Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

55.

Leipzig.

 

An Stephen Heller

Sie haben, mein lieber Heller, ohne Zweifel über den Irrtum in meinem letzten Briefe gelacht, der mir unterlief, als ich die Großherzogin Stephanie Amélie nannte? Nun denn! Ich muß Ihnen gestehen, daß mich die Vorwürfe der Unwissenheit und des Leichtsinns, die mir dieser Irrtum zuziehen möchte, nicht sonderlich kümmern. Wenn ich den Kaiser Napoleon Franz oder Georg genannt hätte – das wäre etwas anderes! aber den Namen der Beherrscherin von Mannheim zu verändern, so anmutig er auch sei, ist wohl erlaubt. – Übrigens hat Shakespeare gesagt:

What's is a name? that we call a rose
By any other name would smell as sweet
!

»Was liegt an Namen? Was wir Rose nennen –
röch's minder süß, wenn es auch anders hieße?«

Jedenfalls bitte ich Ihre Hoheit demütig um Verzeihung, und wenn sie mir, wie ich hoffe, gewährt wird, will ich mich über Ihre Spöttereien nicht schlecht lustig machen.

Als ich Weimar verließ, war Leipzig die Stadt, die ich am bequemsten hätte besuchen können. Dennoch zögerte ich, mich dort vorzustellen, trotz der Diktatur, die Felix Mendelssohn dort ausübte und den freundschaftlichen Beziehungen, die uns im Jahre 1831 zu Rom verbunden hatten. Wir waren seitdem in unsern Kunstrichtungen so weit auseinandergeraten, daß ich, wie ich gestehe, fürchtete, nicht sehr lebhafte Sympathien bei ihm anzutreffen. Chélard, der ihn kannte, ließ mich über meinen Zweifel erröten, und ich schrieb ihm. Seine Antwort ließ nicht auf sich warten und lautete so:

»Mein lieber Berlioz! Ich danke Ihnen gar herzlich für Ihren lieben Brief und daß Sie sich noch die Erinnerung an unsere ›römische‹ Freundschaft bewahrt haben! Ich für mein Teil werde sie nie im Leben vergessen und freue mich darauf, es Ihnen bald mündlich sagen zu können. Alles, was ich tun kann, Ihren Aufenthalt in Leipzig glücklich und angenehm zu gestalten, werde ich mir ein Vergnügen und eine Pflicht sein lassen. Ich glaube, Sie Ihrer Zufriedenheit mit der Stadt versichern zu können, will sagen: mit den Musikern und dem Publikum. Ich habe Ihnen nicht schreiben wollen, ohne zuvor mehrere Personen zu befragen, die Leipzig besser kennen, als ich, und alle haben mich in meiner Meinung bestärkt, daß Sie hier ein ausgezeichnetes Konzert geben würden. Die Kosten für Orchester, Saal, Ankündigungen usw. betragen einhundertzehn Taler: die Einnahme kann sich auf sechs- bis achthundert Taler belaufen. Sie müßten spätestens zehn Tage vorher hier sein, und das Programm und alles Nötige festsetzen. Außerdem beauftragen mich die Direktoren der Gesellschaft für die Abonnementkonzerte, Sie zu fragen, ob Sie eines Ihrer Werke aufführen lassen möchten in dem Konzert, das am 22. Februar zum Besten der städtischen Armen gegeben werden wird. Ich hoffe, daß Sie diesen Vorschlag, nach Ihrem eigenen Konzert, annehmen werden. Ich fordere Sie also auf, hierher zu kommen, sobald Sie von Weimar fort können. Ich freue mich darauf, Ihnen die Hand drücken und »Willkommen in Deutschland« sagen zu können. Lachen Sie nicht über mein elendes Französisch, wie Sie es in Rom taten, aber seien Sie weiter mein guter Freund, (25. Mai 1864.) Ich sehe eben in den Briefen Felix Mendelssohns, die neuerdings von seinem Bruder veröffentlicht worden sind, worin seine »römische Freundschaft« für mich bestanden hat. Er erzählt, mich deutlich beschreibend, seiner Mutter: »*** ist eine wahre Karikatur ohne einen Funken von Talent« usw. usw. »... ich hätte manchmal Lust ihn totzubeißen.« – Als Mendelssohn diesen Brief schrieb, war er einundzwanzig Jahre alt und kannte von meinen Partituren nicht eine einzige; ich hatte noch nichts geschrieben, als die erste Skizze meiner phantastischen Sinfonie, die er nicht gelesen hatte; erst wenige Tage vor seiner Abreise von Rom zeigte ich ihm die Ouvertüre zu König Lear, die ich gerade beendigt hatte. wie Sie es damals waren, sowie ich immer sein werde

