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Mein Geist hat mit so brüderlichem Interesse die Ehe durch alle Wandlungen ihres phantastischen Lebens begleitet, daß ich mir vorkomme, als sei ich mit dem jungen Ehepaar, dem ich mich zu Beginn dieses Buches anschloß, zusammen alt geworden.
Nachdem ich in Gedanken den stürmischen Drang der ersten menschlichen Leidenschaften durchgemacht, nachdem ich die Hauptereignisse des Ehelebens in flüchtigen Umrissen und vielleicht mit unvollkommener Zeichenkunst hingeworfen, nachdem ich mich mit so vielen Frauen herumgeschlagen habe, die mir nicht angehörten, nachdem ich so viele Charaktere bekämpft, die ich aus dem Nichts hervorrief, nachdem ich so viele Schlachten mitgemacht habe – empfinde ich eine geistige Mattigkeit, die wie ein dunkler Krepp alle Dinge des menschlichen Lebens bedeckt. Mir ist, als hätte ich einen Katarrh, als trüge ich eine grüne Brille, als zitterten meine Hände, als würde ich die zweite Hälfte meines Lebens und meines Buches damit ausfüllen, die Ausgelassenheiten der ersten Hälfte zu entschuldigen.
Ich sehe mich im Geiste von großen Kindern umgeben, die nicht die meinigen sind; ich sitze neben einer Frau, die ich nicht geheiratet habe. Ich fühle, daß meine Stirn dicht von Runzeln bedeckt ist. Ich sitze vor einem Kamin, dessen Feuer Funken sprüht, wie wenn es mich ärgern wollte und doch sitze ich in einem altmodischen Zimmer. – Und als ich meine Hand auf mein Herz lege, da durchfährt mich ein Gefühl des Erschreckens; denn ich frage mich: »Ist's denn wirklich verwelkt?«
Wie wenn ich ein alter Sachwalter wäre, macht kein Gefühl mehr Eindruck auf mich, und eine Tatsache erkenne ich nur an, wenn sie, wie es in Lord Byrons Vers heißt, von zwei guten falschen Zeugen bestätigt ist. Kein Gesicht vermag mich zu täuschen. Ich bin düster und trübsinnig. Ich kenne die Welt, und sie hat keine Illusionen mehr für mich. Meine heiligsten Freundschaftsgefühle sind verraten worden, ich wechsle mit meiner Frau einen unergründlich tiefen Blick, und unser unbedeutendes Wort ist ein Dolch, der unser Leben durchbohrt. Mich beherrscht eine entsetzliche Ruhe. Das also ist der Friede des Alters! Der Greis besitzt also zum voraus schon in seinem Innern den Friedhof, der gar bald ihn besitzen wird. Er gewöhnt sich an die Kälte. Der Mensch stirbt stückweis, wie uns die Philosophen sagen; und dabei führt er fast immer den Tod an; denn ist es wirklich immer Leben, was dieser mit seiner Knochenhand ergreift?
Oh! Jung und in der Lebensfülle sterben! Beneidenswürdiges Geschick! Heißt dies nicht, wie ein wundervoller Dichter sagte, ›alle seine Illusionen mit sich nehmen, wie ein König des Morgenlandes mit all seinen Edelsteinen und Schätzen, mit allem Menschenglück ins Grab steigen?‹ Wie sehr müssen wir nicht dem sanften, wohltätigen Geiste dankbar sein, der jedes Ding hienieden beseelt! Mit mütterlicher Sorgfalt zieht die Natur Stück für Stück uns unsere Kleider ab, entkleidet uns die Seele, indem sie allmählich unser Gehör, unser Gesicht, unsern Tastsinn schwächt, indem sie den Kreislauf unseres Bluts verlangsamt, indem sie unsere Säfte gerinnen läßt, um uns gegen den Angriff des Todes ebenso unempfindlich zu machen, wie wir es gegen die Angriffe des Lebens waren und diese mütterliche Sorgfalt, mit der sie sich um unsere gebrechliche Hülle bekümmert, verwendet sie ebenfalls auf die Gefühle und auf jenes doppelte Dasein, das aus der ehelichen Liebe entsteht. Zuerst sendet sie uns das Vertrauen: es streckt uns die Hand hin und ruft uns offenherzig zu: »Sieh! ich bin auf ewig dein!