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Eine Waffe ist alles, womit man verwunden kann, und von diesem Standpunkt aus betrachtet sind die Gefühle vielleicht die grausamste Waffe, von der der Mensch Gebrauch machen kann, um seinesgleichen zu treffen. Der leuchtende und zugleich so weitumfassende Geist Schillers scheint ihm alle Phänomene der lebhaften und tiefgehenden Wirkung enthüllt zu haben, die von gewissen Ideen auf die menschliche Natur ausgeübt wird. Ein Gedanke kann einen Menschen töten. Das ist die Moral der ergreifenden Szenen der ›Räuber‹, in denen der Dichter einen jungen Menschen zeigt, der mit Hilfe einiger Ideen dem Herzen eines Greises so tiefe Wunden schlägt, daß schließlich sein Leben entflieht. Vielleicht ist die Zeit nicht fern, wo die Wissenschaft den sinnreichen Mechanismus unserer Gedanken beobachten und die Übertragung unserer Gefühle verstehen kann. Irgend jemand wird die geheimen Wissenschaften wieder aufnehmen und beweisen, daß die geistige Organisation gewissermaßen ein innerer Mensch ist, der sich nicht weniger kräftig äußert als der äußere Mensch, und daß der Kampf zwischen zwei solchen für unsere schwachen Augen unsichtbaren Mächten nicht weniger tödlich ist, als die Gefechte, in deren Gefahren wir uns mit unserer Hülle wagen. Aber diese Erwägungen gehören in das Gebiet anderer Studien, die wir ebenfalls noch veröffentlichen werden; einige von unsern Freunden kennen bereits eine der wichtigsten davon: ›Die Pathologie des sozialen Lebens – oder mathematische, physische, chemische und übersinnliche Betrachtungen über die Offenbarungen des Gedankens in allen durch den Zustand der Gesellschaft hervorgerufenen Formen: im Essen, Wohnen, Benehmen, Roßarztkunde einerseits, in Wort und Handlung andererseits usw.‹ Hierin sind alle diese großen Fragen ausführlich behandelt. Mit unserer kleinen metaphysischen Bemerkung bezwecken wir nichts weiter, als dich darauf aufmerksam zu machen, daß die höhern gesellschaftlichen Klassen viel zu vernünftig sind, um sich anders anzugreifen, als mit geistigen Waffen.
Wie man zarte und zärtliche Seelen in Körpern von einer mineralischen Härte vorfindet, so gibt es auch eherne Seelen in der Hülle geschmeidiger und kapriziöser Körper, deren Eleganz die Freundschaft anderer Menschen anlockt, deren Anmut zu Liebkosungen einladet; aber wenn du den äußern Menschen mit der Hand streichelst, so wird sofort der homo duplex, um uns eines Buffonschen Ausdrucks zu bedienen, sich zu regen beginnen, und du wirst dich an seinen scharfen Kanten und Spitzen verletzen.
Diese Beschreibung einer ganz eigentümlichen Art von Menschen, von denen du hoffentlich auf deinem Lebenswege keinem Exemplar begegnest, bietet dir ein Bild dessen, was deine Frau für dich sein wird. Ein jedes der süßesten Gefühle, die die Natur in unser Herz gelegt hat, wird bei ihr zu einem Dolch werden. Fortwährend von Stichen durchbohrt, mußt du unrettbar unterliegen, denn aus jeder Wunde wird deine Liebe entströmen.
Es ist der letzte Kampf, darum ist es aber auch für sie der Sieg.
Da wir geglaubt haben, drei Arten von Temperament zu unterscheiden, die gewissermaßen die Typen aller weiblichen Naturen sind, so wollen wir diese Betrachtung in drei Paragraphen teilen, die wir betiteln:
Die Frauen sind beständig die Narren oder die Opfer ihrer übermäßigen Empfindlichkeit; aber wir haben nachgewiesen, daß bei den meisten von ihnen diese Zartheit der Seele – fast immer, ohne daß wir selber etwas davon merken – durch die Ehe verloren geht. (Vergleiche die Betrachtungen über: ›Die Prädestinierten‹ und ›Der Honigmond‹). Die meisten Verteidigungsmittel, die von den Ehemännern instinktmäßig angewandt werden, sind ja auch nichts weiter als Fallstricke, die der Lebhaftigkeit der weiblichen Gefühle gelegt werden.
Es kommt nun in unserm häuslichen Krieg ein Augenblick, wo die Frau die ganze Geschichte ihres moralischen Lebens mit einem einzigen Gedanken überfliegt und sich über den ungeheuren Mißbrauch empört, den du mit ihrem gefühlvollen Herzen getrieben. Und da bleibt es selten aus, daß die Frauen entweder aus einem ihrem Wesen eigentümlichen Rachebedürfnis, über das sie sich selber niemals Rechenschaft geben, oder aus instinktmäßiger Herrschsucht in ihrer Kunst, dem Mann gegenüber von dieser Eigentümlichkeit ihres körperlichen Mechanismus Gebrauch zu machen, ein Mittel zum Siege entdecken.