Ihr ergebener
Felix Mendelssohn Bartholdy.«

Hätte ich einer in solchen Ausdrücken abgefaßten Einladung widerstehen können? ... Ich reiste also nach Leipzig ab, nicht ohne betrübten Abschied von Weimar und den neuen Freunden, die ich dort zurückließ.

Meine Beziehungen zu Mendelssohn hatten in Rom auf recht seltsame Weise begonnen. Bei unserer ersten Begegnung sprach er mit mir über meine Kantate »Sardanapal«, die vom Institut in Paris preisgekrönt worden war und aus der ihm mein Mit-Laureat Montfort einige Stellen vorgespielt hatte. Als ich selbst ihm eine wahre Abneigung gegen das erste Allegro dieser Kantate zu erkennen gegeben hatte, rief er voll Freude:

– »Das läßt sich hören! Mein Kompliment ... über Ihren Geschmack! Ich fürchtete schon, das Allegro möchte Ihnen gefallen; offen gesagt: es ist ganz erbärmlich!«

Tags darauf hätten wir uns fast gezankt, weil ich mit Begeisterung von Gluck gesprochen, und er mir in spöttischem, überraschten Tone geantwortet hatte:

– »Ach! Sie lieben Gluck!«

Das sollte wohl heißen: wie geht es zu, daß ein Musiker Ihresgleichen einen so hohen Gedankenflug, eine so lebhafte Empfindung für Größe des Stils und Wahrheit des Ausdrucks hat, daß er Gluck lieben könnte?

Ich fand bald Gelegenheit, mich für diese kleine Beleidigung zu rächen. Ich hatte aus Paris die Arie der Asteria aus der italienischen Oper »Telemach« mitgebracht; ein wunderbares, aber wenig bekanntes Stück! Ich hatte auf Montforts Klavier ein handschriftliches Exemplar ohne Namen des Komponisten gelegt, als wir eines Tages den Besuch Mendelssohns erwarteten. Er kam. Als er die Noten bemerkte, die er für ein Bruchstück aus irgendeiner modernen italienischen Oper nahm, hielt er es für seine Schuldigkeit, sie zu spielen; die Worte der vier letzten Takte, deren musikalischer Ausdruck wahrhaft erhaben ist: » O giorno! O dolci sguardi! O rimembranza! o amor!« – parodierte er dabei auf groteske Weise, Rubini nachahmend. Jetzt unterbrach ich ihn wie erstaunt und bestürzt:

– »Ach! Sie lieben Gluck nicht?«

– »Wieso Gluck?«

– »Ja, mein Werter, leider! Dieses Stück ist von ihm und keineswegs von Bellini, wie Sie denken. Sie sehen: ich kenne ihn besser, als Sie, und bin Ihrer Meinung ... mehr, als Sie selbst!«

Eines Tages hatte ich gerade vom Metronom und seiner Nützlichkeit geredet. – »Wozu ein Metronom?« rief da Mendelssohn lebhaft aus. »Ein Musiker, der, beim Anblick eines Stückes nicht von vorneherein sein Tempo errät, ist ein Dummkopf.«

Ich hätte ihm antworten können, es gebe viele Dummköpfe, aber ich schwieg.

Ich hatte damals fast noch nichts geschrieben. Mendelssohn kannte nur meine »Irländischen Melodien« mit Klavierbegleitung. Als er mich eines Tages gebeten hatte, ihm die Partitur der Ouvertüre zu »König Lear« zu zeigen, die ich gerade in Nizza geschrieben hatte, las er sie zuerst aufmerksam und langsam durch und sagte dann, als er die Finger auf die Tasten setzte, sie zu spielen (wofür er unvergleichlich talentiert war):

– »Geben Sie mir, bitte, Ihr Tempo.«

– »Wozu denn? Haben Sie mir gestern nicht gesagt, jeder Musiker, der beim Anblick eines Stückes das Tempo nicht errate, sei ein Dummkopf?«

Er wollte es nicht merken lassen, aber diese Entgegnung, oder vielmehr dieser Hieb, verdroß ihn sehr. Vielleicht bekam er deshalb Lust, mich totzubeißen. (1864.)

