erinnerungen, 1905, S. 71 ff., 189 ff. – Adolf v. Sonnenthal, Briefwechsel, 1912. Herausgegeben von Hermine v. Sonnenthal. – Das erste Jahrzehnt des Deutschen Schauspielhauses, Hamburg 1910. – Biographenwege. Von Anton Bettelheim. (Zum 60. Geburtstag Alfred Bergers. Gedenkrede.) Paetel, 1913. – Nekrologe der Wiener und Berliner Blätter, 1912. Nachrufe von Wilhelm Freiherrn v. Berger und Gisela v. Berger. – Bergers Dichtungen und Schriften sind 1912 in Kürschners Literaturkalender verzeichnet. Beizufügen: Alfred Freiherr v. Berger, Gesammelte Schriften. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Anton Bettelheim und Karl Glossy. (1. Autobiographische Schriften. 2. Gedichte, Oenone, Aphorismen. 3. Reden und Aufsätze.) Wien 1913. Bilder von Liebermann, Relief von Treßler (im Wiener Städtischen Museum). Büste von Kauffungen auf dem Zentralfriedhof in Wien. Büste von Andriesen im Hamburger Deutschen Schauspielhaus als Gegenstück zur Kolossalbüste Hebbels. bleiben, das der Pflege, der Liebe und der Deutung der Edlen wert und bedürftig ist. Ein Dichterwort, das er oft und gern im Munde führte:

Denn der Mensch im Leichentuch
Ist ein zugeklapptes Buch

wird sich an ihm selbst nicht bewahrheiten. Man wird oft und oft auf ihn zurückkommen, den Gedankenschatz, den er nicht geizig verschloß, ausmünzen, seine handschriftlichen wie seine weit zerstreuten gedruckten Blätter in Bände sammeln und immer fleißiger, immer dankbarer aufklappen.«

II.

Zur Wiederaufnahme von Alfred Bergers »Oenone«.

Unter den mir vor Jahr und Tag gütigst anvertrauten Briefen Alfred Bergers an seinen Jugendfreund, den Universitätsprofessor der Chirurgie Dr. Viktor v. Hacker, finden sich die folgenden Zeilen des Zwanzigjährigen:

Lieber Freund!

Der Dienstmann, den ich zu Dingelstedt sandte, überbrachte mir folgendes Schreiben:

»Dem Dichter des Trauerspiels ›Oenone‹

herzlichen Dank für dessen gefällige Mitteilung. Direktion und Regie des k. k. Hofburgtheaters haben in dem Stücke eine, von echtem und hervorragendem Talent zeugende, ebenso stimmungsvoll als stilvoll ausgeführte Dichtung mit einstimmiger Befriedigung kennen gelernt, deren Aufführung wohl nicht den lauten Erfolg einer wirksamen einaktigen Lustspiel-Bluette, wohl aber einen tiefen nachhaltigen Eindruck in dem auf ernstere Aufgaben eingehenden Publikum verspricht.

Demzufolge wird die Annahme des Trauerspiels ›Oenone‹ für das k. k. Hofburgtheater vom Unterzeichneten bei der hohen Hoftheaterbehörde beantragt werden.

Will der geschätzte Verfasser sich persönlich zu erkennen geben, so kann mündlich die Verhandlung über die Einzelheiten der Aufführung erfolgen.

Wien, den 28. Mai 1873.

Der k. k. Hofrat,
Direktor des k. k. Hofburgtheaters
Fr. v. Dingelstedt.«

Was sagst Du dazu?

Mit herzlichen Grüßen
Dein Freund Berger.
Wien, den 31. Mai 1873.
5 Minuten nach Empfang der Botschaft.

 

Die freudige Überraschung Hackers und des anderen, in das Geheimnis gezogenen nächsten Vertrauten Bergers, Heinrich Lammasch, war sicherlich mindestens ebenso groß, wie die des jungen Dichters, der ein Vierteljahr zuvor, im Februar 1873, das einaktige Trauerspiel »Oenone« innerhalb weniger Tage niedergeschrieben hatte. »Der poetische Trieb, die dem Quintus von Smyrna entnommene Fabel dramatisch zu formen, ergriff mich, als ich mich, kaum 20 Jahre alt, zur rechtshistorischen Staatsprüfung vorbereitete. Obwohl ich von der Grillparzer nachempfundenen kleinen Tragödie ziemlich bescheiden dachte, vermochte ich doch der Versuchung nicht zu widerstehen, sie dem von Dingelstedt geleiteten Burgtheater unter der Chiffre D. R. einzureichen. Der Bote, den ich etliche Wochen nachher in die Theaterkanzlei sandte, um die Antwort abzuholen, überbrachte mir« – so erzählte Berger Pfingsten 1910 in dem Blatt »Wie ich zum Theater kam« – »ein Schreiben Dingelstedts, in welchem mir mit höchst schmeichelhaften Worten die Annahme des Stückes angezeigt wurde. Da lüftete ich mein Inkognito und stellte mich Dingelstedt persönlich vor. Er teilte mir mit, daß die Aufführung noch im Sommer 1873 stattfinden werde. Bald nachher wurde auch das Datum in den Zeitungen veröffentlicht. Wer beschreibt aber meinen Schrecken, als ich sah, daß dieses Datum der nämliche Tag war, an welchem ich die rechtshistorische Staatsprüfung ablegen sollte! Mit Aufgebot aller Willenskraft zwang ich das Fieber der Erwartung nieder und ließ mich im angestrengten Studium der Pandekten nicht beirren. Diese Selbstbeherrschung wurde belohnt, denn bald meldeten die Blätter, daß die Aufführung auf den Herbst verschoben sei. Ich konnte die Staatsprüfung mit innerer Ruhe und gutem Erfolge bestehen.«

