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Rückkehr nach St. Petersburg. Zwei Aufführungen von Romeo und Julie im Großen Theater. Romeo in seinem Kabriolet. Ernst. Art seiner Begabung. Musik und Erinnerung.
An den Ufern der Wolga angekommen, sah ich zum erstenmal den Eisgang eines russischen Flusses bei Tauwetter. Wir mußten fünf Stunden auf dem linken Ufer bleiben und warten, bis die Eismassen durchlässig würden. Als endlich versucht wurde, überzusetzen in einem Nachen, den man absichtlich von rechts nach links und von links nach rechts schwanken ließ, um die Durchfahrt zwischen den Schollen zu erleichtern, war ich, wie ich gestehe, sehr wenig entzückt von der langsamen, aber unwiderstehlichen Bewegung der Schollen, ihrem geheimnisvollen Knirschen beim Schwimmen, von der Überlastung des mit Koffern versperrten Kahnes, der Unruhe und dem Geschrei unserer Bootsleute, und ich atmete mit wahrer Wonne auf, als ich am andern Ufer Fuß gefaßt hatte.
Die Sonne zeigte sich schon ohne allzu große Reserve, aber trotz ihrer Blässe sah ich mehrmals in den Dörfern, durch welche die Post fuhr, Kinder im Hemd spielen und über die Schneehaufen kollern, wie es die unsern zur Sommerszeit im Heu tun. Die Russen haben den Teufel im Leib.
Sogleich nach meiner Ankunft in Petersburg begann ich im großen Theater mit den Chorproben von Romeo und Julie. Als der Plan der Aufführung dieses Werkes von Herrn Guédéonoff angenommen war, sagte ich zu Seiner Exzellenz:
– »Wieviel Proben bewilligen Sie mir?«
– »Wieviel? Welche Frage! So viel Sie wollen. Man soll jeden Tag proben, und wenn Sie dann kommen und sagen: alles geht gut!, soll man das Konzert ankündigen, aber nicht früher.«
– »So laß ich mir's gefallen; wir arbeiten im großen Stil, es wird gelingen.«
Wie schon erwähnt, kann diese Sinfonie in der Tat nicht ein mal erträglich aufgeführt werden, wenn man sie nicht regel- und folgerecht studiert, wie eine Oper, die auswendig gesungen werden muß. Das ist der Grund, weshalb sie selten mit soviel Sicherheit, Begeisterung und Größe aufgeführt wurde, als in St. Petersburg.
Ich hatte einen kolossalen Männerchor und, für Sopran und Alt, sechzig junge Frauen mit frischen, tönenden Stimmen, musikalisch genug, daß man sie in den Chor der italienischen oder deutschen Oper oder in die Theaterschule hätte aufnehmen können, eine Art Konservatorium, wo man den Schülern Musik, Französisch und die herkömmliche Mimik beibringt.
Die Capulet probierten auf der einen, die Montague auf der andern Seite und der Prolog wurde in einem dritten Lokal eingeübt. Als endlich jeder Chorist seine Stimme fast auswendig wußte, vereinigte ich die drei Chöre, und das Zusammenwirken dieser Menge von Stimmen im großen Finale war so befriedigend, als nur möglich. Außerdem hatte ich Versing als Pater Laurentius, Frau Walcker als Sängerin des Liedes für Alt im Prolog, und Holland (einem geistreichen Schauspieler, der das musikalische parlando mit seltener Intelligenz sprach) für das Scherzetto der Fee Mab. Alles war kaiserlich vorbereitet; die Aufführung mußte wunderbar werden und ward wirklich wunderbar. Ich erinnere mich ihrer als einer der großen Freuden meines Lebens. Überdies war ich an diesem Tage so gut aufgelegt, daß ich mich glücklicherweise beim Dirigieren nicht verschlug, was damals selten bei mir vorkam. Das große Theater war besetzt, die Uniformen, Achselstücke, Helme, Diamanten blitzten und funkelten von allen Seiten. Man rief mich, ich weiß nicht wie oft heraus. Aber ich gab an jenem Tage, wie ich gestehe, nicht sonderlich acht auf das Publikum; der Eindruck, den Shakespeares göttliche Dichtung, die ich mir selbst vorsang, auf mich machte, war so groß, daß ich nach dem Finale an allen Gliedern zitternd in ein Garderobezimmer flüchtete, wo mich einige Augenblicke später Ernst in Thränen schwimmend antraf: »Ach!