Nie sprach er den Namen Sebastian Bach aus, ohne ironisch hinzuzufügen: »Ihr kleiner Schüler!« Kurzum: er war ein Stachelschwein, sobald man von Musik sprach; man wußte nicht, wo ihn anfassen, ohne sich zu stechen. Mit einem vortrefflichen Charakter begabt, von sanfter, liebenswürdiger Gemütsart, ertrug er leicht jede Art von Widerspruch, und ich meinerseits mißbrauchte seine Duldsamkeit in den philosophischen und religiösen Diskussionen, die wir manchmal führten.

Eines Abends untersuchten wir zusammen die Thermen des Caracalla und stritten dabei über Verdienstlichkeit oder Unwert der menschlichen Handlungen und ihre Belohnung in diesem Leben. Als ich seiner ganz religiösen und orthodoxen Ansicht – ich weiß nicht, mit welcher – Ungeheuerlichkeit antwortete, glitt er aus und rollte die Trümmer einer sehr steilen Treppe hinab, wobei er sich viele Schrammen und Kontusionen zuzog.

– »Seht mir die göttliche Gerechtigkeit!«, sagte ich und half ihm aufstehen, »ich lästere und Sie fallen.«

Diese Pietätlosigkeit, die ich mit schallendem Gelächter begleitete, war ihm offenbar zu stark, und seitdem wurden religiöse Erörterungen für immer ausgeschaltet. In Rom lernte ich das zarte, feine musikalische Gewebe kennen, so reich an bunten Farben, das Mendelssohn unter dem Namen der Ouvertüre »Fingalshöhle« gerade beendet hatte; er gab mir einen ziemlich genauen Begriff davon, so groß ist seine wunderbare Geschicklichkeit, die kompliziertesten Partituren auf dem Klavier wiederzugeben. Oft an niederdrückenden Siroccotagen unterbrach ich ihn in seinen Arbeiten (denn er ist unermüdlich im Produzieren); dann verabschiedete er die Feder mit vollendetem Anstand, und, wenn er mich völlig geladen mit Spleen sah, suchte er den dadurch zu mildern, daß er mir vorspielte, was ich ihm von Meisterwerken nannte, die wir beide am meisten liebten. Wie oft habe ich, mürrisch auf seinem Kanapee ausgestreckt, die Arie der Iphigenie auf Tauris gesungen »Eines ach! allzugeliebten Bildes«, die er, mit Anstand vor dem Flügel sitzend, begleitete. Und er rief aus: »Schön ist das! Schön! Ich könnte es hören, ohne müde zu werden; von morgens bis abends, immer, immer!« Und wir fingen von vorne an. Er mochte es auch sehr gerne, wenn ich, in dieser horizontalen Lage, mit meiner gelangweilten Stimme zwei oder drei meiner Melodien sang, die ich auf Verse von Moore komponiert hatte und die ihm sehr gefielen. Mendelssohn hatte immer eine gewisse Hochachtung vor meinen ... Liedchen. Als dieser Verkehr, der schließlich so interessant für mich geworden war, einen Monat gedauert hatte, verschwand Mendelssohn, ohne mir Ade zu sagen, und ich sah ihn nicht wieder. Sein vorhin von mir zitierter Brief mußte mich folglich – wie es auch der Fall war – sehr angenehm überraschen. Er offenbarte – so schien es mir – eine Seelengüte und Sanftheit des Benehmens, die mir fremd an ihm waren; aber ich erkannte sogleich, als ich in Leipzig ankam, daß er sich diese Tugenden in der Tat zu eigen gemacht hatte. Zwar hat er nichts von der unbeugsamen Strenge seiner Kunstprinzipien eingebüßt, aber er sucht nicht mehr, sie mit Gewalt aufzudringen und beschränkt sich als Kapellmeister darauf, das ins Licht zu setzen, was er für schön hält und das im Schatten zu lassen, was ihm schlecht oder von verderblichem Einfluß zu sein scheint. Nur liebt er immer noch die Toten ein bißchen zu viel.