« Ihm folgt lässigen Schrittes die Schlaffheit, ihren blonden Kopf abwendend, um zu gähnen, wie eine junge Witwe, die die Redensarten eines Ministers anhören muß, der eine Pensionsanweisung für sie unterzeichnen will. Dann kommt die Gleichgültigkeit: sie streckt sich auf einem Sofa aus und denkt nicht mehr daran, ihr Kleid zu ordnen, das früher von der Begierde mit so keuscher Lebhaftigkeit emporgestreift wurde. Sie wirft ohne Schamhaftigkeit, aber auch ohne Unbescheidenheit einen Blick auf das Ehebett; und wenn sie überhaupt noch etwas wünscht, so sind es herbe Früchte, um die Schmeckwärzchen ihres abgestumpften Gaumens zu kitzeln. Endlich erscheint mit sorgenvoller Stirn und verächtlicher Miene die philosophische Lebenserfahrung: sie weist mit dem Finger auf die Ergebnisse, nicht auf die Ursachen hin; nicht der stürmische Kampf beruhigt, sondern nur der Sieg. Sie berechnet Zinsen mit den Steuerpächtern, sie bestimmt die Mitgift eines Kindes. Alles materialisiert sie. Durch einen Wink ihres Zauberstäbchens wird das Leben fest und verliert seine Elastizität: früher war alles im Fluß, jetzt ist alles zu Mineral erstarrt. Liebeswonne gibt es dann nicht mehr für unsere Herzen: sie ist gerichtet, sie war nur eine flüchtige Empfindung, eine vorübergehende Krisis. Wonach heute die Seele sich sehnt, das ist ein bestimmter Zustand, ein glücklicher Zustand, der von Dauer ist; und diese beruht nur in vollkommener Ruhe, in der Regelmäßigkeit der Mahlzeiten, des Schlafs und der Verrichtungen der schwerfällig gewordenen Organe.
»Das ist entsetzlich!« rief ich; »ich bin jung, lebenskräftig! Mögen lieber alle Bücher auf der ganzen Welt zugrunde gehen als meine Illusionen!«
Ich eilte aus meinem Arbeitszimmer heraus und stürzte mich in den Trubel von Paris. Und als ich die entzückendsten Gesichter an mir vorüberschweben sah, da bemerkte ich bald, daß ich nicht alt war. Die erste junge, schöne und elegant gekleidete Frau, die mir begegnete, verjagte durch das Feuer ihres Blicks den ganzen Hexenspuk, dessen Opfer ich durch eigene Schuld war.
Ich hatte meine Schritte nach dem Tuileriengarten gelenkt, und kaum hatte ich ihn betreten, da bemerkte ich das Musterbild des Ehemanns, mit dem die Schlußkapitel dieses Buches sich beschäftigen. Hätte ich die Ehe, wie sie mir vorschwebt, charakterisieren, idealisieren oder personifizieren wollen, so wäre es der heiligen Dreifaltigkeit selber unmöglich gewesen, ein so vollkommenes Sinnbild derselben zu schaffen.
Der Leser stelle sich eine Frau von etwa fünfzig Jahren vor: sie trägt einen Überrock von braunrotem Merino; in ihrer linken Hand hält sie eine grüne Schnur, die an dem Halsband eines hübschen kleinen englischen Pinschers befestigt ist; den rechten Arm reicht sie einem Herrn in Kniehosen und schwarzen Seidenstrümpfen, unter dessen Hut mit seltsam aufgekrempten Rändern eine schneeweiße Taubenflügelfrisur sichtbar wurde. Ein Zöpfchen, von der Größe etwa einer Federpose, tanzte auf dem ziemlich fetten gelblichen Halse, den der zurückgeschlagene Kragen eines abgetragenen Rocks freiließ. Dieses Paar spazierte mit den würdevollen Schritten eines Botschafters; der Ehemann, der mindestens seine siebzig Jahre zählte, blieb freundlich stehen, sooft der Affenpinscher einen Einfall bekam. Ich beschleunigte meine Schritte, um dieses lebende Bild gegenwärtiger Betrachtung einzuholen, und war im höchsten Grade überrascht, als ich den Marquis von T. erkannte, den Freund des Grafen von Nocé, der mir seit langer Zeit das Ende der unterbrochenen Geschichte schuldig war, die ich in der siebzehnten Betrachtung bei der ›Theorie des Bettes‹ mitgeteilt habe.
