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40.

Allerlei Spleen. Einsamkeit.

 

Um diese Zeit meines akademischen Lebens empfand ich von neuem die Anfälle einer grausamen Krankheit (moralisch, nervös, eingebildet – wie man will), die ich »Einsamkeitsweh« nennen möchte. Eine erste Anwandlung davon hatte ich im Alter von sechzehn Jahren unter folgenden Umständen. An einem schönen Maimorgen in la Côte-Saint-André saß ich auf einer Wiese, im Schatten einer Gruppe großer Eichen, und las einen Roman von Montjoie mit Namen: »Das Manuskript vom Posilippo.« Ich war ganz in meine Lektüre vertieft, wurde indes davon abgezogen durch sanfte, ernste Gesänge, die sich in regelmäßigen Pausen über die Ebene ergossen. Eine Prozession von Bittgängern zog nahe vorbei, ich hörte die Stimmen von Bauern, welche die »Litanei der Heiligen« intonierten. Dieser Brauch, im Frühjahr über Hügel und Felder zu ziehen, um für die Früchte der Erde den Segen des Himmels anzurufen, hat etwas Poetisches, Rührendes, das mich unsagbar bewegte. Am Fuße eines mit Laubwerk geschmückten Holzkreuzes hielt der Zug an; ich sah ihn niederknien, indes der Priester das Feld segnete, dann seinen langsamen Marsch wieder aufnehmen, während er in seiner schwermütigen Psalmodie fortfuhr. Die schwache Stimme unseres alten Geistlichen hob sich bisweilen mit einzelnen Bruchstücken davon ab:

– – – – – – – – – – – – –
– – – – – Conservare digneris
(Die Bauern:)
Te rogamus audi nos!

Und die fromme Schar zog immer weiter und weiter.

– – – – – – – – – – – – –
(Decrescendo.)
Sancta Barbara
Ora pro nobis!
(Perdendo.)
Sancta Magdalena
Ora pro – – – – – – – – – –
Sancta Maria,
Ora – – – – – – – – – – –
Sancta – – – – – – – – – –
– – – – – – – – – – – nobis

– – – – – – – – – – – – – –

Stille ... leise flüstert das blühende Getreide, wogend im leichten Hauch der Morgenluft ... der Schrei verliebter Wachteln, die nach ihren Gefährten rufen ... die Ammer, auf der Spitze einer Pappel, singend vor Lust ... dumpf schlägt mein Herz ... wie weit von mir liegt doch das Leben, fern, so ferne ... Am Horizont strahlen die Gletscher der Alpen im ersten Scheine der aufgehenden Sonne ungeheure Lichtgarben wieder ... Dort drüben liegt Meylan ... hinter diesen Alpen Italien, Neapel, der Posilippo ... die Personen meines Romans ... brennende Leidenschaften ... irgendein unergründliches Glück ... ein Geheimnis ... Empor, empor auf Flügeln! ... Den Raum durchmessen! Schauen, bewundern! ... Lieben will ich, schwärmen, begeistert umfassen, eintreten ins große Leben! ... Aber ich bin nichts, als ein unbehilflicher Körper, der an die Erde geschmiedet ist! Jene Personen sind Werke der Phantasie oder leben nicht mehr ... was Liebe? ... was Ruhm? ... was Herz? ... Wo ist mein Stern? ... Die Stella montis? ... verschwunden gewiß auf immerdar ... wann, wann werd ich Italien sehen? ...

Und der Anfall brach mit aller Macht aus; ich litt schrecklich, warf mich zur Erde, seufzend, die Arme schmerzlich gebreitet, riß krampfhaft Gras aus und unschuldige Gänseblümchen, die mich vergeblich aus großen, verwunderten Augen ansahen, und rang mit der Verlassenheit, mit der gräßlichen Vereinsamung.

Und doch, was ist solch ein Anfall, verglichen mit den Qualen, die ich seitdem ausgestanden, deren Stärke mit jedem Tage wächst? ...

Ich weiß nicht, wie ich einen Begriff von diesem unsagbaren Übel geben soll. Ein physikalisches Experiment allein kann, so glaube ich, zum Gleichnis dienen; nämlich dieses: Wenn man unter eine Glasglocke, die mit einer Luftpumpe in Verbindung steht, nebeneinander eine Schale mit Wasser und eine mit Schwefelsäure stellt, sieht man, im Augenblick, da die Saugpumpe die Glocke luftleer macht, wie das Wasser sich bewegt, in Wallung gerät und sich verflüchtigt. Die Schwefelsäure nimmt soviel von diesem Wasserdampf auf, als sich entwickelt, und, da die Dampfmoleküle beim Verdunsten eine große Menge Wärme wegnehmen, gefriert alsbald das am Boden des Gefäßes zurückbleibende Wasser und bildet ein Stückchen Eis.