Die Abonnementkonzertgesellschaft, von der er mir gesprochen, ist sehr zahlreich und unübertrefflich organisiert. Sie besitzt einen großartigen Gesangverein, ein vorzügliches Orchester und einen Saal – den des Gewandhauses –, der akustisch vollkommen ist. In diesem geräumigen, schönen Lokal sollte ich mein Konzert geben. Sobald ich vom Wagen gestiegen war, machte ich mich auf, es zu besichtigen – und platzte just mitten in die Hauptprobe von Mendelssohns neuem Werke (der Walpurgisnacht) hinein. Ich war vom ersten Anfang an wirklich erstaunt über den Wohlklang der Stimmen, die Intelligenz der Sänger, die Präzision und den Schwung des Orchesters, aber vor allem über den Glanz der Komposition.

Ich neige stark zu der Ansicht, dieses oratoriumartige Werk (Walpurgisnacht) sei das Vollendetste, was Mendelssohn bis auf den heutigen Tag geschaffen. Ich kannte, als ich diese Zeilen schrieb, seine entzückende Partitur »Sommernachtstraum« noch nicht. Der Text ist von Goethe und hat nicht das geringste mit der Walpurgisnacht im »Faust« gemeinsam. Er handelt von nächtlichen Zusammenkünften, welche in den ersten Zeiten des Christentums von einer religiösen Sekte abgehalten wurden, die den alten Bräuchen treu blieb, auch als das Opfern auf Höhen untersagt wurde. Sie hatte die Gewohnheit, in den zum heiligen Werke bestimmten Nächten an den Bergwegen bewaffnete Wächter in seltsamen Verkleidungen zahlreich aufzustellen. Wenn der Priester, zum Altar tretend, das heilige Lied anstimmte, schwang auf ein gegebenes Zeichen die teuflische Schar schreckhaft ihre Gabeln und Fackeln und ließ auf alle Arten furchtbares Lärmen und Geschrei hören, um den Chor der Andächtigen zu übertönen und die Andersgläubigen, welche die Ceremonie sonst gestört hätten, zu erschrecken. Davon schreibt sich zweifellos der französische Sprachgebrauch her, das Wort »Sabbat« wie gleichbedeutend mit »nächtlichem Rumor« anzuwenden. Man muß Mendelssohns Musik hören, um eine Vorstellung der verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten zu bekommen, die das Gedicht einem geschickten Komponisten bietet. Er hat in bewundernswerter Weise Vorteil daraus gezogen. Seine Partitur ist, ungeachtet ihrer Kompliziertheit, vollkommen durchsichtig; die vokalen und instrumentalen Wirkungen kreuzen sich auf alle Arten, widersprechen sich, prallen aneinander in scheinbarer Unordnung, die der Gipfel der Kunst ist. Ich erwähne als zwei großartige Stücke entgegengesetzten Charakters: die geheimnisvolle Aufstellung der Wächter und den Schlußchor, wo sich zeitweise die Stimme des Priesters ruhig und fromm über den Höllenlärm der falschen Dämonen und Gespenster erhebt. Man weiß nicht, was man an diesem Finale mehr loben soll: Orchester, Chor oder das wirbelnde Tempo des Ganzen!

Im Augenblicke, da Mendelssohn, voller Freude, es geschaffen zu haben, vom Podium herabstieg, trat ich vor, ganz hingerissen, daß ich es gehört hatte. Der Augenblick für eine solche Begegnung hätte nicht besser gewählt werden können; und doch wurden wir nach den ersten Worten alle beide und gleichzeitig schmerzlich berührt durch denselben Gedanken:

– »Wie! Vor zwölf Jahren! Zwölf Jahre sind es, daß wir zusammen in Roms Ebene geträumt!«

– »Ja, und in den Thermen Caracallas!«

– »Oh! Immer spöttisch! Immer lachlustig auf meine Kosten!«

– »Nein, nein, ich spotte kaum noch; ich sagte es nur, um Ihr Gedächtnis zu prüfen und zu sehen, ob Sie mir meine Ruchlosigkeit vergeben haben. Ich spotte so wenig, daß ich Sie, gleich bei unserer ersten Begegnung, ganz ernstlich um ein Geschenk bitten möchte, auf das ich den größten Wert lege.«