Im Gespräch und Briefwechsel mit seinem Bruder, Hacker und Lammasch war bis zum 18. September 1873, dem Tag der Uraufführung der »Oenone«, begreiflicherweise beständig die Rede nicht nur von dem künftigen Schicksal dieses dramatischen Erstlings, sondern von neuen lyrischen und theatralischen Schöpfungen Bergers, der seit seinem Eintritt in das Schottengymnasium von Professor Hugo Mareta und allen Kameraden dermaßen als princeps juventutis erkannt und anerkannt wurde, daß ihm wie selbstverständlich die Abfassung der Huldigungsadresse der Oktavaner zu Grillparzers achtzigstem Geburtstag zufiel: nach einer freundlichen Aufzeichnung von Hofrat Lammasch »wohl sein erstes Schriftstück, das in die Öffentlichkeit gelangte. Leider hinderte ihn der kurz vor dem Festtage eingetretene Tod seines Vaters, an der Deputation teilzunehmen, die diese Adresse überreichte«. Die Hoffnungen, die die Schottenschüler auf den dichterisch Begabtesten ihres Kreises gebaut hatten, bestärkten sich durch neue Proben seiner den Freunden bescherten, mehr als einmal in den Text seiner Briefe verwebten Verse und Entwürfe. So schreibt er dem erkrankten Hacker am 1. August 1873: »Mein heutiger Brief soll nur bezwecken. Dich auf ein paar Augenblicke zu zerstreuen, womöglich zu erheitern, welche letztere Wirkung ich, wenn die Zeitungen in ihrem Urteil über mich recht haben, am sichersten durch Mitteilung eines neuen Planes erreichen dürfte. Das Wichtigste zuerst: ich war gestern bei Lewinsky und verbrachte bei ihm eine sehr interessante und genußreiche halbe Stunde. Lewinsky sprach sehr anregend über Otto Ludwig und Grillparzer, wobei er verschiedene, immer geistvolle Bemerkungen über Publikum und Kritik und das Verhältnis der Bühne zu beiden fallen ließ. Zum Schluß gab er mir eine Abschrift der drei Expositionsszenen einer ›Genoveva‹ von Otto Ludwig, die nicht gedruckt sind, nach Hause mit. Diese drei Szenen sind ein Meisterwerk der Exposition.« »Ich habe jetzt so lange gerastet,« schreibt er einige Zeit hernach, »daß ich hoffe, diesen Winter ein Stück zu vollenden. Welches? weiß ich nicht. Von großer Wichtigkeit wird dabei das Urteil Dingelstedts sein. Am liebsten wäre mir ein Stück, dessen Mittelpunkt das Verhältnis zwischen Mann und Weib bildete. Alle Leidenschaft, die nicht im Geschlechte wurzelt, brennt höchstens so, wie der Frost brennt; man ist genötigt, mit Reflexion zu operieren und selbst die schärfste Reflexion kann den zuckenden Nerv inneren Lebens nicht bloßätzen. Ohne eine Absicht auszusprechen, teil' ich Dir mit, daß mich der Stoff Maria Stuart-Darnley fesselt. Mit einer Ehe zwischen der Königin und Darnley, dem Untertan von starkem Charakter, ist ein interessanter Konflikt schon gegeben. Kommt noch die idealistische, zum Günstling geschaffene Gestalt des Sängers Rizzio hinzu, so ist eine tragische Katastrophe schon notwendig. Dem ganzen setzt Bothwell, der aus Ehrgeiz auch lieben kann, die Krone auf. In dem Stück gäbe es somit drei Sorten Männer. Das alles sind nur vorläufige Reflexionen, die ich nur zu Papier bringe, um sie mir selbst klar zu machen.« (Augenscheinlich kannte der junge Berger den Erstling der Ebner damals noch nicht »Maria Stuart in Schottland«. Von M. v. Eschenbach. Als Manuskript gedruckt. Wien 1860, Druck von Ludwig Mayer.)