Mit einer bewunderungswürdigen Geschicklichkeit spüren sie die Saiten aus, die im Herzen ihres Gatten bei der leisesten Berührung erklingen; sobald sie einmal dieses Geheimnis ausfindig gemacht haben, machen sie es sich eifrig zunutze. Wie ein Kind, dem man ein mechanisches Spielzeug gegeben hat, dessen Einrichtung seine Neugierde reizt – so spielen sie unaufhörlich auf diesen Saiten, ohne sich darum zu beunruhigen, ob das Instrument es aushalten kann; ihnen kommt es nur darauf an, daß sie ihren Willen durchsetzen. Wenn sie dich töten, so beweinen sie dich auf die alleranmutigste Art als den tugendhaftesten, ausgezeichnetsten, gefühlvollsten aller Menschen.
Zuerst wird sich also deine Frau eine Waffe aus jenem edelmütigen Gefühl machen, das uns veranlaßt, gegen Leidende duldsam zu sein. Mag einer auch dazu aufgelegt sein, mit einer lebensvollen und gesunden Frau zu streiten – einer kränklichen und schwachen Frau gegenüber ist er energielos. Wenn deine Frau durch die verschiedenen bereits von uns beschriebenen Angriffssysteme das Ziel ihrer geheimen Absichten noch nicht erreicht hat, so wird sie gar schnell zu dieser unwiderstehlichen Waffe greifen.
Entsprechend diesem Grundsatz einer neuen Strategie wirst du das von Leben und Schönheit strotzende junge Mädchen, das du in seiner Blüte heimgeführt hast, sich in eine bleiche und kränkliche Frau verwandeln sehen.
Das Leiden, worin die Frauen unzählige Hilfsmittel finden, ist die Migräne. Diese Krankheit ist am leichtesten von allen zu spielen, und bei ihr gibt es keine äußern Symptome, und deine Frau braucht nur zu sagen: »Ich habe die Migräne.« Wenn deine Frau sich über dich lustig machen möchte, so gibt es auf der ganzen Welt keinen Menschen, der ihren Schädel Lügen strafen könnte. Den undurchdringlichen Knochen ihrer Hirnschale gegenüber mußt du taktvoll sein, und alle deine Beobachtungen nützen dir zu nichts. Daher ist denn auch nach unserer Meinung die Migräne die Königin aller Krankheiten, die komischste und zugleich furchtbarste Waffe, die von den Frauen gegen ihre Gatten angewandt wird. Gewisse heftige und taktlose Männer, die während ihrer glücklichen Junggesellenzeit durch ihre Geliebten in die Weiberlisten eingeweiht sind, bilden sich ein, sie würden sich in dieser plumpen Falle nicht fangen lassen. Aber alle ihre Anschauungen, alle ihre noch so vernünftigen Reden sind zuletzt ohnmächtig gegenüber den drei Zauberworten: »Ich habe Migräne!« Wenn ein Ehemann sich beklagt, einen Vorwurf, eine Bemerkung zu äußern wagt, wenn er versucht, sich der Macht dieses ›Il buon de cani‹ der Ehe zu widersetzen – so ist er verloren.
Stelle dir eine junge Frau vor, die auf einem Diwan ausgestreckt liegt; ihre Köpfchen ist leicht auf eines der Kissen aufgestützt, die eine Hand hängt herunter, ein Buch liegt zu ihren Füßen, und ihre Tasse mit Lindenblütentee steht auf einem kleinen Tischchen. Nun stelle einen derben Burschen von Ehemann ihr gegenüber. Er ist fünf- oder sechsmal im Zimmer auf- und abgegangen, und jedesmal, wo er sich auf dem Absatz herumgedreht hat, um diesen Spaziergang fortzusetzen, hat die kleine Kranke die Augenbrauen zusammengezogen, um ihm – allerdings vergeblich – damit bemerkbar zu machen, daß das leichteste Geräusch ihr lästig ist; kurz und gut, er nimmt seinen ganzen Mut zusammen und wagt einen Protest gegen die List mit der kühnen Frage:
»Aber hast du wirklich Migräne?« Bei diesen Worten hebt die junge Frau ein wenig ihr leidendes Köpfchen, hebt einen Arm, der schwach wieder auf den Diwan zurückfällt, hebt ein Paar erloschene Augen zur Zimmerdecke empor – mit einem Wort: hebt alles, was sie heben kann; hierauf, wirft sie dir einen trüben Blick zu und sagt mit merkwürdig schwacher Stimme:
»Ach! Was sollte ich denn sonst haben? Oh! Beim Sterben braucht man nicht so zu leiden! Das ist also der ganze Trost, den Sie mir geben wollen! Ah! Man sieht wohl, ihr Herren, daß die Natur euch nicht das Amt gegeben hat, Kinder zur Welt zu bringen. Wie eigensüchtig seid ihr, wie ungerecht! Ihr nehmt uns in der ganzen Schönheit der Jugend, frisch, rosig, schlank gewachsen. Schön! Wenn ihr euer Vergnügen gehabt und die blühenden Gaben zerstört habt, die wir von der Natur empfingen, dann verzeiht ihr uns nicht, daß wir sie um euretwillen verloren haben! Das ist ja auch ganz in der Ordnung! Ihr gönnt uns weder die Freuden noch die Leiden unseres Frauenberufs. Ihr brauchtet Kinder – wir haben unsere Nächte geopfert, sie zu pflegen; aber in den Kindbetten haben wir unsere Gesundheit verloren und haben dafür den Keim der schwersten Leiden empfangen ... (Ach! diese Schmerzen!) ... Es gibt wenig Frauen, die nicht an der Migräne leiden; aber Sie verlangen, daß Ihre Frau eine Ausnahme bilden soll. Sie lachen sogar über ihre Schmerzen; denn von Edelmut wissen Sie nichts ... (Um des Himmels willen, gehen Sie nicht fortwährend!) ... Das hätte ich von Ihnen nicht erwartet ... (Bitte, lassen Sie die Uhr stillstehen; mir ist, wie wenn das Pendel in meinem eigenen Kopfe ticke. Danke.) ... O, wie bin ich unglücklich! Haben Sie nicht eine Riechessenz bei sich. Ja. Ach! Um der Barmherzigkeit willen lassen Sie mich allein leiden und gehen Sie, denn dieser Geruch sprengt mir den Kopf!«
Was kannst du darauf antworten? Ruft dir nicht eine innere Stimme zu: »Aber wenn sie wirklich leidet ...?« Daher räumen denn auch fast alle Ehemänner ganz sachte das Schlachtfeld, und aus den Augenecken sehen ihre Frauen ihnen nach, wie sie auf den Fußspitzen hinausschleichen und leise die Tür ihres Zimmers zumachen, das von nun an ein geheiligter Ort ist.
