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67.

Konzert in Breslau. Meine Legende »Fausts Verdammung«. Das Textbuch. Die patriotischen Kritiker. Aufführung von »Fausts Verdammung« in Paris. Ich entschließe mich zur Reise nach Rußland. Güte meiner Freunde.

 

In den vorausgehenden Briefen an H. Ferrand habe ich nichts über meine Reise nach Breslau gesagt. Ich weiß nicht, warum ich davon absah, sie zu erwähnen, denn mein Aufenthalt in Schlesiens Hauptstadt war mir nützlich und angenehm zugleich. Dank der eifrigen Mithilfe mehrerer Personen, unter anderem des Herrn Koettlitz, eines sehr tüchtigen jungen Künstlers, des Herrn Dr. Naumann, eines ausgezeichneten Arztes und musikalischen Dilettanten, und des bekannten Organisten Hesse, gelang es mir, im Saale der Universität (Aula Leopoldina) ein Konzert zu geben, dessen Erfolg in jeder Beziehung hervorragend war. Zuhörer waren vom Lande und von den Marktflecken der Umgebung Breslaus herbeigeströmt; die Einnahme übertraf bei weitem diejenigen, die ich gewöhnlich in deutschen Städten hatte, und das Publikum bereitete meinen Kompositionen die glänzendste Aufnahme. Ich war um so glücklicher, als ich, am Tage nach meiner Ankunft, einem Konzert beigewohnt hatte, währenddem die Zuhörer nicht einen einzigen Augenblick aus ihrer Kälte herausgekommen waren, und wo ich der Vorführung von Wunderwerken, selbst solcher wie Beethovens C-Moll-Sinfonie, vollkommene Ruhe folgen sah. Als ich mich über diese Gleichgültigkeit wunderte, von der ich allerdings andererorten nie ein Beispiel gesehen hatte, und mich über eine solche Aufnahme Beethovens beschwerte, sagte eine, auf ihre Weise vom großen Meister selbst hochbegeisterte Dame zu mir: »Sie irren; das Publikum bewundert das Meisterwerk, so tief man nur bewundern kann; und wenn es nicht applaudiert, geschieht es aus Ehrfurcht!« Dies Wort, das in Paris und überall, wo die schändlichen Manöver der Claque üblich sind, von tiefer Bedeutung wäre, flößte mir, wie ich gestehe, lebhafte Befürchtungen ein. Ich hatte große Angst, respektiert zu werden. Glücklicherweise war es nichts damit, und am Tag meines Konzertes glaubten die Zuhörer, für deren Respekt offenbar meine Titel nicht ausreichten, mich auf die gewöhnliche Art behandeln zu müssen, wie sie in ganz Europa gegen die beim Publikum beliebten Künstler gebräuchlich ist, und ich wurde auf das unehrerbietigste beklatscht.

Auf dieser Reise durch Österreich, Ungarn, Böhmen und Schlesien begann ich die Komposition meiner Faustlegende, deren Plan ich schon lang im Kopfe trug. Als ich mich entschied ihn auszuführen, mußte ich mich auch entschließen, fast das ganze Textbuch selbst zu schreiben; die Bruchstücke der französischen Übersetzung des Goethischen Faust von Gérard de Nerval, die ich schon vor zwanzig Jahren vertont hatte und, umgearbeitet, in meine neue Partitur aufnehmen wollte, und zwei oder drei andere Szenen die, vor meiner Abreise von Paris, nach meinen Angaben von Herrn Gandonnière geschrieben worden waren, machten zusammen nicht den sechsten Teil meines Werkes aus.