– »Das wäre?«

– »Geben Sie mir den Stock, mit dem Sie eben die Probe Ihres neuen Werkes geleitet haben.«

– »Oh, sehr gerne, unter der Bedingung, daß Sie mir den Ihren schicken.«

– »Ich gebe also Kupfer für Gold; macht nichts, ich willige ein.« Und alsbald wurde mir Mendelssohns Musikzepter gebracht. Andern Tages schickte ich ihm mein plumpes Stück Eichenholz, dabei folgenden Brief, mit dem ›der Letzte der Mohikaner‹ hoffentlich einverstanden war:

»Dem Häuptling Mendelssohn!

Großer Häuptling! Wir haben uns versprochen, unsere Tomahawks auszutauschen; hier der meine! Er ist derb, Deiner schmal; nur Squaws und Bleichgesichter lieben verzierte Waffen. Sei mein Bruder! Und wenn der große Geist uns zu den Jagdgründen im Lande der Seelen berufen wird, sollen die Krieger unsere Tomahawks vereint an der Pforte des Rates aufhängen.«

Das ist, in aller Einfalt, der Tatbestand, den Bosheit, wohl in ›harmloser‹ Absicht, in ein lächerliches Drama hat verwandeln wollen. Mendelssohn hat sich, als er einige Tage später die Organisierung meines Konzertes in die Hand nahm, wirklich wie ein Bruder gegen mich betragen. Der erste Künstler, den er mir als seinen fidus Achates vorstellte, war der Konzertmeister David, ein tüchtiger Musiker, verdienstvoller Komponist und vortrefflicher Geiger. Herr David, der übrigens perfekt französisch spricht, war mir eine sehr große Hilfe.

Das Orchester ist in Leipzig nicht zahlreicher, als in Frankfurt und Stuttgart: aber da die Stadt an instrumentalen Mitteln keinen Mangel hat, so wollte ich es ein wenig verstärken, und die Zahl der Violinen wurde demnach auf vierundzwanzig gebracht; eine Neuerung, die, wie ich später erfuhr, die Entrüstung von zwei oder drei voreingenommenen Kritikern zur Folge hatte. Vierundzwanzig Violinen an Stelle von sechzehn, die bisher zur Aufführung der Sinfonien Mozarts und Beethovens genügt hatten! Welch unverschämte Anmaßung! ... Unsere Versuche, uns drei weitere vorgeschriebene und in mehreren meiner Stücke deutlich hervortretende Instrumente zu verschaffen, scheiterten (wieder ein furchtbares Verbrechen!); es war unmöglich, ein Englisches Horn, eine Ophikleïde und eine Harfe zu finden. Das Englische Horn war so schlecht imstande und infolgedessen so außerordentlich falsch, daß wir, trotzdem der Spieler talentvoll war, darauf verzichten und sein Solo der ersten Klarinette geben mußten.

Die Ophikleïde – wenigstens hieß so das geringe Blechinstrument, das man mir zeigte – glich nicht im entferntesten den französischen Ophikleïden; es hatte fast keinen Ton. Es wurde also als nicht vorhanden betrachtet, und, so gut es gehen mochte, durch eine vierte Posaune ersetzt. An eine Harfe war nicht zu denken; denn vor einem halben Jahre hatte Mendelssohn, der in Leipzig Bruchstücke aus seiner Antigone hatte aufführen lassen wollen, Harfen aus Berlin kommen lassen müssen. Da man mich versicherte, er sei damit nicht sonderlich zufrieden gewesen, so schrieb ich nach Dresden, und der große, würdige Künstler Lipinsky, von dem ich bald sprechen werde, schickte mir den Harfenisten des Theaters. Es handelte sich nur darum, ein Instrument zu finden. Nach allerhand vergeblichen Gängen zu verschiedenen Instrumentenmachern und Musikalienhändlern erfuhr Mendelssohn endlich, ein Liebhaber sei im Besitz einer Harfe, und erhielt von ihm die Erlaubnis, sie einige Tage lang zu benutzen! Aber – man bewundere mein Pech! –: als die neue Harfe da und schön neu besaitet war, fand sich's, daß Herr Richter, der Dresdener Harfenist, der so freundlich gewesen, auf Ersuchen Lipinskys nach Leipzig zu kommen, zwar ein sehr geschickter Pianist war, der unter anderm trefflich die Geige, aber Harfe beinahe gar nicht spielte. Er hatte nur anderthalb Jahre lang die Technik studiert zu dem Zwecke, die einfachsten Arpeggien zu lernen, die in den italienischen Opern gewöhnlich zur Begleitung des Gesanges dienen. Als er nun die diatonischen Läuse und melodischen Linien sah, die sich oft in meiner Sinfonie finden, entfiel ihm der Mut gänzlich, und Mendelssohn mußte sich abends im Konzert ans Klavier setzen, um die Soli der Harfe wiederzugeben und ihre Einsätze zu stützen. So viel Lärm um nichts!