Erwartungsvoll meldet er dem Freunde dazwischen jede neue, mittelbare oder unmittelbare der »Oenone« geltende Meldung. Michael Klapp erzählte ihm, daß Sonnenthal die »Oenone« sehr gelobt habe. Von anderer Seite erfährt er, daß »die Wolter ihre Rolle mit Enthusiasmus studiere. Ich muß bekennen, daß mir das – nicht unangenehm zu hören war. Gespannt bin ich auf die erste Begegnung mit ihr. Sollte die ›Oenone‹ am 19. September gegeben werden, so müßte ich wohl am 17. von hier« (Ischl) »abreisen, um Dingelstedt und allenfalls auch die Schauspieler, besonders die Wolter, noch vor der Aufführung zu besuchen, was, da sie einmal den Dichter kennen und leicht erfahren werden, daß er in Wien weilt, unvermeidlich und nicht unersprießlich sein dürfte. Die erste und zweite Aufführung möcht' ich doch auch sehen.«

Berger war denn auch zur Stelle, als am 18. September die Neuigkeiten »Oenone«, Feuillets »Seiltänzer« und Benedix' »Isidor und Athanasia« gespielt wurde. »›Oenone‹, das Trauerspiel«, heißt es in der Vornotiz Speidels, »wurde freundlich ausgenommen, der Verfasser gerufen; der letztere, Alfred Berger, ist nicht ohne Talent, aber seine Arbeit ist unreif und haltlos. Der Abend gehörte den Schauspielern.« Man sieht, der Hauptkritiker hielt sich nicht an die Lessingsche Regel: »Gelind gegen den Anfänger.« Noch härter lautete der ausführliche Bericht. »Paris sei der Don Juan des Altertums. Das ist das Trauerspiel ›Oenone‹, das eigentlich aus zwei großen Duetten besteht. Es ist mehr Talent, als Kunst drin. (Ungefähr das Gegenteil dieser Ansicht äußerte Heyse mir gegenüber nach der Übersendung des Neudruckes der »Oenone« in den Nachgelassenen Schriften, 1913; er erkannte die dramatische, mehr auf Halm, als auf Grillparzer weisende Technik, die er höher stellte als die poetische Kraft.) Sinn für dramatische Wirkung sei durchaus vorhanden; nicht selten falle ein hübsches sinniges Wort. Psychologische Motivierung und Durchführung seien dagegen sehr schwach. Es bekunde wenig tragischen Sinn, wenn man die Eitelkeit, das Geckentum, und das sei ja die Seele dieses Paris, zur Angel eines Trauerspieles mache. Lauter Gelenke und keine geraden Knochen: das mache, daß dieser einzige Aufzug so lang erschien, wie fünf Akte. Sprache und Vers seien ganz unselbständig; der Verfasser habe sie aus Grillparzers Munde genommen. Wir wollten, der Verfasser schriebe einmal ein Stück in ehrlicher Prosa, dann würde sich ja zeigen, ob er etwas zu sagen habe. Für den Schauspieler bietet dieses Trauerspiel keine erfreulichen Aufgaben. Doch hätte Herr Krastel den Paris bester geben können, den er teils gleichgültig, teils polternd herunterarbeitete. Frau Wolter als Oenone wirkte nur ganz allgemein durch ihre Erscheinung und ihr Können; eine individuelle Gestalt war sie nicht.«

In aller Aufrichtigkeit sei bekannt, daß wir keinen Satz dieses überstrengen Urteils unterschreiben. Der einfachste Vergleich des einaktigen Trauerspieles von Berger mit der sieben Jahre später veröffentlichten fünfaktigen Tragödie J. B. Widmanns »Oenone« zeigt die erstaunliche Frühreife, den angeborenen Kunstverstand, die Kraft der Bewältigung eines gewaltigen Stoffes im engsten Raum und Züge moderner Seelenerforschung, die 1916 weniger zeitwidrig erscheinen werden als 1873. Und liebloser noch als Speidel schrieb Josef Bayer: die vaterländische Poesie sei durch »Oenone« nicht unbedenklich vermehrt worden. Das Talent Bergers bestritt er nicht. Warum aber herrsche in seinem Trauerspiel nicht antiker Geist? Warum sei der nur zu oft in Gedanken und Sprache von modernen Anschauungen verdrängt? Wie Berger selbst diese Fuchstaufe hinnahm, zeigt ein Brief, den er am 19. September an Lammasch richtete: »Der immerhin anständige Erfolg der ›Oenone‹ war nicht allzu tief unter meinen Erwartungen und verstimmte mich daher nicht. Ich wohnte der Aufführung in Dingelstedts Loge bei. Ich war (ohne Prahlerei) vollkommen ruhig, vor, während und nach der Aufführung. Ich habe in dramatischer Hinsicht viel dabei gelernt. Auch die blödsinnigen Schimpfereien der Kritik werden eine günstige Wirkung auf mich ausüben; nicht auf mein Talent, wohl aber auf meinen Charakter. Glaube mir, es gehört keine geringe Dosis Seelenstärke dazu, sich … Sottisen öffentlich in aller Ruhe sagen zu lassen und, wie Du mich kennst, bin ich der letzte, der so was leicht erträgt. Aber ertragen hab' ich's und, wenn die Götter es so wollen, ich kann noch mehr aushalten. Mein Selbstbewußtsein schwankt zwischen Stolz und Kleinmut. Dazu kommt, daß ich begreiflicherweise jetzt keine Lust habe, sogleich etwas Neues anzufangen. Es gibt sogar Momente, wo der Gedanke, wozu so viel Arbeit um eine schmähende Zeitungsnotiz? vergiftend in alle Blüten träufelt, von denen ich herrliche Früchte gehofft und – trotz allen Teufeln – noch hoffe. Ich sag's: die Öffentlichkeit ist nicht immer ein Sporn zu weiterem Schaffen. Noch öfter ist sie ein Prüfstein für die Echtheit der Motive des Schaffens. Die Mahnung, die jetzt an mich ergeht, lautet: Auch ohne Hoffnung arbeite rüstig weiter, dann erst kann dein Streben ein wahres heißen! Ich habe mich noch nie so lebhaft nach Einsamkeit gesehnt, wie jetzt. Wenn ich an die Alpen denke, weht's mich an, wie die Stimmung der Schlußkapitel des Ekkehard.«