Ich versuchte also, in meiner alten deutschen Postkutsche dahinrollend, die zu meiner Musik dienlichen Verse zu schmieden. Ich begann mit Fausts Anrufung der Natur; dabei versuchte ich das Meisterwerk weder zu übersetzen, noch auch es nachzuahmen, sondern lediglich, mich daran begeistern und die darin enthaltene musikalische Substanz herauszuziehen. So schrieb ich denn folgendes Stück, das mir Hoffnung auf Beendigung des übrigen gab:

Erhabene Natur! Geheimnis-hehre!
Nur du stillst meine namenlose Pein!
Dir hingegeben fühl' ich alles Schwere
sich lindern, darf ich leben, tätig sein.
Ja, raset Stürme, daß der Wald sich bäumet!
Stürzt, alte Felsen! Bäche tost und schäumet!
Euch Herrlichen eint meine Stimme sich.
Gegrüßt Strom, Fels und Wald! Mein Sehnen träumet
empor bis zu den lichten Sternenwelten,
und bange sucht nach einem Glück die Seele,
das lange, ach, sie floh.

Einmal im Zug, machte ich die mir fehlenden Verse, je nachdem mir die musikalischen Ideen kamen, und komponierte meine Partitur mit einer Leichtigkeit, wie ich sie bei meinen andern Werken sehr selten empfand. Ich schrieb, wann und wo immer ich konnte; im Wagen, auf der Eisenbahn, auf dem Dampfschiff, sogar in den Städten, trotz der verschiedenen Mühewaltungen, die mir die zu gebenden Konzerte auferlegten. So schrieb ich in einer Herberge zu Passau, an der Grenze von Bayern, die Einleitung:

Es naht der Lenz, der alte Winter schwand,

in Wien schrieb ich die Szene an den Ufern der Elbe, die Arie des Mephistopheles:

Sieh hier die Rosen

und das Sylphenballett. Ich habe schon erwähnt, bei welcher Gelegenheit und wie ich, gleichfalls in Wien, den Marsch auf das ungarische Rakoczythema in einer Nacht komponierte. Der außerordentliche Effekt, den er in Pest machte, bewog mich, ihn in meine Faustpartitur aufzunehmen, wobei ich mir die Freiheit nahm, meinen Helden zu Beginn der Handlung nach Ungarn zu versetzen und ihn beim Durchmarsch einer ungarischen Armee durch die Ebene, wo er seinen Träumereien nachhängt, anwesend sein zu lassen. Ein deutscher Kritiker fand es sehr seltsam, daß ich Faust an einen solchen Ort reisen ließ. Ich sehe nicht ein, was mich davon hätte abhalten sollen, und würde nicht im geringsten gezögert haben, ihn überall sonstwo hinzuführen, wenn sich irgendwelcher Vorteil für meine Partitur daraus ergeben hätte. Ich hatte mich nicht verpflichtet, dem Plan Goethes zu folgen, und die abenteuerlichsten Reisen können einer Figur, wie Faust, zugeschrieben werden, ohne daß die Wahrscheinlichkeit irgendwie darunter litte. Andere deutsche Kritiker haben später jene sonderbare These aufgenommen und da sie mich wegen der in meinem Textbuch und in der Anlage des Goethischen Faust unternommenen Änderungen heftiger angriffen, so machte ich die Dummheit, ihnen im Vorwort von »Fausts Verdammung« zu antworten. (Als wenn es keinen andern Faust als den von Goethe gäbe, Den von Marlow z. B. und die Oper von Spohr, die beide vom Goethischen abweichen. und als ob man eine solche Dichtung in ihrer Gesamtheit, und ohne ihren Plan zu stören, in Musik setzen könne!) Ich habe mich oft gefragt, warum dieselben Kritiker mir keinen Vorwurf über das Textbuch meiner Sinfonie »Romeo und Julie« gemacht, das so wenig dem unsterblichen Trauerspiele gleicht! Offenbar deshalb nicht, weil Shakespeare kein Deutscher war. Patriotismus! Fetischismus! Kretinismus!

Zu Pest schrieb ich eines Abends, als ich mich in der Stadt verirrt hatte, beim Schein einer Gasflamme den Chorrefrain des Bauerntanzes.

In Prag stand ich mitten in der Nacht auf, um einen Gesang, den ich zu vergessen zitterte, aufzuschreiben, den Engelchor bei der Apotheose Gretchens:

Steig auf zum Himmel, reine Seele,
die liebend fehlte.