So ist also die Migräne, mag sie wahr oder falsch sein, bei dir eingebürgert. Von nun an beginnt die Migräne in deiner Ehe ihre Rolle zu spielen. Dieses Thema weiß eine Frau mit wunderbaren Variationen zu versehen; sie spielt es in allen Tonarten. Die Migräne allein genügt einer Frau, um ihren Gatten zur Verzweiflung zu bringen. Die Migräne befällt eine Frau wann sie will, wo sie will, so lange sie will. Es gibt Migränen von fünf Tagen und von zehn Minuten, es gibt chronische oder intermittierende.
Manchmal findest du deine Frau im Bett, leidend, hinfällig – und die Fensterläden ihres Zimmers sind geschlossen. Die Migräne hat eine Totenstille hervorgezaubert, vom Hausmeisterstübchen an, wo Holz gespalten wurde, bis zur Dachluke, aus der dein Stallknecht unschuldige Strohbündel auf den Hof geworfen hatte. Von der Echtheit dieser Migräne überzeugt, gehst du aus; aber bei deiner Rückkehr erfährst du, die gnädige Frau habe das Haus verlassen! Bald darauf kehrt sie frisch und rosig zurück und sagt:
»Dir Doktor ist dagewesen; er hat mir körperliche Bewegung angeraten, und der Spaziergang, den ich machte, hat mir außerordentlich gut getan!«
Ein anderes Mal willst du bei deiner Frau eintreten.
»Oh, mein Herr,« antwortet dir die Kammerzofe mit allen Anzeichen tiefsten Erstaunens, »die gnädige Frau hat ihre Migräne, niemals habe ich sie so leidend gesehen! Gerade eben ist zum Herrn Doktor geschickt worden. –«
»Bist du glücklich,« sagte Marschall Augereau zum General R., »eine hübsche Frau zu haben!«
»Haben!« erwiderte der andere. – »Ich habe meine Frau höchstens zehn Tage im Jahr. Diese verd ... Frauen haben stets entweder die Migräne oder – sonst was!«
Die Migräne vertritt in Frankreich die Stelle der Sandalen, die in Spanien der Beichtvater vor der Tür des Zimmers läßt, worin er sich mit seinem Beichtkind befindet.
Wenn deine Frau, im Vorgefühl feindlicher Absichten von deiner Seite, sich so unverletzlich machen will wie die Charte, so beginnt sie ein richtiges kleines Migränekonzert aufzuführen. Sie legt sich mit den fürchterlichsten Schmerzen von der Welt zu Bett. Sie stößt leise Schreie aus, die einem in die Seele schneiden. Sie vollführt mit Anmut alle möglichen Körperbewegungen mit einer Geschicklichkeit, daß man glauben könnte, sie habe keine Knochen im Leibe. Welcher Mann wäre da wohl so taktlos, um einer an derartigen Schmerzen leidenden Frau von Wünschen zu sprechen, die bei ihm ein Anzeichen der vollkommensten Gesundheit sind? Die bloße Höflichkeit erheischt gebieterisch, daß er schweigt. Von nun an weiß eine Frau, daß sie mit Hilfe ihrer allmächtigen Migräne nach Belieben über dem Ehebett gewissermaßen einen Anschlagzettel anbringen kann, wie jenen, der die durch eine Ankündigung der Comédie-Française angelockten Theaterliebhaber zu schneller Umkehr veranlaßt, wenn sie auf dem übergeklebten Streifen lesen: ›Wegen plötzlichen Unwohlseins der Mademoiselle Mars – keine Vorstellung.‹
O Migräne, Beschützerin der unerlaubten Liebesverhältnisse – Steuer, die jeder Ehemann bezahlen muß – Schild, auf dem alle Wünsche des Gatten sich zum Sterben ausstrecken müssen! O gewaltige Migräne! Ist es wirklich möglich, daß die Liebenden dich noch nicht verherrlicht, angebetet, wie eine Gottheit verehrt haben? O Migräne, Meisterin der Gaukelei! O Migräne, Meisterin der Verstellung! Gebenedeiet sei das Hirn, das dich zuerst ersann! Schande dem Arzt, der ein Mittel gegen dich erfinden würde! Ja, du bist das einzige Leiden, das die Frauen segnen, ohne Zweifel aus Dankbarkeit für die Wohltaten, die du ihnen erweisest – o Migräne, Meisterin der Verstellung! O, Migräne, Meisterin der Gaukelei!