»Frau Niemann-Seebach will die ›Oenone‹ für ihre Gastspielreisen von mir erwerben. Dingelstedt sagt, sie werde Repertoirestück bleiben.« Die Prophezeiung erfüllte sich nicht: »Oenone« wurde nur im Jahre 1873 sechsmal gegeben und von den folgenden dramatischen Versuchen Bergers lehnte Dingelstedt das im Februar 1874 geschriebene einaktige Lustspiel »Eine tragische Liebhaberin« ab; meines Erachtens trotz einzelner guter Züge nicht mit Unrecht: in die »Nachgelassenen Schriften« wurde denn auch diese Handschrift ebensowenig eingereiht, wie ein ziemlich weit ausgeführtes, im Dreißigjährigen Krieg spielendes Drama »Gottfried«, ein aus der Gymnasiastenzeit stammender Ansatz zu einem »Sejan« und ein »Meleager«. Daß und wieviel ihm zum großen Dramatiker fehlte, hat er sich frühzeitig selbst gesagt. Just, weil er es mit Platens Gebot hielt »Die Kunst zu lernen, war ich nie zu träge«, kam er, wie es in seiner für die Habilitation an der Wiener Universität eingereichten Lebensskizze heißt, »zu der Einsicht, daß mein Talent nicht stark und stetig genug ist, um einem Dichterberufe zur Grundlage dienen zu können. Sonst würde ich mich wohl ganz der Dichtkunst gewidmet haben. Doch die bisweilen selbstmörderische Kritik, die meine Dichterkraft beeinträchtigte, bewahrte mich auch vor törichter Überschätzung derselben.«

Dieser für das Dekanat bestimmten, in den Universitätsakten aufbewahrten, im 17. Band meines Biographischen Jahrbuches mitgeteilten – vorhin wiederholten – Darstellung des äußeren Verlaufes seiner ersten 32 Lebensjahre hat Berger zehn Monate später zur eigenen Gewissenserforschung die Umrißlinien einer, um eine Bezeichnung Billroths zu wiederholen, inneren Biographie folgen lassen, von der ein Blatt des handschriftlichen Nachlasses Kunde gibt:

»Die wesentliche Geschichte meiner Seele ist diese: Kindheit und Knabenalter, Werden und Wachsen von Geist und Körper, ein Leben in Träumen, von Abenteuern in der Wildnis, dichtendes Umgestalten der Wirklichkeit, Genießen und Schwelgen in Einbildungen. Träge im Lernen, wenig verstanden, zum Teil geleitet, die Lenker und Lehrer im Grunde überlistend, in Hauptsachen nachgebend, um nur die Ruhe und Einsamkeit der Seele zu bewahren. Reges und warmes Gefühl. Ich habe unter allen Störungen und Trübungen, von allen Leiden in meiner Umgebung bewußt und instinktiv viel gelitten. Tiefe Anhänglichkeit an meinen Vater, verbittert durch Selbstquälerei mit seinem Tod, an den ich nur als an etwas ganz Unertragbares denken konnte. Ich zitterte, wenn er nur um fünf Minuten über die gewohnte Stunde wegblieb.

Da erwuchs in mir Dichtergelüsten und Bewußtheit des Psychischen, Selbstbelauerung, Vergiftung meiner Vaterliebe durch die fixe Qualidee, Gleichgültigkeit gegen ihn zu empfinden. Jahrelange Folter, nebenher Studium. Das Ende ein Nervenfieber. Gewinn: Anfang einer raffinierten Psychologie, erwachsen aus dem Erlittenen und dem krampfhaften Ergrübeln und Ersinnen von psychischen Trost- und Beruhigungsmitteln gegen meine Herzqual. An Ordnung und Stetigkeit durch die stumme innere Abhetzung und Abmattung gehindert. Verzweifeltes Ringen nach Rettung. Experimentieren; mein Heil die Landluft im Sommer.