In Breslau entstanden Worte und Musik des lateinischen Liedes der Studenten:

Jam nox stellata velamina pandit.

Nach Frankreich zurückgekehrt, ging ich einige Tage aufs Landgut des Baron de Montville bei Rouen und komponierte dort das große Terzett:

Du teurer Engel, dessen himmlisch Bild.

Der Rest wurde in Paris geschrieben, aber stets unversehens, zu Hause, im Café, in den Tuilerien und einige Male auf einem Randsteine des Boulevard du Temple. Ich suchte nicht nach Ideen, ich ließ sie mir einfallen, und sie boten sich mir in der überraschendsten Ordnung dar. Als endlich die ganze Partiturskizze entworfen war, begann ich das Ganze umzuarbeiten, die verschiedenen Teile zu glätten, sie näher zu verbinden, miteinander zu verschmelzen mit allem Eifer und aller Geduld, deren ich fähig bin, und die Instrumentation zu vollenden, die hier und da nur angedeutet war. Ich betrachte dieses Werk als eines meiner besten Produkte; auch das Publikum scheint bis jetzt dieser Meinung zu sein.

Doch, es geschrieben zu haben, wollte nichts heißen; es mußte gehört werden; und hier begann mein Verdruß und mein Unstern. Die Kopiatur der Orchester- und Chorstimmen kostete mir eine Unsumme; die zahlreichen Proben für die Mitwirkenden und der übermäßig hohe Preis von tausendsechshundert Franken, die ich für die Miete der Komischen Oper zu zahlen hatte, des einzigen Saales, der mir zur Verfügung stand, verwickelten mich in ein Unternehmen, das mich unbedingt ruinieren mußte. Aber ich schritt immer voran, gestützt auf einen Trugschluß, den jeder an meiner Stelle gemacht hätte. »Als ich im Konservatorium zum ersten Male ›Romeo und Julie‹ aufführen ließ,« sagte ich mir, »war der Andrang des Publikums, das Werk zu hören, derart, daß man Korridorplätze verteilen lassen mußte, um, nach ausverkauftem Saal, die Überzähligen unterzubringen, und, trotz der unerhörten Kosten, blieb mir ein kleiner Überschuß. Seitdem ist mein Name in der öffentlichen Meinung gewachsen, außerdem gibt ihm der Widerhall meiner Erfolge im Ausland in Frankreich ein Gewicht, das er zuvor nicht hatte; der Stoff des Faust ist ebenso berühmt als der von Romeo und Julie; allgemein glaubt man, daß er mir liege und daß ich ihn gut gestaltet haben müsse. Alles läßt somit hoffen, daß die Neugier groß sein werde, dieses an Ausdehnung und Farbenreichtum seine Vorläufer übertreffende Werk zu hören, und daß die Ausgaben, die es mir verursacht, zum wenigsten gedeckt werden dürften ...« Gefehlt! Seit der Uraufführung von Romeo und Julie waren Jahre verflossen, während welcher die Gleichgültigkeit des Pariser Publikums gegenüber Kunst und Literatur unglaubliche Fortschritte gemacht hatte. Schon zu dieser Zeit interessierte es sich nicht genug, besonders nicht für ein musikalisches Werk, um sich am hellen Tage (abends konnte ich meine Konzerte nicht geben) in die Komische Oper einzusperren, die überdies von der fashionablen Welt nicht besucht wurde. Es war Ende November (1846), Schnee fiel und ein schauderhaftes Wetter herrschte; ich hatte für die Margarete keine Modesängerin; was Roger betrifft, der den Faust sang, und Hermann Léon, der den Mephisto übernommen hatte, so hörte man sie ja alle Tage im selben Theater und sie waren nicht mehr fashionabel. Hieraus folgte, daß ich den Faust zweimal vor halbbesetztem Haus gab. Das feine Pariser Publikum, das im Ruf steht, musikverständig zu sein, blieb ruhig daheim, so wenig bekümmert um meine neue Partitur, wie wenn ich der obskurste Konservatorist gewesen wäre, und es waren bei diesen beiden Aufführungen nicht mehr Leute in der Komischen Oper, als wenn man die dürftigste Oper ihres Spielplans gegeben hätte.