« sagte er, »die Nerven! Ich kenne das!« Er trat näher, hielt mir den Kopf und ließ mich, eine gute Viertelstunde lang, wie ein hysterisches Mädchen weinen. Stellt euch einen Bürger der Saint-Denis-Straße in Paris und einen Operndirektor (immer in Paris) als Zeugen einer derartigen Krise vor. Versucht es, euch ein Bild zu machen, was sie verstehen würden von diesem Frühlingssturm, der mit seinen Fluten und elektrischen Flammen im Herzen des Künstlers ausbricht, von diesen vagen Erinnerungen an Jugend, erste Liebe, den blauen Himmel Italiens, der in seiner Seele unter den Feuerstrahlen des Genius Shakespeare wieder erblüht; von der Erscheinung Juliens, der immer erträumten, stets gesuchten, nie gefundenen; von dieser Offenbarung des Unendlichen in Liebe und Schmerz – kurz: von dieser Freude, in der tönenden Welt ein fernes Echo der Stimmen aus diesem Himmel von Poesie geweckt zu haben ... und dann meßt die Rundung ihrer Augen und die Sperrweite ihrer Mäuler ... wenn ihr könnt! ... Der eine Bürger würde höchstens sagen: »Der Herr ist krank, ich will ihm ein Glas Zuckerwasser bestellen.« Und der andere: »Er spielt sich auf, ich muß den Charivari auf ihn aufmerksam machen ...«
Um nichts zu verschweigen: trotz der warmen Aufnahme, die das Publikum meiner großen Sinfonie bereitete, glaube ich, daß es, alles in allem, durch die Ausdehnung ihrer Formen und die düstere Feierlichkeit der Schlußszenen vornehmlich, ein wenig ermüdete und daß es den Faust Romeo und Julie bei weitem vorzog. Ich erhielt den Beweis davon, als wir die zweite Aufführung angekündigt hatten. Der Theaterkassierer, vom Ergebnis des ersten Abends hochbefriedigt, gestand mir seine Befürchtungen für den zweiten, wenn ich, außer Romeo, nicht wenigstens zwei Szenen aus Faust dreingäbe. Und ich mußte seinem Rate folgen.
Unter den Zuhörern dieser zweiten Aufführung befand sich, wie mir gesagt wurde, ein ständiger Gast des Italienischen Theaters, eine Dame, die sich mit Heldenmut langweilte. Sie konnte es nicht ertragen, daß man sie für unfähig halte, sich an einer solchen Musik zu erfreuen. Als sie ihre Loge verließ, ganz stolz, es dort bis zum Schluß des Konzerts ausgehalten zu haben, sagte sie: »Das ist zwar ein sehr ernstes Werk, aber vollkommen verständlich. Und bei der großen Instrumentaleinleitung habe ich gleich Romeo in seinem Kabriolet herausgehört!!! ...«
Am wenigsten Glück von meinen Partituren hatte in Petersburg die Ouvertüre »Römischer Karneval«. Sie rauschte am Abend meines ersten Konzerts fast unbemerkt vorüber, und da der Graf Michel Wielhorski (obgleich hervorragend musikalisch) mir gestanden hatte, er verstehe nichts davon, ließ ich sie nicht wieder spielen. Wenn man das einem Wiener sagte, würde er es kaum glauben; aber, wie Dramen und Bücher, wie Rosen und Disteln, so haben auch die Partituren ihr Schicksal.
Ich vergaß zu sagen, daß ich, bei einem Benefizkonzert für Versing im großen Theater, auch meine Phantastische Sinfonie dirigierte und daß bei dieser Gelegenheit Damcke, der gewandte Komponist, Klavierspieler, Kapellmeister und Kritiker, die unglaubliche Gefälligkeit hatte, die beiden tiefen Töne ( C–G), die im Schlußsatz des Werkes die Totenglocke vorstellen, wie ein simpler Paukenschläger auf dem Klavier wiederzugeben.
Von all meinen Kompositionen war die Ouvertüre »Römischer Karneval« in Österreich lange Zeit am populärsten; man spielte sie überall. Der Musikverleger Haslinger gab eine musikalische Soiree, in der, unter anderem, diese Ouvertüre, zu vier Händen für zwei Klaviere und eine Physharmonika eingerichtet, gespielt werden sollte.