»Ich habe die Ehre,« sagte er zu mir, »Ihnen Frau Marquise von T. vorzustellen.«
Ich machte der Dame eine tiefe Verbeugung; ihr Gesicht war blaß und von Runzeln durchzogen; ihre Stirn schmückte ein Kranz von Löckchen, die aber nicht die geringste Illusion hervorriefen, sondern im Gegenteil nur zu gut zu all den Runzeln paßten, die diese Stirn durchzogen. Die Dame hatte ein bißchen Rot aufgelegt und sah ziemlich genau wie eine alte Provinzschauspielerin aus.
»Ich sehe nicht, was Sie gegen eine Ehe wie die unsrige sagen könnten!« sagte der alte Herr zu mir.
»Das ist auch durch die römischen Gesetze verboten!« antwortete ich lachend.
Die Marquise warf mir einen Blick zu, worin sich Unruhe und zugleich Mißbilligung aussprach; sie schien damit sagen zu wollen: »Sollte ich etwa so alt geworden sein, um nichts weiter als eine Konkubine zu sein?«
Wir setzten uns auf eine Bank unter der schattigen Baumgruppe an der Ecke der hohen Terrasse, von der man die Place Louis quinze übersieht. Der Herbst entblätterte bereits die Bäume und streute vor uns die gelben Blätter seines Kranzes hin; aber die Sonne verbreitete immer noch eine sanfte Wärme.
»Nun, ist das Buch fertig?« fragte mich der alte Herr in jenem salbungsvollen Tonfall, der den Mitgliedern der alten Aristokratie eigentümlich ist.
Er begleitete diese Worte mit einem sardonischen Lächeln, das deutlich genug war.
»So ziemlich,« antwortete ich. »Ich stehe jetzt bei der philosophischen Situation, bei der, wie ich glauben möchte. Sie selber angelangt sind; aber ich gestehe Ihnen, ich ...«
»Sie suchen Ideen?« fiel er ein, indem er einen Satz beendigte, für den ich selber nicht die passenden Worte finden konnte. »Nun,« fuhr er fort, »Sie können kühnlich die Behauptung aufstellen, ein Mensch – verstehen Sie mich recht, ich meine natürlich: ein denkender Mensch – spricht schließlich, wenn er im Winter seines Lebens steht, der Liebe geradezu die Existenz ab, die unsere aberwitzigen Illusionen ihr verliehen haben!«
»Wie? Sie wollten leugnen, daß es am Tage nach der Hochzeit Liebe gibt?«
»Am Tage nach der Hochzeit – hm. Das wäre allerdings ein Grund; aber meine Heirat ist eine Spekulation,« fuhr er fort, indem er sich zu meinem Ohr neigte. »Ich habe mir die Pflege, die Aufmerksamkeiten, die Dienste gekauft, deren ich bedarf, und ich bin völlig sicher, daß gegen mich alle Rücksichten beobachtet werden, die mein Alter verlangt; denn ich habe in meinem Testament mein ganzes Vermögen meinem Neffen vermacht; da also meine Frau nur so lange reich sein kann, als ich lebe, so begreifen Sie, daß ...«
Ich sah den alten Herrn mit einem so durchbohrenden Blick an, daß er mir die Hand schüttelte und lachend zu mir sagte:
»Sie scheinen mir ein gutes Herz zu haben – nun, Sie können mir glauben, ich habe für Sie eine angenehme Überraschung in meinem Testament aufgehoben!«
»Kommen Sie doch, Joseph!« rief die Marquise, indem sie einem Bedienten entgegenging, der einen Überrock mit wattiertem Seidenfutter auf dem Arm trug, »vielleicht ist es dem Herrn Marquis schon zu kalt gewesen.«
Der alte Marquis zog den Überzieher an, knöpfte ihn zu, nahm meinen Arm und ging mit mir nach dem Teil der Terrasse, der vom wärmsten Sonnenlicht überflutet wurde. Dort sagte er zu mir:
»In Ihrem Werke werden Sie ohne Zweifel vom Standpunkt des jungen Menschen über die Liebe gesprochen haben. Nun, wenn Sie aber Ihren Verpflichtungen gerecht werden wollen, die für Sie aus dem Wort ek..., elek...«
»Eklektische,« sagte ich lächelnd zu ihm, denn dieser philosophische Ausdruck hatte ihm niemals in den Kopf gewollt.