Tod meines Vaters. Nach kurzer Pause aus metaphysischen Grübeleien erwachsene Zweifel und Qualen. Rastloses Ringen dagegen. Daraus erwachsen: eine Fähigkeit haarscharfer Dialektik, tiefe Vertrautheit mit der Metaphysik, nicht aus Büchern, aus schmerzlicher Erfahrung, psychologische Einsicht, auch nicht aus Büchern. Nebenher Jurisprudenz und Poesie. In dieser viele Qualen und Affekte verwertet, bisweilen habe ich sie auch zur Beruhigung und Besänftigung meiner gemarterten Nerven benützt – Oenone. Die Jurisprudenz ohne Ernst betrieben, dialektischer Sport; bisweilen leidenschaftlich, um meinen Geist zu beschäftigen, um ihn von seiner Selbstquälerei abzuziehen. Im Sommer immer Erholung. Freundschaften für das Leben geschlossen.

Die metaphysische Danaidenqual durch eine heftige Liebesleidenschaft verdrängt und verbannt. Völlige Hingabe meiner selbst, alles empfunden, von süßester Sinnenglut bis zu überirdischem Entzücken der Seele. Gedichte. Unverstanden, gemißbraucht. Qualen und Sünden. Schwäche oder Treue? Gebrannt wie ein Wald, dessen Wurzeln mitbrennen und dessen Boden glüht. Ende Erlöschen aus Mangel an brennbarem Stoff. Ermatten und Reisen. Bei aller Vergötterung keine Selbsttäuschung über die angebetete Person. Leidenschaftliches, aber unstetes philosophisches Studium nebenher. Die Leiden immer mit der unnatürlichen metaphysischen Qual verglichen und als menschliche vorgezogen.

Resultat: Sehr gestählt an Charakter. Gegenwart. Arbeit, Beruf; nach mancherlei geschlechtlichen Abenteuern Streben nach Reinheit und dem, was sein soll. Viel in der Familie gewirkt. Ungestillte namenlose Sehnsucht. Große Kraft, muß aber alles selbst denken und wollen, nichts kommt von selbst. Stoizismus. Romantik. Innerlich ganz allein. 16. 5. 86.«

Ein halbes Menschenalter später, im Sommer 1900, behandelte Berger manche Andeutungen dieser Niederschrift, leider nur soweit sie seine Knabenzeit betreffen, in acht Kapiteln »Im Vaterhaus 1853-1876«. Unmittelbar bevor er als Schöpfer und Leiter des Deutschen Schauspielhauses nach Hamburg übersiedeln mußte, erwuchsen diese Blätter zunächst aus dem Wunsche, das mehr und mehr verdämmernde Bild seines heißgeliebten Vaters der Mitwelt so lebenstreu vor Augen zu stellen, wie es die Gedanken und Empfindungen des Sohnes unablässig beherrschte. Noch eindringlicher wäre das geschehen in der Einbegleitung der Tagebücher Johann Nepomuk Bergers, die Alfred kurz vor seinem Tode dem Literarischen Verein zugesagt hatte.

Was Vater und Sohn immer wieder aus Zweifel und Zwiespalt riß, war ihr Drang, sich herrschend zu betätigen. Johann Nepomuk Berger, ein ganzer Jurist und ein halber Poet, fand den ihm gemäßesten Wirkungskreis auf der Rednerbühne des Parlaments und als Staatsmann, Alfred Berger, ein geborener Künstler und ein ruheloser Grübler, fand zeitweiligen Trost seiner martervollen Selbstquälerei nur als Bühnenmann, und als höchstes Ziel seines Strebens sah er, wunderlich genug, immer wieder die Leitung des Burgtheaters an. Er hat es Dingelstedt nie vergessen, daß er ihm zuerst den Weg auf die Bretter dieses geweihten Hauses gebahnt; er nannte ihn stets (meines Erachtens nicht zutreffend) den größten Direktor des Burgtheaters und er würdigte Dingelstedts lyrische Gedichte dankbar in einer Meisterstudie. Er vergaß es der Wolter ebensowenig, daß sie den Erstling des Anfängers liebreich gefördert hatte: »Noch entsinne ich mich des Dankbesuches, den ich ihr einige Tage nach der Première in ihrer Villa in Hietzing machte. Wer ihr damals gesagt hätte, daß der schmale, schüchterne Jüngling, der vor Ehrfurcht und Ergriffenheit kaum ein lautes Wort hervorzubringen vermochte, einige Jahrzehnte später, in der nämlichen Villa an ihrem Sterbebette stehen werde« als ihr getreuer Pfleger, Berater und Vertrauensmann. Und es ist gewiß Geist von seinem Geist, wenn das Burgtheater als späte Totenfeier für ihn selbst seinen ersten Sendling an das Haus des Kaisers »Oenone« wieder aufnimmt, diesmal verkörpert von Stella Hohenfels, der er in gebundener und ungebundener Rede, in Kunst und Leben sein Bestes geweiht hat.