Wie dem auch sei: sobald ich zu diesen Hindernissen einmal Stellung genommen hatte, begannen die Proben. Die Aufstellung des Orchesters in diesem schönen Saal ist so vorzüglich, die Verbindung jedes einzelnen Mitwirkenden mit dem Dirigenten so bequem, und die Künstler – übrigens vollendete Musiker – sind durch Mendelssohn und David an so große Aufmerksamkeit beim Studium gewöhnt, daß zwei Proben zur Bewältigung eines langen Programms genügten, auf dem, unter andern schwierigen Kompositionen, die Ouvertüre zu König Lear, zu den Vehmrichtern und die phantastische Sinfonie standen. David hatte überdies eingewilligt, das Stück für Violine (»Träumerei und Laune«) zu spielen, das ich vor zwei Jahren für Artôt geschrieben, und dessen Orchesterbegleitung ziemlich schwierig ist. Er führte seine Aufgabe vortrefflich und unter großem Beifall der Anwesenden durch.

Was das Orchester betrifft, so ist es gewiß ein hohes Lob, zu sagen, daß es die angeführten Stücke nach nur zwei Proben untadelhaft vortrug. Alle Pariser Musiker und noch manche andere werden, glaube ich, diese Meinung teilen.

Dieser Abend beunruhigte das musikalische Gewissen der Leipziger und, soweit ich aus der Polemik der Zeitungen urteilen kann, war der Streit, der sich darüber entspann, zum allerwenigsten so heftig, als der, dessen Gegenstand dieselben Werke vor mehr als zehn Jahren zu Paris bildeten. Während man also über die Moralität meiner musikalischen Taten und Handlungen debattierte, die den einen als gute Werke, den andern als vorsätzliche Verbrechen galten, trat ich die Reise nach Dresden an, von der ich bald berichten werde. Aber um den Faden der Erzählung meiner Erfahrungen in Leipzig nicht abzureißen, will ich Ihnen, mein lieber Heller, mitteilen, was sich, nach meiner Rückkehr, beim Konzert zum Besten der Armen zutrug, von dem mir Mendelssohn in seinem Briefe gesprochen und bei dem ich meine Mitwirkung zugesagt hatte.