»Ich kenne das Wort wohl!« versetzte er; »wenn Sie also Ihrem Gelübde nachkommen und ›eklektisch‹ sein wollen, so müssen Sie über die Liebe auch einige Gedanken gereifter Männer vorbringen; ich werde Ihnen diese mitteilen und werde Ihnen das Verdienst derselben – wenn überhaupt etwas Verdienstvolles daran ist – nicht streitig machen; denn ich will Ihnen etwas von meinem Eigentum vermachen – dies wird allerdings auch das einzige sein, was Sie davon bekommen!«
»Kein Vermögen an Geld kommt einem Vermögen an Ideen gleich – vorausgesetzt allerdings, daß die Ideen gut seien! Ich werde also voller Dankbarkeit anhören, was Sie mir sagen wollen.«
»Liebe gibt es nicht!« sprach der alte Herr, indem er mich ansah. »Es gibt mal ein Gefühl, es ist nur eine unglückliche Notwendigkeit, die zwischen den Bedürfnissen des Leibes und denen der Seele die Mitte hält. Wir wollen aber einmal für einen Augenblick auf Ihre jugendlichen Gedanken eingehen und das Wesen dieser sozialen Krankheit festzustellen versuchen. Ich glaube, Sie können die Liebe nur entweder als ein Bedürfnis oder als ein Gefühl auffassen.«
Ich gab durch ein Zeichen meine Zustimmung zu erkennen.
»Fassen wir sie als ein Bedürfnis auf,« fuhr der Marquis fort, »so macht die Liebe sich später als alle andern Bedürfnisse geltend und hört zuerst auf. Wir sind verliebt mit zwanzig Jahren – von den kleinen Abweichungen gestatten Sie mir wohl abzusehen – und wir sind nicht mehr verliebt mit fünfzig. Wie oft würde sich im Laufe dieser dreißig Jahre das Bedürfnis fühlbar machen, wenn wir nicht durch unsere die Sinnlichkeit reizenden Großstadtsitten dazu herausgefordert würden, ferner durch unsere Gewohnheit, im Verkehr nicht nur mit einer Frau, sondern mit Frauen zu leben? Was müssen wir für die Erhaltung unserer Rasse tun? Vielleicht so viele Kinder zeugen, wie wir Brüste haben – denn wenn das eine stirbt, so wird das andere leben. Wenn diese beiden Kinder stets programmgemäß einträfen, wohin würde es dann mit den Nationen kommen? Dreißig Millionen Menschen sind für Frankreich eine zu starke Bevölkerung, denn die Erträgnisse des Bodens reichen nicht dazu aus, mehr als zehn Millionen vor elendem Hunger zu bewahren. Denken Sie daran, daß die Chinesen bereits genötigt sind, ihre Kinder ins Wasser zu werfen; so berichten die Reisenden. Zwei Kinder zu erzeugen – das also ist der ganze Zweck der Ehe. Die überflüssigen Liebesfreuden sind nicht nur Ausschweifung, sondern bedeuten sogar einen ungeheuren Verlust für den Menschen, wie ich Ihnen sofort nachweisen werde. Nun vergleichen Sie mit dieser armselig geringen Dauer und Betätigung der Liebe, was für Ansprüche die Befriedigung unserer übrigen Daseinsbedingungen tagaus, tagein und unser ganzes Leben lang an uns stellt! Die Natur macht uns stündlich auf unsere wirklichen Bedürfnisse aufmerksam; dagegen will sie durchaus nichts von den Ausschreitungen wissen, die unsere Phantasie zuweilen auf dem Gebiet der Liebe wünscht. Die Liebe ist also das allergeringste unserer Bedürfnisse, und das einzige, das wir vernachlässigen können, ohne daß dadurch den Funktionen unseres Körpers Abbruch geschieht. Die Liebe ist ein sozialer Luxus, wie Spitzen und Diamanten es sind. Betrachten wir die Liebe jetzt als Gefühl, so können wir dabei zwischen Vergnügen und Leidenschaft unterscheiden. Was ist das Wesen des Vergnügens? Die menschlichen Empfindungen beruhen auf zwei Grundgesetzen: Anziehung und