III.

Alfred Berger und Heinrich Lammasch.

Auf der Schulbank begann Alfred Bergers Jahrzehnte, bis an das Ende seiner Tage währende Lebensfreundschaft mit dem Chirurgen Viktor v. Hacker, unserem Nationalökonomen Fritz Wieser und Heinrich Lammasch, dem Rechtslehrer. »Als Alfred Berger im September 1870 in die achte Klasse des Schottengymnasiums eintrat,« so schrieb mir Lammasch bald nach Bergers Tod auf meine Bitte um genauere Mitteilungen über ihre Beziehungen, »war er ein schmächtiger, hochaufgeschossener Jüngling mit blassem Gesichte. Damals hätte man ebensowenig erwartet, daß er sich in einigen Jahren zu der herkulischen Gestalt auswachsen werde, die wir alle gekannt haben, ebensowenig als man vor etwa zehn Jahren besorgen konnte, daß diesem kräftigen Körper – dem Sitz eines ebenso kräftigen Geistes – ein so vorzeitiges Ende bereitet werden könnte. Er kam nicht aus einer andern Schule, sondern aus dem ›Vaterhause »Im Vaterhaus, 1853-1870: Jugenderinnerungen« von Alfred Freiherrn v. Berger, Wien 1901, gedenkt er seiner Hauslehrer. Der Seite 124 genannte »S.« war Ascher, »noch heute einer meiner treuesten und liebsten Freunde«. Aschers Charakteristik S. 59 ff.; er war zuleht Advokat in Leoben, deutsch und freisinnig durch und durch.‹, das er selbst so anschaulich geschildert hat, das heißt fast aus der Einsamkeit, die ihn zu frühzeitigem Grübeln über sich selbst und seine Empfindungen gestimmt hatte. Der Verkehr mit Altersgenossen war ihm fast etwas Neues. Mit Begeisterung, kann man sagen, stürzte er sich in ihn. Und seine Mitschüler kamen ihm freudigst entgegen. Die Überlegenheit seines Geistes und seine Liebenswürdigkeit gewannen ihm die Herzen aller in kürzester Zeit. Er war binnen einiger Wochen nicht bloß der Liebling der Professoren, sondern, was weit schwerer ist, auch der Liebling der ›Klasse‹. Wenn Professor Hugo Mareta, wie fast immer, seinen deutschen Aufsatz, als den besten, der abgeliefert worden, vorlas, waren alle entzückt. Zur Feier von Grillparzers achtzigstem Geburtstag war dem Schottengymnasium erlaubt worden, eine Deputation der zwei obersten Jahrgänge zu dem Dichter zu entsenden, der so lange im Schottenhof gewohnt hatte. Es war selbstverständlich, daß Alfred Berger die Huldigungsadresse verfaßte, wohl sein erstes Schriftstück, das in die Öffentlichkeit gelangte. Leider verhinderte ihn der kurz vor dem Festtage eingetretene Tod seines Vaters, an der Deputation teilzunehmen, die diese Adresse überreichte. Einige Freundschaften aus jenen Gymnasialjahren haben ihn durchs ganze Leben geleitet; aber auch mit den ›Letzten‹ der Klasse wußte er in kollegialem Kontakt zu bleiben. Bald hörten wir von seinen ersten poetischen Arbeiten, wir schwärmten mit ihm für den Indianerhelden Tekunseh, den er in einem Epos verherrlicht hatte; wir freuten uns der Fortschritte, die – neben der Vorbereitung für die Maturitätsprüfung – der Plan eines Römerdramas »Sejan« machte. Die poetische Stimmung, die durch ihn über die Klasse gekommen, wirkte ansteckend. Mancher elende Vers oder noch schlechtere Reim, der auf längst vernichtetem Papier damals von dem einen oder andern von uns niedergeschrieben wurde, hatte in ihm seine Anregung.