Als im Konzert die Reihe an dies Stück gekommen war, befand ich mich an einer Tür, die in den Salon führte, wo die fünf Mitwirkenden saßen. Sie beginnen das erste Allegro in einem viel zu langsamen Tempo. Das Andante geht noch so leidlich. Aber im Augenblick, da sie das Allegro noch schleppender, als das erstemal, wiederaufnehmen, steigt mir das Blut zu Kopf und ich werde rot, karmoisinfarben, und, unfähig, meine Ungeduld zu bemeistern, rufe ich ihnen laut zu: »Aber das ist nicht der Karneval, den ihr da spielt, das ist die Fastenzeit, der römische Charfreitag!« Die Heiterkeit, die durch diesen Ausruf im Auditorium entstand, läßt sich denken. Die Ruhe war nicht wieder herzustellen, und die Ouvertüre ging unter dem Gelächter und Geplauder der Anwesenden zu Ende, immer sänftlich und ohne daß irgend etwas imstande gewesen wäre, die friedliche Spielart meiner fünf Interpreten zu stören.
Einige Tage später gab Dreyschock ein Konzert im Konservatoriumssaal und bat mich, dieselbe Ouvertüre zu dirigieren, die auf seinem Programm stand.
»Ich will Sie die ›Fastenzeit‹ bei Haslinger vergessen machen,« sagte er.
Er hatte das ganze Orchester vom Kärntnertor enzagiert. Wir probierten nur einmal. Kurz vor Anfang sagte mir einer der ersten Geiger, der französisch sprach, ins Ohr: »Sie werden den Unterschied merken, der zwischen uns und den Knirpsen vom Theater an der Wien besteht.« Wirklich, er hatte recht. Niemals noch ist diese Ouvertüre mit mehr Feuer, Präzision, brio, mit mehr wohl geordnetem Ungestüm gespielt worden. Und welch orchestraler Wohlklang! Welch harmonische Harmonie! Dieser scheinbare Pleonasmus kann allein meinen Gedanken wiedergeben. Auch am Konzertabend sprühte sie wie eine Handvoll Brillantschwärmer in einem Feuerwerk. Das Publikum verlangte sie zum zweitenmal mit Geschrei und Getrampel, wie man es nur in Wien hört. Dreyschock, dessen persönlicher Erfolg durch diesen stürmischen Enthusiasmus beeinträchtigt wurde, zerriß vor Wut seine Handschuhe und sagte naiv: »Man soll mich noch einmal dran kriegen, Ouvertüren in meinen Konzerten spielen zu lassen! ...« Dabei sah er mich wütend an, als ob ich an einem unwürdigen Vorgehen gegen ihn Schuld trüge. Diese komische Mißstimmung war, wie ich gleich sagen muß, von kurzer Dauer und hinderte ihn in keiner Weise, sich einige Wochen später, in Prag, gegen mich sehr herzlich zu benehmen.
Ich habe vorhin von Ernst gesprochen. Tatsächlich war er gleichzeitig mit mir in Petersburg eingetroffen. Wir trafen uns zufällig in Rußland, wie wir uns schon vorher in Brüssel, Wien und Paris zusammengefunden hatten, und wie wir uns seitdem von neuem an andern Orten Europas begegnet sind, wo die verschiedenen Vor- oder Unfälle in unserem Künstlerleben, wie es scheint, die Bande fester geknüpft haben, die durch Sympathie zwischen uns schon bestanden hatten. Ich empfinde für ihn die lebhafteste und liebevollste Bewunderung. Er ist ein so treffliches Herz, ein so werter Freund, ein so großer Künstler!
Man hat Ernst mit Chopin verglichen. In mancher Beziehung hat es mit dieser Vergleichung seine Richtigkeit; in weit mehr anderen, viel wichtigeren Punkten, ist sie ganz verfehlt.
Vom rein musikalischen Gesichtspunkt aus betrachtet, unterscheiden sich beide Künstler wesentlich voneinander. Chopin vertrug den Zaum des Taktes schlecht; er trieb, meines Erachtens, die rhythmische Unabhängigkeit viel zu weit. Ernst, der alles mit jener vernünftigen, künstlerisch erlaubten Freiheit nimmt, die vom leidenschaftlichen Ausdruck oft gefordert wird, bleibt musikalisch gemessen und taktvoll und von unumstößlicher Sicherheit des Spiels inmitten seiner gewagtesten Einfälle. Chopin konnte nicht gleichmäßig spielen; Ernst kann, wenn er will, einen Augenblick die rhythmische Gleichmäßigkeit aufgeben, um ihre Gewalt beim Wiedereinlenken desto fühlbarer zu machen. Man muß ihn in den Quartetten von Beethoven gehört haben, um ihn in diesem Punkte zu würdigen.