Abneigung. Anziehung ist jene unbestimmte Vorliebe für alles, was unserm Selbsterhaltungstrieb schmeichelt; Abneigung geht aus demselben Instinkt hervor, indem er uns warnt, daß etwas ihm schädlich werden kann. Alles, was kräftig auf unsern Organismus wirkt, läßt uns unseres Daseins bewußt werden: und darin besteht eben das Vergnügen. Seine Einzelbestandteile sind der Wunsch und der Genuß, irgend etwas zu haben. Das Vergnügen ist ein in seiner Art einziges Element, und unsere Leidenschaften sind nur mehr oder minder ausdrucksvolle Abarten desselben; daher werden fast immer, wenn ein Vergnügen zur Gewohnheit wird, alle andern Vergnügungen dadurch ausgeschlossen. Nun aber hat die Liebe von allen unsern Freuden die geringste Stärke und die geringste Dauer. Denn worin soll die Lust der Liebe bestehen? Etwa im Besitze eines schönen Leibes? Für Geld können Sie an einem einzigen Abend sich wunderschöne Odalisken verschaffen; aber einen Monat später werden sie vielleicht jegliches Gefühl in Ihnen auf ewig abgetötet haben. Oder sollte irgendein anderer Grund vorliegen? Lieben Sie etwa eine Frau, weil sie gut gekleidet, elegant, reich ist? Weil sie in eigener Equipage fährt, weil sie Einfluß hat? Nennen Sie dies nicht Liebe – denn es ist nichts weiter als Eitelkeit, Habgier, Egoismus. Lieben Sie sie, weil sie geistreich ist? Dann geben Sie vielleicht einem literarischen Gefühl nach.«
»Aber«, rief ich, »die Liebe enthüllt ihre Wonnen nur denen, die in ihrem Denken und Fühlen, in ihrem Schicksal, ihrer Seele, ihrem Leben eins werden ...«
»Oh! Oh! Oh!« rief der alte Herr spöttisch – »finden Sie mir in jeder Nation nur sieben Männer, die einer Frau, ich will nicht sagen: ihr Leben geopfert haben – denn das ist nichts von Bedeutung; der höchste Preis, der unter Napoleon für ein Menschenleben gezahlt wurde, stieg nicht über zwanzigtausend Franken; und es sind in Frankreich in diesem Augenblick zweihundertfünfzigtausend Tapfere, die das ihrige für zwei Zoll rotes Band dahingehen – nein, aber zeigen Sie mir sieben Männer, die einer Frau zehn Millionen geopfert haben, auf denen sie auch nur eine einzige Nacht allein geschlafen haben! Dubreuil und Phméja sind noch weniger selten, als die Liebe zwischen Fräulein Dupuis und Bolingbroke. Also entspringen diese Gefühle einer unbekannten Ursache. Aber Sie haben mich hiermit darauf gebracht, den letzten Satz unseres Themas in Angriff zu nehmen und die Liebe als eine Leidenschaft zu betrachten. Nun, ich sage Ihnen: sie ist die letzte und verächtlichste von allen. Sie verspricht alles und hält nichts. Wie als Bedürfnis kommt auch als Leidenschaft die Liebe zuletzt und stirbt zuerst. Ah! Rache, Haß, Geiz, Spielsucht, Ehrgeiz, Fanatismus! In diesen Leidenschaften ist etwas Männliches; diese Gefühle sind unzerstörbar; sie veranlassen die von ihnen Beherrschten tagtäglich zu Opfern, die um der Liebe willen nur dann und wann einmal gebracht werden. – Aber, ich will Ihnen etwas sagen: schwören Sie jetzt der Liebe ganz und gar ab! Da haben Sie keine Scherereien, keine Sorgen, keine Unruhen mehr; da leiden Sie nicht mehr unter diesen kleinen Leidenschaften, durch die die menschlichen Kräfte vergeudet werden. Man lebt glücklich und ruhig; betrachtet man es vom sozialen Standpunkt, so kann man sagen: seine Macht ist unendlich viel größer und wirksamer. Dieses Lossagen von jenem eigentümlichen Etwas, Liebe genannt, ist die eigentliche Ursache der Macht