Es gibt aber eine Macht, die selbst der Migräne noch überlegen ist; und zu Frankreichs Ruhm müssen wir gestehen, daß diese Macht eine der neuesten Errungenschaften des Pariser Geistes ist. Wie bei allen wichtigsten Entdeckungen auf den Gebieten der Künste und der Wissenschaften weiß man auch bei dieser nicht, welchem Genie wir sie verdanken. Nur so viel ist gewiß, daß gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts die ›Vapeurs‹ zum erstenmal in Frankreich auftraten. Während also Papin die Kraft vaporisierten Wassers auf Probleme der Mechanik anwandte, vollbrachte eine leider unbekannte Französin die ruhmvolle Tat und beschenkte ihre Geschlechtsgenossinnen mit der Fähigkeit, ihre Fluida vaporisieren zu können. Die wunderbaren Wirkungen, die man dank den Vapeurs erzielte, lenkten die Aufmerksamkeit auf die Nerven; und so entstand, von Fiber zu Fiber, die Neurologie. Diese wunderbare Wissenschaft hat bereits Philipps und andere geschickte Physiologen auf die Entdeckung des Nervenfluidums und seines Umlaufs gebracht; vielleicht stehen sie unmittelbar vor der Entdeckung seiner Organe, seines bis jetzt noch unbekannten Entstehens und seiner Verflüchtigung. Und so werden wir, dank einigen Mätzchen unserer Damen, eines Tages dahin gelangen, in die Geheimnisse jener unbekannten Macht einzudringen, die wir in diesem Buche schon mehr als einmal als ›Willen‹ bezeichnet haben. Aber wir wollen uns nicht auf das verbotene Gebiet der medizinischen Philosophie begeben, sondern die Nerven und die Vapeurs nur in ihren Beziehungen zur Ehe betrachten.
Bei der Nervosität – unter dieser pathologischen Bezeichnung begreift man alle Leiden des Nervensystems – sind hinsichtlich des Gebrauchs, den die verheirateten Frauen davon machen, zwei Arten zu unterscheiden; denn gegen medizinische Klassifikationen empfindet unsere Physiologie den stolzesten Abscheu. Für uns gibt es also nur:
Den Anfällen der klassischen Nervosität ist etwas Kriegerisches und Lebhaftes eigen. Die Frauen, bei denen diese klassischen Anfällen auftreten, sind heftig wie Wahrsagerinnen, zügellos wie Mänaden, aufgeregt wie Bacchantinnen – es ist reines klassisches Altertum.
Die Frauen mit romantischen Anfällen sind sanft und klagend wie Balladen, die in schottischen Nebeln gesungen werden. Sie sind bleich wie junge Mädchen, die durch den Tanz oder durch die Liebe ins Grab gebracht werden. Sie sind im reinsten Sinne des Wortes elegisch – in ihnen verkörpert sich die ganze Schwermut des Nordens.
Jene Frau da mit den schwarzen Haaren, mit dem durchdringenden Blick, mit der kräftigen Hautfarbe, mit den trockenen Lippen, mit der kräftigen Hand – sie muß heiß und konvulsivisch sein, in ihr verkörpert sich der Geist der klassischen Nervosität; eine junge Blonde dagegen mit weißer Haut ist die Verkörperung der romantischen Nervosität. Der einen gehört das Reich der Nerven, der andern das Reich der Vapeurs. Oft findet ein Gatte beim Nachhausekommen seine Frau in Tränen.
»Was hast du, mein lieber Engel?«
»Ich – ich habe nichts.«
»Aber du weinst ja!«
»Ich weine, ich weiß selber nicht warum. Ich bin so traurig! Ich habe Gesichter in den Wolken gesehen, und diese Gesichter erscheinen mir stets nur, wenn irgendein Unglück unmittelbar bevorsteht; ich werde wohl sterben ...«
Hierauf spricht sie mit leiser Stimme von ihrem verstorbenen Vater, von ihrem verstorbenen Onkel, von ihrem verstorbenen Großvater und von ihrem verstorbenen Vetter. Sie ruft alle diese beklagenswerten Schatten an, sie macht in Gedanken deren Krankheiten durch, sie wird von allen Leiden angegriffen, an denen diese gelitten haben, sie fühlt ihr Herz zu stark schlagen oder ihre Milz anschwellen ... Du sagst zu dir selber und machst ein selbstzufriedenes Gesicht dazu:
»Ich weiß wohl, woher das kommt!«
Nun versuchst du, sie zu trösten; aber da hast du eine Frau vor dir, die wie ein offener Koffer gähnt, die sich über die Brust beklagt, wieder zu weinen anfängt, dich anficht, du mögest sie mit ihren trübseligen Erinnerungen allein lassen. Sie spricht mit dir von ihrem letzten Willen, geht im Gefolge ihres eigenen Leichenbegängnisses, begräbt sich, pflanzt auf ihrem Grabe eine nickende grüne Trauerweide auf. Wo du ein fröhliches Hochzeitsgedicht vortragen wolltest, da findest du eine schwarze Grabschrift. Deine Anwandlung, sie trösten zu wollen, löst sich in Ixions Wolke auf.