Nichts in meiner Künstlerlaufbahn hat mich tiefer verletzt, als diese unerwartete Gleichgültigkeit. Die Entdeckung war grausam, aber wenigstens nützlich in dem Sinne, daß ich daran lernte, und daß es mir seitdem nicht wieder passiert ist, im Vertrauen auf die Liebe des Pariser Publikums zu meiner Musik auch nur zwanzig Franken zu riskieren. Ich hoffe sehr, daß es mir auch in Zukunft nicht mehr passieren wird, Ich habe nicht Wort gehalten: als ich »Die Kindheit Christi« geschrieben hatte, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, dieses Werk in Paris aufführen zu lassen; sein Erfolg war spontan, sehr groß, ja sogar, meinen früheren Kompositionen gegenüber, verleumderisch. Ich habe also im Herzschen Saal mehrere Konzerte gegeben, die mir, anstatt mich, wie die Faustaufführungen, zu ruinieren, einige tausend Franken einbrachten. (1858.) sollte ich auch hundert Jahre alt werden. Ich war ruiniert; ich schuldete eine beträchtliche Summe, die ich nicht hatte. Nach zwei Tagen unaussprechlicher moralischer Leiden begann in mir der Entschluß zu dämmern, durch eine russische Reise der Verlegenheit zu entrinnen. Aber sie zu unternehmen brauchte es wiederum Geld; ich brauchte um so mehr davon, als ich, bei meiner Abreise von Paris, nicht die geringsten Schulden hinterlassen wollte. Damals erwuchs mir aus dieser schwierigen Lage ein süßer Trost, den mir die Herzensgüte meiner Freunde brachte. Seitdem man wußte, daß ich nach Petersburg gehen müsse, um zu versuchen, die Verluste zu decken, die mir durch mein letztes Werk in Paris entstanden waren, wurde mir von allen Seiten Hilfe angeboten. Herr Bertin ließ mir tausend Franken aus der Kasse des Journal des Débats vorschießen; von meinen Freunden liehen mir die einen fünfhundert Franken, andere sechs- oder siebenhundert; ein junger Deutscher, Herr Friedland, den ich auf meiner letzten böhmischen Reise in Prag kennen gelernt, streckte mir tausendzweihundert Franken vor; Sax, trotz seiner eigenen Verlegenheiten, machte es ebenso; endlich begegnete mir der Buchhändler Hetzel, der seitdem eine sehr ehrenvolle Rolle in der republikanischen Regierung gespielt hat, den ich aber damals nur oberflächlich kannte, zufällig in einem Café und fragte:

– »Sie gehen nach Rußland?«

– Ja ...

– »Das ist eine sehr kostspielige Reise, namentlich im Winter; wenn Sie einen Tausendfrankenschein brauchen, erlauben Sie mir, daß ich Ihnen diesen anbiete! ...«

Ich nahm mit demselben Freimut an, mit dem der treffliche Hetzel sich erbot, und so konnte ich allem die Stirn bieten und den Tag meiner Abreise festsetzen.

Ich glaube die folgende Bemerkung schon gemacht zu haben, scheue aber nicht sie zu wiederholen: daß, wenn ich gleich vielen Lumpen und Spitzbuben im Leben begegnet bin, ich dennoch auch im entgegengesetzten Sinne besonders begünstigt gewesen, und daß wenige Künstler in dem Maße wie ich, gütige Herzen und großmütige Hingebung gefunden haben.

Liebe, vortreffliche Menschen, die ihr zweifellos seit langem euer vornehmes Betragen gegen mich vergessen habt, seid von mir daran erinnert, laßt euch mein dankbares Herz ausschütten, euch die Hand drücken und euch sagen, mit welch innigem Glück ich daran denke, wie sehr ich euch verbunden bin!!!


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