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Mein Vater. Meine literarische Erziehung. Meine Leidenschaft für das Reisen. Virgil. Erste Erschütterung durch die Poesie.
Mein Vater (Louis Berlioz) war Arzt. Es kommt mir nicht zu, seine Verdienste zu beurteilen. Ich will über ihn nur so viel sagen, daß er sehr großes Vertrauen genoß, nicht nur in unserm Städtchen, sondern auch in den Nachbarstädten. Er arbeitete beständig, da er das bei der Ausübung einer so schwierigen, gefahrvollen Kunst, wie es die Medizin ist, als Pflicht eines gewissenhaften, ehrenwerten Mannes betrachtete, der nach Kräften seine ganze Zeit dem Studium zuwenden müsse, da von dem Verluste eines Augenblicks das Leben seiner Mitmenschen abhängen könne. Er machte seinem Amte immer Ehre, weil er ihm auf die uneigennützigste Weise vorstand, mehr als Wohltäter der Armen und Bauern, denn als Mann, der mit dem Seinen haushalten mußte. Als im Jahre 1810 von der medizinischen Gesellschaft in Montpellier ein Preisausschreiben über eine neue, wichtige Heilmethode erging, beteiligte sich mein Vater daran mit einer Arbeit, die den Preis erhielt. Ich möchte noch hinzufügen, daß sein Buch zu Paris im Druck erschien Abhandlung über chronische Krankheiten, Aderlässe und Punktierung. Paris, bei Crouillebois. und daß verschiedene berühmte Ärzte Ideen daraus entlehnt haben, ohne es jemals zu zitieren. Worüber sich mein Vater in seiner Redlichkeit wunderte und bloß sagte: »Was tut's, wenn nur die Wahrheit siegt!« Er hat seit langem die Praxis aufgegeben, seine Kräfte genügen dazu nicht mehr. Lektüre und Nachdenken füllen jetzt sein Leben aus.
Er ist Freidenker; das heißt: er hat keinerlei soziales, politisches oder religiöses Vorurteil. Er hatte darum nicht weniger meiner Mutter so angelegentlich gelobt, keinen Versuch zu machen, mich den Glaubensartikeln zu entfremden, die sie für mein Seelenheil unerläßlich hielt, daß er mich mehrmals, wie ich mich entsinne, den Katechismus überhörte; eine Bemühung aus Rechtschaffenheit, Ernst oder philosophischem Gleichmut, zu der ich, wie ich gestehen muß, meinem Sohne gegenüber nicht fähig wäre. Mein Vater leidet seit langem an einer unheilbaren Magenkrankheit, die ihn hundertmal an den Rand des Grabes brachte. Er ißt fast nicht mehr. Der fortwährende, von Tag zu Tag beträchtlichere Gebrauch von Opium belebt heute allein seine erschöpften Kräfte. Vor einigen Jahren war es, daß er, entmutigt durch seine gräßlichen Schmerzen, 32 Gramm Opium auf einmal nahm. »Aber ich gestehe dir,« sagte er später, als er mir die Tat erzählte, »es geschah nicht in der Absicht, mich zu kurieren.« Diese schreckliche Dosis Gift tötete ihn nicht, wie er hoffte, sondern verscheuchte fast auf der Stelle seine Leiden und gab ihm für den Augenblick die Gesundheit zurück.
Ich war zehn Jahre alt, als er mich auf das kleine Seminar von la Côte schickte, damit ich hier den Anfang im Lateinischen mache. Bald darauf nahm er mich wieder heraus, da er sich entschlossen hatte, meine Erziehung selbst in die Hand zu nehmen. Der arme Vater! Mit welch umständlicher, weiser Sorgfalt ist er so mein Lehrer in den Sprachen, in der Literatur, Geschichte, Geographie und selbst in der Musik gewesen, wie man gleich sehen wird. Wieviel Zärtlichkeit für sein Kind beweist ein Mann, der eine solche Aufgabe in dieser Weise erfüllt! Und wie wenig Väter gibt es, die dazu fähig wären! Dennoch wage ich nicht, diese familiäre Erziehung für ebenso vorteilhaft zu halten, als es die öffentliche Erziehung in mancher Hinsicht ist. Die Kinder bleiben so im ausschließlichen Verkehr mit Eltern, Dienstboten, erwählten Freunden ihres Alters und gewöhnen sich viel zu spät an die rauhe Berührung mit der Gesellschaft und ihren Härten; Welt und wirkliches Leben bleiben ihnen verschlossene Bücher, und ich weiß unzweifelhaft sicher, daß ich in diesem Betreff ein unwissendes, linkisches Kind geblieben bin bis zum Alter von fünfundzwanzig Jahren.