aller Menschen, die auf Menschenmassen wirken. Aber das ist noch gar nichts! Oh, wenn Sie dann erst erkennen, mit welcher Zaubermacht ein solcher Mensch begabt ist, über welche Schätze geistiger Kraft er verfügt, welche körperliche Langlebigkeit er an sich selber entdeckt, wenn er jede Art menschlicher Leidenschaften von sich abgestreift hat und seine ganze Energie zugunsten seiner Seele aufwendet. Wenn Sie nur zwei Minuten lang die Reichtümer genießen könnten, die Gott den verständigen Menschen zuwendet, in deren Augen die Liebe ein flüchtiges Bedürfnis ist, dem man nur einmal sechs Monate lang nachgegeben zu haben braucht, als man zwanzig Jahre alt war; die er jenen Menschen zuwendet, die von den saftigen und unverdaulichen Beefsteaks der Normandie nichts wissen wollen, sondern sich von den reichlich sprossenden Wurzeln nähren und auf einer Streu von dürren Blättern schlafen, wie die Einsiedler der thebischen Wüste. Ah! nicht drei Sekunden lang würden Sie die Wolle der fünfzehn Merinos, die Ihre Hülle ist, auf Ihrem Leibe dulden! Sie würden Ihr Spazierstöckchen von sich werfen und würden von Stund an im Himmel wohnen. Da würden Sie die Liebe finden, die Sie im Erdenschlamm suchen; da würden Sie Konzerte von ganz anderm Wohllaut vernehmen, als die Rossinischen es sind, da würden Sie reinere Stimmen hören als die der Malebran ... Aber ich spreche davon wie ein Blinder und nur vom Hörensagen: wäre ich nicht so um 1791 herum nach Deutschland gegangen, ich würde von alledem nichts wissen. Ja, der Mensch ist zum Unendlichen berufen! Es lebt in ihm ein Instinkt, der ihn zu Gott ruft. Gott ist alles, gibt alles, macht alles vergessen, und der Gedanke ist der Faden, den er uns gereicht hat, damit wir mit ihm in Verbindung seien!«
Plötzlich hielt er inne, das Auge zum Himmel aufgeschlagen.
»Der arme Kerl hat den Verstand verloren,« dachte ich bei mir selber. Laut aber sagte ich: »Herr Marquis, es hieße die Vorliebe für eklektische Philosophie ein wenig zu weit treiben, wollte ich Ihre Ideen meinem Werke einverleiben – denn damit würde ich selber es zunichte machen. Es ist ganz und gar auf der Voraussetzung platonischer oder sinnlicher Liebe gegründet. Gott soll mich davor bewahren, mein Buch mit derartigen Lästerungen gegen alle gesellschaftlichen Einrichtungen zu beschließen. Lieber will ich versuchen, mit irgendeiner pantagruelistisch verschmitzten Wendung zu meiner Herde von Junggesellen und anständigen Frauen zurückzukehren, will mir alle Mühe geben, für ihre Leidenschaften und Torheiten irgendeinen gesellschaftlichen Nutzen oder Vernunftgrund als Vorwand ausfindig zu machen. Oh! oh! wenn der eheliche Friede uns zu derartigen Folgerungen führt, die unser Leben aller Illusionen entkleiden und allen Lichts – so kenne ich gar viele Ehemänner, die den Krieg vorziehen würden.«
»Ah, junger Mann?« rief der alte Marquis, »wenigstens brauche ich mir keine Vorwürfe zu machen, daß ich es unterlassen habe, einem verirrten Wanderer den rechten Weg zu zeigen.«
»Adieu, altes Gerippe!« sagte ich bei mir selber, »adieu, wandelndes Eheglück! adieu, abgebranntes Feuerwerk! adieu, altes Bühnendekorationsstück! Zwar habe ich dir manchmal Züge von Leuten gegeben, die mir teuer gewesen sind, habe alte Familienbilder benutzt – aber fort mit dir in die Trödelbude des Bilderhändlers! geh zu Frau von T. und all den andern. Werdet alle miteinander Wirtshausschilder – ist mir ganz gleichgültig!«