Es gibt höchst ehrenwerte Frauen, die auf diese Weise ihren gefühlvollen Ehemännern Kaschmirschals, Diamanten, die Bezahlung ihrer Schulden oder das Geld für eine Loge in der Komischen Oper entlocken; aber fast immer werden die Vapeurs als Waffen im Entscheidungskampf des häuslichen Kriegs benutzt.
Auf ihre Rückenmarksschwindsucht und ihre angegriffene Brust sich berufend, sucht eine Frau Zerstreuungen; sie kleidet sich übertrieben warm, und du bemerkst in ihrer Toilette alle Anzeichen des Spleens; sie geht nur noch aus, wenn eine intime Freundin, ihre Mutter oder ihre Schwester sie von dem Diwan herunterholen, der ihr Leben verzehrt und auf dem sie ihre ganze Zeit damit hinbringt, Elegien zu dichten. Die gnädige Frau wird vierzehn Tage auf dem Lande verbringen, weil der Doktor dies anordnet, kurzum, sie geht, wohin sie will, und tut, was sie will. Würde jemals ein Mann so brutal sein, sich derartigen Wünschen zu widersetzen, eine Frau daran zu hindern, Heilung von so grausamen Leiden zu suchen? Denn das ist durch lange wissenschaftliche Debatten festgestellt worden, daß die Nerven fürchterliche Schmerzen verursachen.
Besonders aber im Bett spielen die Vapeurs ihre Rolle. Wenn eine Frau keine Migräne hat, so hat sie ihre Vapeurs; wenn sie weder Vapeurs noch Migräne hat, so steht sie unter dem Schutze des Venusgürtels, der, wie du weißt, eine Mythe ist.
Unter den Frauen, die mit Vapeurs gegen dich in die Schlacht ziehen, gibt es einige, die blonder, zarter, gefühlvoller sind als die andern und die Gottesgabe der Tränen empfangen haben, sie wissen so wunderbar zu weinen! Sie weinen, wann sie wollen, wie sie wollen und so lange sie wollen. Sie richten ein vollständiges Angriffssystem ein, das in einer erhabenen Resignation besteht, und die Siege, die sie erfechten, sind um so glänzender, weil sie dabei in guter Gesundheit bleiben.
Läßt nun ein Ehemann im höchsten Zorn sich hinreißen, seinen bestimmten Willen auszusprechen – dann sehen sie ihn mit unterwürfiger Miene an, neigen das Haupt und schweigen. Diese Pantomimik bringt fast immer einen Ehemann außer sich. Bei derartigen ehelichen Kämpfen hat ein Mann es lieber, wenn eine Frau spricht und sich verteidigt; denn dabei regt man sich auf, ärgert sich. Aber bei diesen Frauen gibt es so etwas nicht. Ihr Stillschweigen beunruhigt dich, und du empfindest eine Art von Gewissensbissen, wie der Mörder, der bei seinem Opfer keinen Widerstand gefunden hat, von einer doppelten Furcht befallen wird. Er hätte lieber in der Notwehr morden mögen. Du kehrst wieder zu ihr zurück. Als deine Schritte sich nähern, trocknet deine Frau ihre Tränen und verbirgt ihr Taschentuch – aber so, daß du sehen mußt, daß sie geweint hat. Du bist gerührt. Du flehst deine Karoline an, sie möchte doch sprechen; in der Bewegung deines gefühlvollen Herzens vergißt du alles; da schluchzt sie sprechend und spricht schluchzend – mit einer mühlradartigen Beredsamkeit; sie macht dich ganz betäubt mit ihren Tränen, mit ihren verworrenen Gedanken, mit ihren abgebrochenen Sätzen: es braust über dich her wie ein Mühlradgeklapper, wie ein Wasserfall.
Die Französinnen, und besonders die Pariserinnen, verstehen sich wunderbar auf derartige Szenen, denen ihre ganze Naturanlage, ihr Geschlecht, ihre Toilette und ihre ganze Sprechweise ungeahnte Reize verleihen. Wie oft ist nicht auf dem kapriziösen Antlitz einer solchen anbetungswürdigen Komödiantin ein boshaftes Lächeln an die Stelle der Tränen getreten, wenn sie sieht, wie ihr Ehemann eilfertig bemüht ist, das schwache Seidenband zu zerreißen, das ihr Mieder zusammenhält, oder den Kamm wieder festzustecken, der ihre Haare zusammenhielt, die stets in Tausenden von goldenen Locken sich auflösen möchten!