So wenig mein Vater auch von mir verlangte, konnte er mir doch niemals den wahren Geschmack am Klassischen beibringen. Besonders verhaßt war mir der Zwang, jeden Tag einige Verse von Horaz oder Virgil auswendig zu lernen. Ich behielt diese schöne Poesie nur mit vieler Mühe und wahren Folterqualen für mein Gehirn. Meine Gedanken sprangen seitab nach rechts und links und konnten den ihnen gewiesenen Weg nicht rasch genug verlassen. So brachte ich Stunden und Stunden vor den Weltkarten zu, das komplizierte Gewirk der Inseln, die Kaps und Meerengen des Südens und den indischen Archipel mit Begierde studierend; dachte nach über die Entstehung dieser fernen Länder, über ihre Vegetation, ihre Einwohner, ihr Klima, und ward von brennender Sehnsucht ergriffen, sie zu besuchen. Damals erwachte meine Leidenschaft für Reisen und Abenteuer.
Mein Vater sagte hierüber mit Recht von mir: »Er kennt jede Sandwichinsel, die Molukken, die Philippinen beim Namen; er kennt die Meerenge von Torres, Timor, Java und Borneo, aber er könnte nicht einmal die Zahl der französischen Provinzen nennen.« Diese Neugierde, fremde Gegenden kennen zu lernen, besonders die der andern Halbkugel, wurde noch gereizt durch die begierige Lektüre alles dessen, was die väterliche Bibliothek an alten und neuen Reisebeschreibungen enthielt, und es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß ich, wäre mein Geburtsort ein Seehafen gewesen, eines schönen Tages auf einem Schiffe davongegangen wäre, um Seemann zu werden, mit oder ohne Zustimmung meiner Eltern. Sehr frühzeitig hat mein Sohn denselben Trieb gezeigt. Er befindet sich heute auf einem Staatsschiff, und ich hoffe, daß er die Laufbahn zur See in Ehren durchmachen wird; er hat sie mit Liebe ergriffen und sie sich erwählt, ohne das Meer auch nur gesehen zu haben.
Das Verständnis für die erhabenen Schönheiten der Poesie zerstreute allmählich die Ozeanphantasien, als ich mich einige Zeit mit La Fontaine und Virgil gründlich befaßt hatte. Der lateinische Poet, der von bereits vorempfundenen großen Leidenschaften zu mir sprach, wußte zuerst den Weg zu meinem Herzen zu finden und meine werdende Einbildungskraft zu entflammen, viel früher, als der französische Fabeldichter, dessen naiv versteckte Tiefe, dessen Feinheit im Stil, die sich hinter einer so seltenen und erlesenen Natürlichkeit verbirgt, von Kindern gewöhnlich nicht verstanden wird. Wie oft, wenn ich vor meinem Vater das vierte Buch der Äneide erklären mußte, fühlte ich nicht meine Brust schwellen, meine Stimme zittern und brechen! ... Eines Tages, da ich schon zu Anfang meiner mündlichen Übersetzung verwirrt war durch den Vers
At Regina gravi jamdudum saucia cura,
war ich, so gut es gehen wollte, zur Peripetie des Dramas gelangt; aber als ich an die Szene kam, wo Dido auf dem Scheiterhaufen ihre Seele aushaucht, umgeben von den Geschenken des Äneas, von den Waffen des Treulosen, und auf »dem, ach, so wohlbekannten Bette« die Flut ihres empörten Blutes vergießt; als ich die verzweifelten Ausrufe der Sterbenden wiederholen mußte, die »dreimal sich, auf ihren Arm gestützt, erhebt und dreimal zurückfällt«; als ich ihre aus tiefster Brust aufseufzende, sterbliche Liebe, die Schmerzenslaute ihrer Schwester, ihrer Amme, ihrer bestürzten Frauen beschreiben mußte, den peinvollen Todeskampf, dessen Dauer abzukürzen die Götter, selbst bewegt, Iris entsandten – da bebten mir die Lippen, mühsam und unverständlich kamen die Worte, endlich, beim Vers:
Quaesivit coelo lucem ingemuitque reperta
– bei diesem erhabenen Bilde, da Dido »am Himmel das Licht sucht und seufzt, als sie es gefunden«, ward ich von einem nervösen Schauer befallen und, unfähig fortzufahren, brach ich kurz ab.
Es war dies eine jener Gelegenheiten, da ich die unaussprechliche Güte meines Vaters am deutlichsten erkennen konnte. Als er sah, wie sehr ich ob einer solchen Bewegung verwirrt und verlegen war, tat er, als merke er sie nicht, erhob sich augenblicks, schloß das Buch und sagte: »Genug, mein Kind, ich bin müde!« Und ich lief, weit fort aus aller Augen, mich meinem virgilischen Kummer zu überlassen.