Da dieser Abend ein Unternehmen der ganzen Konzertgesellschaft war, so hatte ich die reichen, mächtigen Mittel des Gesangvereins zu meiner Verfügung, dem ich Ihnen gegenüber bereits ein so wohlverdientes Lob gespendet. Ich hütete mich, wie Sie sich denken können, wohl, so schöne Gesangskräfte unbenutzt zu lassen, und schlug den Direktoren der Gesellschaft das dreichörige Finale aus »Romeo und Julie« vor, dessen Text von Professor Duesberg in Paris ins Deutsche übersetzt worden war. Diese Übersetzung mußte nur mit den Singstimmen in Verbindung gebracht werden. Das war eine lange, mühsame Arbeit; dazu war die deutsche Prosodie in der Verteilung der langen und kurzen Silben von dem Kopisten nicht wohl beachtet worden; daraus erwuchsen solche Schwierigkeiten für die Sänger, daß Mendelssohn seine Zeit mit der Durchsichtung des Textes und der Verbesserung der störendsten Fehler vergeuden mußte. Außerdem hatte er nahezu acht Tage lang den Chor einzudrillen. (Acht Proben mit einem so zahlreichen Chor würden in Paris viertausendachthundert Franken kosten. Und man fragt mich noch manchmal, warum ich in meinen Konzerten nicht »Romeo und Julie« spielen lasse!) Der Gesangverein, in dem allerdings einige Opernchoristen und die Thomasschüler mitwirken, besteht fast ganz aus Liebhabern, die der ersten Gesellschaft Leipzigs angehören. Dies der Grund, warum man zur Einstudierung irgendeines ernsthaften Werkes leichter eine große Anzahl Proben bekommen kann. Als ich nach Dresden zurückkehrte, waren indes die Übungen noch lange nicht zu Ende, namentlich der Männerchor ließ viel zu wünschen übrig. Es tat mir leid, einen großen Meister und Virtuosen, wie Mendelssohn, mit der untergeordneten Arbeit eines Chordirektors zu belästigen, die er, das muß ich sagen, mit unermüdlicher Geduld verrichtete. Jede einzelne Bemerkung machte er mit Sanftmut und vollendeter Höflichkeit, die man ihm noch mehr danken würde, wenn man wüßte, wie selten in solchem Falle diese Eigenschaften sind. Was mich betrifft, so bin ich von unsern Opernchoristinnen oft der Unhöflichkeit beschuldigt worden; mein Ruf steht nach dieser Richtung hin fest. Ich muß gestehen, daß ich ihn verdiene; sobald es sich um Übungen mit einem großen Chor handelt, schnürt mir, ehe sie noch begonnen haben, von vornherein eine Art Zorn die Kehle zu, üble Laune stellt sich ein, wiewohl ihr noch nichts Nahrung gegeben hat, und ich kann, was die Choristen betrifft, den Einfall jenes Gascogners begreifen, der einem kleinen Jungen, welcher harmlos an ihm vorbeiging, einen Fußtritt gab und auf dessen Bemerkung »er habe nichts getan« versetzte: »Aber denk' erst mal, wenn du mir wirklich was getan hättest!« Indessen waren nach zwei weiteren Sitzungen die drei Chöre gelernt, und das Finale wäre mit Unterstützung des Orchesters ohne Zweifel vorzüglich gegangen, wenn nicht ein Opernsänger, der sich seit einigen Tagen über die Schwierigkeiten der Partie des Pater Lorenzo beklagte, unser ganzes, so mühsam errichtetes Musikgebände über den Haufen geworfen hätte.

Schon bei den Klavierproben hatte ich bemerkt, daß dieser Herr (dessen Namen ich vergessen habe) der Klasse jener zahlreichen Musikanten angehöre, die nichts von Musik verstehen; er zählte seine Pausen schlecht, setzte nicht zur rechten Zeit ein, irrte sich in der Intonation usw.; dennoch sagte ich mir: »Vielleicht hat er keine Zeit, seine Partie zu studieren; er lernt sehr schwierige Rollen fürs Theater, warum sollte er nicht auch damit zurecht kommen?« Aber ich dachte sehr oft an Alizard, der diese Szene immer so schön gesungen, und bedauerte lebhaft, daß er in Brüssel war und kein Deutsch konnte. Als jedoch jener Herr in der Hauptprobe, am Tage vor dem Konzert, noch nicht weiter war und obendrein gottweißwelche kerndeutsche Flüche in den Bart brummte, so oft das Orchester seinetwegen aufgehalten werden mußte, oder wenn Mendelssohn oder ich ihm seine Stellen vorsangen, so ging mir endlich die Geduld aus; ich dankte dem Orchester und bat es, sich nicht mehr mit meinem Werke beschäftigen zu wollen, dessen Baßpartie offenbar die Aufführung unmöglich mache. Als ich nach Hause ging, stellte ich die traurige Betrachtung an: Zwei Komponisten, die lange Jahre alles aufgeboten, was ihnen Natur an Intelligenz und Phantasie zur Ausübung ihrer Kunst mitgegeben, zweihundert aufmerksame, fähige Musiker – Instrumentalisten und Sänger – müssen sich acht Tage lang vergebens plagen und auf die Ausführung des begonnenen Werkes verzichten infolge der Unfähigkeit eines einzigen Menschen! O Sänger, die ihr nicht singt, auch ihr seid also Götter! ... Die Verlegenheit der Gesellschaft, das Finale, welches eine halbe Stunde dauert, zu ersetzen, war groß; mit Hilfe einer eingeschobenen Probe, zu der Orchester und Chor am Morgen des Konzerttages selbst die Güte hatten zu erscheinen, kamen wir zum Ziel. Die Ouvertüre zu König Lear, die dem Orchester wohlbekannt war, und das Offertorium aus meinem Requiem, wo der Chor nur einige Noten zu singen hat, wurden an die Stelle des Fragments aus Romeo gesetzt und am Abend in befriedigendster Weise ausgeführt. Ich muß sogar hinzufügen, daß das Stück aus dem Requiem einen Effekt machte, den ich mir nicht erwartet hatte, und mir ein unschätzbares Urteil eintrug: das von Robert Schumann, der zu den kritisierenden Komponisten gehört, die mit Fug und Recht das größte Ansehen in Deutschland genießen. Bei der Probe unterbrach Schumann seine gewöhnliche Stummheit und sagte zu mir: » Das Offertorium übertrifft alles.« Mendelssohn seinerseits machte mir sein Kompliment über einen Eintritt der Kontrabässe in der Begleitung meiner Romanze »Abwesenheit«, die gleichfalls in diesem Konzert gesungen wurde.