In einem aber folgte er uns, wie wir im übrigen ihm gefolgt waren. In dem Drama des Deutsch-Französischen Krieges stand er vom ›Vaterhaus‹ her ursprünglich auf seiten Frankreichs; die von unserem Professor stark beeinflußte Stimmung der Klasse brachte ihn auf die deutsche Seite. Die Berufswahl war für ihn eine ganz besondere Schwierigkeit. Seine Neigung hätte ihn zur philosophischen Fakultät geführt; Familientradition entschied für das Jus. Übrigens hatte er ja bei den juristischen Studien auch Gelegenheit, Kollegien an der philosophischen Fakultät zu hören. Das tat er auch anfangs. Er hörte Zimmermann in praktischer Philosophie und Ottokar Lorenz in österreichischer Geschichte. Aber die Phrasen des ersteren und der saloppe Ton, in dem der große Historiker seine Vorlesungen hielt, schreckten ihn ab. Dafür gewann die großzügige und begeisternde Darstellung des römischen Rechtes durch Rudolf Ihering und die Poesie des germanischen Rechtes in ihrer Darstellung durch Heinrich Siegel sein vollstes Interesse. Auf eine Schulbank im alten Universitätsgebäude schrieb er damals den Vers: ›Das Haar und den Bart zerzaust, Die Entenfeder in kräftiger Faust, Steht Heinrich Siegel, der mannliche Held, Zu Schutz und Trutz aufs Katheder gestellt.‹ So betrieb er damals die juristischen Studien, in die er ohne inneren Beruf eingetreten, mit großem Interesse. Insbesondere die Logik des römischen Rechtes imponierte ihm gewaltig. Oft hat er noch in späteren Jahren hervorgehoben, wie viel er für Präzision des Ausdruckes dem Studium von Arndts' Pandekten verdankte. Daneben beschäftigte ihn der ›Sejan‹, von dem zwei Akte vorliegen; eine Tragödie aus der Geschichte Papst Innozenz' III., die jedoch wenig über den Plan hinaus gediehen ist. Schließlich schrieb er kurz vor der rechtshistorischen Staatsprüfung in wenigen Tagen die ›Oenone‹, die er anonym im Burgtheater einreichte. Dingelstedt nahm sie sofort, ohne zu ahnen, wer der Autor sei, an und ließ sie im September 1873 mit den besten Kräften aufführen. Die erste Aufführung des Stückes des auf dem Theaterzettel anonym gebliebenen Dichters fand im Publikum eine sehr günstige Aufnahme. Durch eine Indiskretion hatten aber während der Vorstellung Journalisten den Namen des Dichters erfahren. Dieser Name war damals noch aus der Zeit des Memorandenstreites in Wien unpopulär. Die Rezensionen lauteten dann auch wesentlich weniger freundlich als das Publikum geurteilt hatte. Trotzdem hielt Dingelstedt das Stück eine Zeitlang. Ein Liebesroman der nächsten Jahre zeitigte Bergers beste lyrische Gedichte, brachte aber etwas Unstetes in seine weiteren Lebenspläne. Durch Reisen nach Italien und Griechenland suchte er Ablenkung und Vergessen. Nach Erlangung des juristischen Doktorates wendete er sich philosophischen Studien zu und habilitierte sich schließlich als Privatdozent für Philosophie in Wien. Eine Zeitlang hatte er auch daran gedacht, sich an der juristischen Fakultät für Rechtsphilosophie zu habilitieren. Davon zeugt seine noch heute anerkannte Schrift ›Über Bewirken durch Unterlassen‹, eine der scharfsinnigsten Untersuchungen des Kausalitätsproblems. Aber das Interesse, das insbesondere Franz Brentano durch die die akademische Jugend packenden Vorträge, die er in seinen ersten Wiener Jahren hielt, auch in ihm anregte, führte ihn zur philosophischen Fakultät. Während viele junge Talente in materiellen Sorgen ersticken, war für ihn nachteilig, daß er es nicht nötig hatte, sich einem Berufe ganz hinzugeben, sondern frei seiner momentanen Stimmung folgen konnte. In dieser stellte er dann an sich die allergrößten Forderungen, denen er nur zu häufig nach seinem eigenen Urteile nicht völlig entsprach. Er wollte nur und jederzeit das Beste leisten. Das kann aber kein Mensch. Daher viel Verstimmung und Selbstquälerei, fortwährende Klage über Unfruchtbarkeit, Arbeitsunfähigkeit, obwohl er unausgesetzt tätig war. Eine Zeitlang hatte man ihm die Aussicht eröffnet, als Professor der Philosophie nach Czernowitz zu kommen. Er empfand es als Enttäuschung und Kränkung, daß das nicht geschah. Gewiß wäre er dort nicht lange geblieben, aber kurze Zeit eine volle akademische Stellung zu haben, hätte ihn vorübergehend befriedigt und vielleicht der Wissenschaft erhalten, in der er Großes hätte leisten können, und zwar nicht bloß auf dem Gebiete der Ästhetik, sondern auch auf dem der Ethik und Psychologie.«