Nun also! So ungefähr ist es, wenn sich diese Vorstellungen von Einsamkeit und das Gefühl der Verlassenheit sich meiner bemächtigen. Die Leere legt sich um mein klopfendes Herz, und dieses Herz wird dann, wie es scheint, von einer unwiderstehlichen Macht getrieben, sich zu verflüchtigen, und versucht, durch Ausdehnung sich aufzulösen. Dann brennt und schmerzt mich die Haut am ganzen Körper; ich werde rot von Kopf bis zu Fuß. Ich möchte am liebsten schreien, meine Freunde, selbst die gleichgültigsten Bekannten, zu Hilfe rufen, daß sie mich trösten, behüten, verteidigen, mich vor Zerstörung bewahren, mein Leben aufhalten, das nach allen Windrichtungen entflieht.

Man hat während dieser Krise keine Todesgedanken; nein, der Gedanke an Selbstmord ist sogar unerträglich; man möchte nicht sterben, bewahre! man möchte leben, unbedingt, ja man möchte seinem Leben tausendmal mehr Energie verleihen. Es ist eine wunderbare Genußfähigkeit, die bis zur Qual anwächst, weil sie keine Genüge findet, die nur durch ungeheure, verzehrende, wütende Freuden gestillt werden kann, entsprechend dem Überschwang an Empfindsamkeit, mit dem man ausgestattet ist.

Dieser Zustand ist nicht der Spleen, aber er führt ihn später herbei: er ist das Aufwallen, die Verflüchtigung des Herzens, der Sinne, des Hirns, der nervösen Substanz. Der Spleen ist das Gefrieren alles dessen, er ist der Eisblock.

Aber selbst im ruhigen Zustand fühle ich an Sonntagen im Sommer immer ein wenig Vereinsamung, weil unsere Städte an diesen Tagen feiern, weil jeder hinaus aufs Land geht; weil man »im Grünen«, »verreist« ist. Die Adagios der Sinfonien von Beethoven, gewisse Szenen aus Alceste und Armide von Gluck, eine Arie aus seiner italienischen Oper Telemach, die »elyseischen Gefilde« aus seinem Orpheus, erzeugen ebenso heftige Anwandlungen desselben Leidens. Aber diese Meisterwerke führen ihr Gegengift mit sich: sie rufen die Tränen und man ist erlöst. Die Adagios mancher Sonaten von Beethoven aber und Glucks »Iphigenie auf Tauris« gehören ganz und gar dem Spleen an und führen ihn herbei; diese Stücke frösteln, die Luft ist trübe, der Himmel grau von Wolken, und dumpf stöhnt der Nordwind.

Übrigens gibt es zwei Arten von Spleen. Die eine ist ironisch, spöttisch, ungestüm, heftig, gehässig; die andere, schweigend und düster, verlangt nichts als Untätigkeit, Stille, Einsamkeit und Schlaf. Einem Wesen, das davon besessen ist, wird alles gleichgültig; der Untergang einer Welt könnte es kaum rühren. Ich wünsche mir in solchen Fällen, die Erde wäre eine Bombe und ich könnte sie zum Spaß anzünden.

Eines Tages lag ich, eine Beute solchen Spleens, im Lorbeergebüsch der Akademie und hatte mich wie ein Igel in einem Haufen welker Blätter vergraben; da fühlte ich die Fußtritte von zweien meiner Kameraden: Constant Dufeu, der Architekt, und der Bildhauer Dantan der Ältere waren gekommen, mich aufzuwecken.

– »Heda! Du Freudenfeuer! Willst du mit nach Neapel? Wir gehen hin.«

– »Geht zum Teufel! Ihr wißt wohl, daß ich kein Geld mehr habe.«

– »Aber, Gimpel der du bist, wir haben welches und pumpen dir! Komm, Dantan, hilf mir doch ihn aufheben, sonst ist nichts mit ihm anzufangen. Siehst du wohl, da stehst du! ... Schüttel dich ein bißchen, geh zu Herrn Vernet und bitte ihn um vier Wochen Urlaub. Wenn dein Koffer gepackt ist, reisen wir. Abgemacht!«

Und wirklich, wir reisten.

Außer einem ganz netten Skandal, den wir in der kleinen Stadt Ciprano veranlaßten, ... nach dem Nachtessen, der sich aber schwer erzählen läßt, entsinne ich mich keinerlei bemerkenswerter Vorfälle auf dieser Reise, die wir gut bürgerlich im Wagen machten.

Aber Neapel! ...


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