Einige Tage später trug mir dasselbe Offertorium ein Lob ein, auf das ich noch weit weniger gerechnet hatte; das kam so: Ich war in Leipzig krank geworden, und als ich, bei meiner Abreise, den Arzt, der mich behandelt hatte, nach meiner Schuldigkeit fragte, antwortete er mir:

– »Schreiben Sie mir das Thema Ihres Offertoriums mit Ihrer Unterschrift auf dieses Blatt Papier, und ich werde noch in Ihrer Schuld sein; nie hat ein Musikstück mich so ergriffen!«

Ich zögerte ein wenig, den Doktor für seine Behandlung auf diese Art bezahlt zu machen, aber er bestand darauf, und der Zufall gab mir Gelegenheit, auf sein Kompliment durch ein anderes, besser verdientes zu antworten. Glauben Sie wohl, daß ich so einfältig war, sie nicht zu ergreifen? Ich schrieb nämlich an den Kopf der Seite! »Herrn Dr. Clarus.«

– »Carus«, sagte er, »Sie haben meinem Namen ein l zuviel gegeben.«

Sogleich fiel mir ein: Patentibus carus, sed clarus inter doctos Den Kranken teuer, aber berühmt unter den Gelehrten. – doch ich wagte nicht, es zu schreiben ...

Es gibt Augenblicke, in denen ich von seltener Dummheit bin.

Ein Komponist und Virtuose, wie Sie, mein lieber Heller, interessiert sich lebhaft für alles, das seine Kunst betrifft; ich finde es also sehr natürlich, daß Sie so viele Fragen wegen der musikalischen Schätze Leipzigs an mich gerichtet haben; ich will einige davon lakonisch beantworten. Sie fragen mich, ob die große Pianistin Clara Schumann irgendeine Rivalin in Deutschland habe, die man ihr in Ehren an die Seite stellen könnte?

Ich glaube nicht.

Sie bitten mich, Ihnen zu sagen, ob das Musikverständnis der Leipziger Dickköpfe bedeutend sei oder wenigstens dem, was wir schön nennen, zuneige?

Ich will nicht.

Ob das Glaubensbekenntnis aller, die behaupten, die hohe, ernste Kunst zu lieben laute: »Es gibt keinen andern Gott als Bach, und Mendelssohn ist sein Prophet?«

Ich darf nicht.

Ob das Theater gut sei, ob das Publikum sich sehr mit Unrecht an Lortzings Spielopern erfreue, die dort gegeben werden?

Ich kann nicht.

Ob ich eine der alten fünfstimmigen Messen mit Basso continuo, die man in Leipzig so hoch schätzt, gelesen oder gehört habe?

Ich weiß nicht.

Ade, schreiben Sie weiter so schöne Capriccios, wie Ihre beiden letzten sind, und Gott bewahre Sie vor Quatrupelfugen über einen Choral.


 << zurück weiter >>