Aber alle diese Listen der Neuzeit sind nichts gegen den Geist des Altertums, gegen die unwiderstehlichen Nervenanfälle, den Waffentanz der Ehe!
Oh! Welche Wonnen versprechen einem Liebhaber die Lebhaftigkeit dieser zuckenden Bewegungen, das Feuer dieser Blicke, die Kraft dieser Glieder, die selbst in solchem Anfall noch anmutig bleiben! In solchen Krisen wälzt sich eine Frau auf der Erde mit der Unwiderstehlichkeit eines Sturmwindes, lodert empor wie die Flammen einer Feuersbrunst, wird sanft wie eine Welle, die über weiße Kiesel dahingleitet – sie unterliegt einem Übermaß von Liebe, sie sieht die Zukunft, sie prophezeit. Vor allem aber sieht sie die Gegenwart, sie streckt einen Ehemann besiegt zu Boden und flößt ihm eine Art von panischem Schrecken ein.
Oft braucht ein Mann nur ein einziges Mal seine Frau gesehen zu haben, wie sie drei oder vier kräftige Männer beiseite schob, wie wenn es Federn gewesen wären. Er wird niemals wieder versuchen, sie zu verführen. Er wird sein wie ein Kind, das einmal an einer Kurbel einer gefährlichen Maschine gedreht hat, so daß diese sich in Bewegung setzte, und das seitdem einen unglaublichen Respekt vor der alltäglichsten mechanischen Vorrichtung hat. Ich kannte einen Ehemann, einen sanften und friedfertigen Herrn, der mit seinen Augen beständig an den Augen seiner Frau hing – gerade wie wenn man ihn in einen Löwenkäfig gesteckt und ihm gesagt hätte, wenn er die Bestie nicht reize, so würde er mit dem Leben davonkommen.
Die Nervenanfälle sind aber sehr anstrengend und werden von Tag zu Tag seltener; die romantische Nervosität wiegt vor.
Es hat zwar einige phlegmatische Ehemänner gegeben, die zu jenen Männern gehören, die lange lieben, weil sie mit ihren Gefühlen haushälterisch umgehen; diese haben über Migräne und Nervosität zu triumphieren gewußt; aber derartige erhabene Menschen sind selten. Als getreue Schüler des braven Sankt Thomas, der den Finger in Christi Wunde legen wollte, besitzen sie die Ungläubigkeit eines Atheisten. Unerschütterlich inmitten aller Tücken der Migräne und aller Fallen der Nervosität jeder Art, konzentrieren sie ihre Aufmerksamkeit auf die Szene, die ihnen vorgespielt wird; sie prüfen die Schauspielerin, sie suchen eine der Triebfedern ihrer Handlungsweise zu entdecken; und wenn sie den Mechanismus der Kulissenschieberei herausgefunden haben, machen sie sich den Spaß, irgendeinem Gegengewicht einen leichten Druck zu geben, wodurch sie sich sehr leicht davon überzeugen, ob die Krankheiten echt sind oder ob nur eine Ehestandskomödie gespielt wird.
Sollte aber durch eine Anspannung seiner Aufmerksamkeit, die vielleicht über menschliche Kräfte hinausgeht, ein Ehemann allen diesen Ränken entgehen, die eine unzähmbare Liebe den Frauen eingibt, so muß er doch durch den Gebrauch einer furchtbaren Waffe besiegt werden – der letzten Waffe allerdings, zu der eine Frau greift, denn sie wird stets nur mit einem gewissen Widerstreben ihre Herrschaft über den Gatten selber zerstören; aber es ist eine vergiftete Waffe, die so tödlich ist wie das verhängnisvolle Fallbeil des Scharfrichters. Hiermit gelangen wir zum letzten Paragraphen vorliegender Betrachtung.
Ehe wir uns mit der Schamhaftigkeit beschäftigen, wäre es vielleicht nötig, festzustellen, ob sie überhaupt existiert. Ist sie nicht etwa bei der Frau nur eine geschickt angewandte Koketterie? Sollte es nicht etwa nur das Gefühl sein, daß sie die freie Verfügung über ihren Körper hat? Man bedenke, daß die Hälfte aller Frauen auf der Erde beinahe nackt gehen. Sollte sie etwa nur eine soziale Schimäre sein? Dies behauptete Diderot, indem er den Einwand erhob, daß dies Gefühl vor der Krankheit und dem Elend nicht standhalte.
Auf alle diese Fragen läßt sich wohl eine Antwort geben.
Ein nachdenklicher Schriftsteller hat kürzlich behauptet, die Männer besäßen viel mehr Schamhaftigkeit als die Frauen. Er hat zur Unterstützung dieser Behauptung eine große Anzahl chirurgischer Beobachtungen mitgeteilt; sollten aber seine Schlußfolgerungen unsere Aufmerksamkeit verdienen, so müßten eine gewisse Zeit hindurch die Männer von Chirurginnen behandelt werden.
Die von Diderot ausgesprochene Meinung fällt noch weniger ins Gewicht.
Wenn man das Vorhandensein der Scham leugnet, weil diese in Krisen verschwindet, in denen fast alle menschlichen Gefühle untergehen, so ist das dasselbe, wie wenn man behaupten wollte, es gäbe kein Leben, weil auf jedes Leben der Tod folgt.