In Chopins Kompositionen ist alles Interesse auf den Klavierpart konzentriert; das Orchester seiner Konzerte hat nichts als eine kalte, fast unnütze Begleitung; die Werke von Ernst zeichnen sich gerade durch die gegenteiligen Vorzüge aus. Die Stücke mit Orchester, die er für sein Instrument geschrieben hat, gehören unstreitig zu denen, welche die ehemals für unvereinbar gehaltenen Vorzüge brillanter Technik und sinfonischen Reizes miteinander verbinden. Das Instrument herrschen zu lassen, ohne die Abdankung des Orchesters zu fordern, das war die Aufgabe, die Beethoven als erster siegreich gelöst hat. Vielleicht ließ Beethoven sogar noch das Orchester zum Schaden des Solisten zu sehr vorherrschen, während mir bei der von Ernst, Vieuxtemps, Liszt und einigen andern gewählten Art die Wage im Gleichgewicht zu sein scheint.
Ich bleibe also bei meiner Meinung: Ernst ist der bezauberndste Humorist, den ich kenne, ebensogroß als Musiker, denn als Geiger; er ist ein vollendeter Künstler, bei dem zwar die Vortragsbegabung vorherrscht, dem aber die Haupteigenschaften zur musikalischen Produktion durchaus nicht fehlen. Er hat die seltene Fähigkeit, bestimmt aufzufassen und das Erfaßte ohne Stocken wiederzugeben; er sucht den Fortschritt und benützt alle vorhandenen Kunstmittel. Er dichtet auf der Geige in der schönen Sprache der Musik und diese Sprache beherrscht er vollkommen. Überdies war Chopin ausschließlich Virtuose der eleganten Salons, der intimen Gesellschaften. Ernst scheut keineswegs Theater, weite Säle, das große Publikum, die Menge; im Gegenteil, er liebt sie, und, wie Liszt, erscheint er niemals machtvoller, als wenn er zweitausend Zuhörer zu bändigen hat. Seine Konzerte im Petersburger Theater hätten es mir bewiesen, wenn ich diese Gewißheit nicht schon gehabt hätte.
Man mußte ihn hören, wenn er seine leidenschaftlichen, meisterhaft gearbeiteten Werke in seiner großen Art vorgetragen hatte und, von Beifall überschüttet, sich von seinem Auditorium verabschiedete mit den Variationen über den »Karneval von Venedig«, die er, nach Paganini und ohne diesen zu kopieren, zu schreiben wagte. In dieser geschmackvollen Phantasie mischen sich die Launen des Komponisten so geschickt und behende mit den Gewagtheiten einer außerordentlichen Technik, daß man sich schließlich über nichts mehr wundert und sich von der einförmigen Begleitung des Venezianischen Liedes wiegen läßt, wie wenn die verschiedenfarbigsten Melodiekaskaden, die mit den ergötzlichsten, überraschendsten Sprüngen von der Sologeige rieseln, gar nicht existierten. Mit diesen seltsamen, beständig melodiösen Kunststücken, die er mit einer Leichtigkeit gibt, welche Ungeschick und Nachlässigkeit heuchelt, verblüfft und bezaubert Ernst immer sein Publikum. Er würfelt mit Diamanten. Wenn der Rat Crespel, der phantastische Besitzer der Cremoneser Geige, diesen unglaublichen Erlustigungen musikalischen Geistes hätte beiwohnen können, so wäre vermutlich auch noch das letzte Restchen Vernunft dem armen Manne spornstreichs verflogen und er hätte unter dem Tode der Antonia weniger gelitten.
Diese Variationen, die ich seitdem oft von Ernst habe spielen hören, noch letzthin in Baden, machen jetzt einen seltsamen Eindruck auf mich. Sobald das venezianische Thema unter dem magischen Bogen erscheint, ist es für mich Mitternacht, ich befinde mich wieder in St. Petersburg, in einem weiten, taghell erleuchteten Saale, fühle wieder diese fremde, sanfte Müdigkeit der Nerven, wie man sie am Ende glänzender musikalischer Soireen empfindet; die Luft ist erfüllt von lärmender Begeisterung, Lächeln erglänzt allenthalben; ich falle in eine romantische Melancholie, der ich unmöglich widerstehen kann, ja gegen die anzukämpfen mir schmerzlich wäre.
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Keine andere Kunst als die Musik besitzt diese retroaktive Gewalt, keine, nicht einmal die Shakespeares, könnte so das Vergangene zurückrufen und verklären. Denn nur die Musik spricht gleichzeitig zur Phantasie, zum Geist, zum Herzen und zu den Sinnen, und aus der Rückwirkung der Sinne auf Geist und Herz, und umgekehrt, entstehen bei Wesen mit besonderer Veranlagung Gefühlsphänomene, die den andern (den Barbaren) ewig unbekannt bleiben werden.