Bescheiden verschwieg Lammasch in dieser Aufzeichnung, wie nah er Berger, zumal in den Zeiten der Entwicklung, als Vertrauensmann, Berater, Fachgenosse gestanden; manches reiche Gespräch, das er mir gönnte, und Einblick in an ihn und an Bergers Lehrer Ascher gerichtete Briefe Alfreds lassen Lammasch' Verhältnis zu diesem Freunde desto deutlicher aufhellen. Nach einer schweren Erkrankung von Ascher schreibt Berger 1906 aus Franzensbad: auch ihn habe eine große Heimsuchung bedroht, eine teilweise Abtragung der Schilddrüse, »die mir arge Beschwerden verursacht hat, für mich, der ich infolge meines Berufes sehr viel sprechen muß, doppelt empfindlich. Eine angreifende Jodkur hat die Operation, die ohne Narkose hätte ausgeführt werden müssen, überflüssig gemacht. Es mag wohl das herannahende Alter sein, daß ich in den freilich seltenen und kurzen Pausen der Stille, die mir mein bewegtes Leben gewährt, mit meinen Gedanken in der Jugendzeit verweile, fast möchte ich sagen, in ihr lebe. Da begegne ich vor allem Dir, lieber Freund (Ascher), dem ich die Fundamente meiner Geistesbildung danke und der auf mich auch sonst einen starken Einfluß geübt hat. Sonnenaufgänge auf hohen Bergen habe ich zuerst mit Dir gesehen, und das Beste von dem, was ich heute kann und bin, stammt von jenen frühen, großen Natureindrücken. Du ahnst wohl kaum, wie schwer ich daran trage, daß das Leben, das mich in die Fremde verschlagen und mir eine Summe von Arbeit aufgebürdet hat, die ich mit Aufgebot aller meiner Kräfte nur schwer bewältige, mir weder Zeit noch Energie übrig läßt, um meine Jugendfreundschaften, so wie ich möchte, wollte und sollte, zu pflegen. Ich kann einfach nicht. In dieser Freundschaft allein ist man der, der man wirklich ist! Und ich entbehre das vielleicht schwerer, als meine alten Freunde mich entbehren.«

Wie treu Berger Lammasch' und Aschers auf allen Höhepunkten seines Lebens gedacht hat, zeigen seine Briefe. 1878 gibt er auf seiner italienischen Reise Zeugnis von den unterwegs bewirkten Wandlungen seiner Kunstansichten; er entwickelt 1883 die Gedanken seiner Streitschrift gegen Dubois-Reymonds »Faust«-Verketzerung; er gibt Bericht von allen Leidensstationen seiner Habilitierung bis zum Probevortrag; er schreibt aus Kalkutta, daß er bei seiner Bergfahrt in den Himalaya den Jugendfreund angesichts des Mount Everest lebhaft herbeigewünscht habe, damit auch er die unsagbare Ergriffenheit mitempfinde, mit der ihn der Anblick dieses Wunders erfüllte. Er würdigt mit vollem Verständnis Lammasch' und Wiesers große Erstlingsarbeiten; er vertraut ihm, nach dem Triumph seines Epilogs (»Abschied vom alten Burgtheater«), daß ihm der Kaiser persönlich große Elogen über seinen Epilog gemacht und ihn dem Deutschen Kaiser vorgestellt habe. Unter Förster zum artistischen Sekretär ernannt, hätte er (wie er Lammasch sagt) durch einen entschiedenen Vorstoß im November 1888 Direktor werden können, wies die Lockung indessen von sich: »Ich möchte lieber lange, als bald Direktor sein. Als artistischer Sekretär soll ich 4000 Gulden jährlich erhalten. Den Titel Vizedirektor hätte ich vielleicht auch haben können, wenn ich gewollt hätte, ich halte aber einen so benamsten Funktionär für schädlich und möchte, wenn ich selbst einmal Direktor bin, keinen Mann hinter mir haben, der einen Titel führt, der soviel bedeutet, wie »mein Nachfolger«. Ich fühle die Hoffnung in mir, daß ich vielleicht einmal doch noch weit mehr als ein bloßer Direktor, daß ich ein Dichter des Theaters werden kann und daß die Träume meiner Jugend wenigstens soweit, als es in dieser mittelmäßigen Welt möglich ist, in Erfüllung gehen.«

Es war Berger nicht beschieden, diesen Traum voll zu verwirklichen, so daß zu meiner wehmütigen Beruhigung Lammasch den Schlußworten meines Nekrologs im 17. Band des »Biographischen Jahrbuches« vorbehaltlos zustimmte: »Er hat sein Bestes nur ahnen lassen. Was er an Arbeiten zurückließ, ist gleichwohl ansehnlicher als die Ernten ungezählter satter Mittelmäßigkeiten. Sein Leben und sein Lebenswerk werden eines der fragmentarischen, sibyllinischen Bücher bleiben, das der Pflege, der Liebe und der Deutung der Edlen wert und bedürftig ist.«

Und gilt nicht ein Gleiches von der Lebensarbeit Lammasch', soweit sie seinen Weltfriedensplänen, seinem Para pacem! gewidmet war? Alfred Berger hat ein gnädiges Geschick den Schmerz erspart, das Elend unserer Zeit mit durchzumachen; auch er wäre verstummt, wie Grillparzer in den ärgsten Wirren: »Weh' euch und mir, wenn je von uns ich wieder singe – Ich bin der Dichter der letzten Dinge.« Und Lammasch und Berger hätten, nachdem, wie Grillparzer prophezeite, der Weg der neueren Bildung wirklich von Humanität durch Nationalität zur Bestialität gegangen ist, keine Selbsttäuschung darüber gehegt, daß es wiederum reichlich ein halbes oder ganzes Jahrhundert dauern wird, bis die gemarterte Menschheit den umgekehrten Weg von Bestialität zur Humanität gesucht und zurückgelegt haben wird.


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