Wir wollen annehmen, daß das eine Geschlecht so viel Schamhaftigkeit besitzt wie das andere, und wollen untersuchen, worin diese besteht.
Nach Rousseau entsteht die Schamhaftigkeit aus den Koketterien, die alle Weibchen anwenden müssen, um das Männchen an sich zu ziehen. Auch diese Meinung scheint uns ein Irrtum zu sein.
Die Schriftsteller des achtzehnten Jahrhunderts haben der menschlichen Gesellschaft ohne Zweifel unermeßliche Dienste erwiesen; aber ihre auf dem Sensualismus beruhende Philosophie ist nicht einmal unter die menschliche Haut eingedrungen. Sie haben nur die äußere Welt in Betracht gezogen; und schon hierdurch verzögerten sie für einen gewissen Zeitraum die sittliche Entwicklung des Menschen und die Fortschritte einer Wissenschaft, die ihre Urelemente stets dem Evangelium entnehmen wird, das die eifrigen Jünger des Menschensohnes in Zukunft besser begreifen werden.
Das Studium der Geheimnisse des Denkens, die Entdeckung der Organe der menschlichen ›Seele‹, die Ausmessung ihrer Kräfte, die Erkenntnis der Eigenschaften ihrer Kraft, das Eindringen in ihre scheinbare Fähigkeit, sich unabhängig vom Leibe zu bewegen, sich überall hinzubegeben, wohin sie will, und ohne Hilfe der körperlichen Organe zu sehen, endlich die Bestimmung ihrer dynamischen Gesetze und ihres physischen Einflusses – dies alles bildet den glorreichen Anteil des nächsten Jahrhunderts am Schatze der menschlichen Wissenschaften. Und unsere augenblickliche Beschäftigung besteht vielleicht nur darin, die riesigen Blöcke zuzuhauen, die später irgendeinem gewaltigen Genius dazu dienen werden, ein glorreiches Gebäude aufzuführen.
So ist Rousseaus Irrtum der Irrtum seines Jahrhunderts gewesen. Er erklärt die Schamhaftigkeit aus den Beziehungen der Menschen untereinander, statt sie aus den sittlichen Beziehungen zu erklären, die der Mensch zu seinem eigenen Wesen hat. Die Schamhaftigkeit läßt sich ebensowenig analysieren wie das Gewissen; vielleicht aber liegt ein instinktmäßiges Verständnis darin, wenn man sie das Gewissen des Leibes genannt hat; denn das Gewissen lenkt unsere Gefühle und die geringsten Verrichtungen unseres Denkens dem Guten zu, wie die Schamhaftigkeit über den äußerlichen Bewegungen waltet. Handlungen, die unsern Interessen zu nahe treten und gleichzeitig gegen die Gesetze des Gewissens verstoßen, verletzen uns tiefer als alle andern; und werden sie wiederholt, so entspringt aus ihnen ein Gefühl des Hasses. Ebenso verhält es sich in bezug auf die Liebe – die nichts weiter ist als der Ausdruck unserer ganzen Sinnlichkeit – mit allen Handlungen, die der Scham zuwiderlaufen. Wenn eine hochgesteigerte Schamhaftigkeit eine der Lebensbedingungen der Ehe ist – wie wir im ›Ehestandskatechismus‹, Betrachtung IV, zu beweisen versucht haben – so leuchtet es ein, daß Zuchtlosigkeit die Ehe zersetzen wird. Aber dieser Grundsatz, zu dessen Erklärung der Physiologe langer Erörterungen bedarf, wird von der Frau fast stets mechanisch angewandt; denn die Gesellschaft, die im Interesse des äußern Menschen alles übertreibt, entwickelt in der Frau schon von Kindesbeinen an dieses Gefühl, das den Mittelpunkt für fast alle andern bildet. In dem Augenblick, wo dieser unermeßliche Schleier fällt, der der kleinsten Bewegung ihre natürliche Brutalität nimmt, verschwindet daher die Frau. Seele, Herz, Geist, Liebe, Anmut – alles stürzt zusammen. In einer Lage, in der die jungfräuliche Unschuld eines Mädchens von Otahiti erglänzt, wird die Europäerin greulich. Und dies ist die letzte Waffe, die eine Ehefrau ergreift, um sich vom Zwange des Gefühls zu befreien, das ihr Gatte ihr noch entgegenbringt. Ihre Häßlichkeit ist ihre Stärke; und dieselbe Frau, die es als das größte Unglück betrachten würde, wenn ihr Liebhaber auch nur das unbedeutendste Geheimnis ihrer Toilette sähe – sie wird sich ein Vergnügen daraus machen, sich ihrem Gatten in der unvorteilhaftesten Situation zu zeigen, die sie nur ersinnen kann.
Mit einer rücksichtslosen Anwendung dieses Systems wird sie versuchen, dich aus dem Ehebett zu vertreiben. Frau Shandy fragte Tristrams Vater in aller Unschuld, ob er auch nicht vergessen hätte, die Uhr aufzuziehen; deine Frau dagegen wird sich ein Vergnügen daraus machen, dich durch die unzweideutigsten Fragen zu unterbrechen. Wo bisher Bewegung und Leben war, ist jetzt Ruhe und Tod. Eine Liebesszene wird zu einem Geschäftsabschluß, bei dem es lange Debatten gibt, über den sozusagen eine notarielle Urkunde aufgenommen wird. Aber wir haben an andern Stellen hinreichend bewiesen, daß wir uns gegen die komische Seite gewisser ehelicher Krisen nicht verschließen; darum sei uns hier gestattet, auf die komischen Wirkungen zu verzichten, die die Muse eines Verville und Martial in der Heimtücke weiblicher Manöver finden könnten, in der beleidigenden Kühnheit der Worte, im Zynismus mancher Situationen. Die Sache ist zu traurig, um darüber zu lachen, und zu komisch, um sich darüber zu betrüben. Wenn eine Frau bei solchen äußersten Mitteln angelangt ist, liegen Welten zwischen ihr und ihrem Gatten. Trotzdem gibt es gewisse Frauen, denen der Himmel die Gabe verliehen hat, allem einen lieblichen Anstrich zu geben, die in diese Dinge eine gewisse geistreiche und komische Anmut hineinzubringen wissen, und die, wie Sully sich ausdrückte, einen so hübschen spitzen Schnabel haben, daß ihnen ihre Launen und Unarten verziehen werden und sie trotz allem sich nicht das Herz ihrer Gatten entfremden.
Welche Seele ist so kräftig, welcher Mann ist so stark in seiner Liebe, um nach einer zehnjährigen Ehe noch in seiner Leidenschaft zu verharren, eine Frau zu lieben, die ihn nicht mehr liebt, die ihm dies zu jeder Stunde beweist, die ihn zurückstößt, die absichtlich ärgerlich, boshaft, krank, launenhaft ist, die sogar auf Eleganz und Sauberkeit verzichtet, damit nur ja ihr Mann von ihr abläßt, die sogar auf den Abscheu rechnet, den die Schamlosigkeit einflößt?
Dies alles, mein werter Herr, ist aber noch viel fürchterlicher, denn:
XCI. Liebende wissen nichts von Schamhaftigkeit.
Und nun sind wir beim letzten Höllenkreise der göttlichen Komödie der Ehe angelangt; wir sind in der tiefsten Hölle.
Es liegt etwas unerklärbar Schreckliches in der Lage, in die eine verheiratete Frau gerät, wenn eine unerlaubte Liebe sie ihren Pflichten als Mutter und Gattin entzieht. Nach Diderots sehr treffendem Ausdruck ist die Untreue bei einer Frau wie der Unglaube bei einem Priester der höchste Grad menschlicher Pflichtvergessenheit; es ist das größte soziale Verbrechen, das die Frau begehen kann. Denn es schließt für sie alle andern ein. Denn entweder entweiht die Frau ihre Liebe, indem sie fortfährt, ihrem Ehemann anzugehören, oder sie zerreißt alle Bande, die sie an ihre Familie knüpfen, indem sie sich ganz und gar ihrem Liebhaber hingibt. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten muß sie wählen, denn ihre einzige Entschuldigung ist das Übermaß ihrer Liebe.
Sie lebt also zwischen zwei Missetaten: entweder macht sie ihren Liebhaber unglücklich, wenn seine Leidenschaft aufrichtig ist, oder sie macht ihren Mann unglücklich, wenn sie noch von ihm geliebt wird.
Aus diesem furchtbaren Zwiespalt des weiblichen Lebens ergeben sich alle Bizarrerien in dem Verhalten der Frauen. Aus diesem Zwiespalt entspringen ihre Lügen, ihre Tücken, hierin liegt die Erklärung aller ihrer Geheimnisse. Dieser Gedanke kann einen schaudern machen. Daher hat, soweit nur die Verhältnisse des Daseins in Betracht kommen, ohne Zweifel eine Frau hundertmal recht, wenn sie das Unglück der Tugend erwählt und die Glückseligkeiten des Verbrechens verschmäht. Fast allen wiegt jedoch die Ekstase einer halben Stunde alle Leiden der Zukunft und endlose Ängste auf. Wenn der lebenerhaltende Trieb, der alle Kreatur beseelt – die Todesfurcht – sie nicht zurückhält: was soll man dann von Gesetzen erwarten, die sie auf zwei Jahre zu den MadelonnettesPariser Besserungshaus für gefallene Frauenzimmer. schicken? O großartige Ruchlosigkeit! Aber wenn man dann daran denkt, daß der Gegenstand dieser Opfer einer unserer Brüder ist, ein Herr, dem wir nicht unser Vermögen anvertrauen würden – wenn wir welches haben –, ein Mensch, der seinen Überrock zuknöpft wie wir alle: dann möchte man ein Gelächter anschlagen, das vom Luxembourg in ganz Paris zu hören wäre und sogar noch auf Montmartre einen Esel erschreckte, der friedlich auf seiner Weide ginge.
Man wird es vielleicht sehr sonderbar finden, daß wir in diesem Buch über die Ehe so viele fremde Gegenstände gestreift haben; aber die Ehe ist nicht nur das ganze menschliche Leben – sie bedeutet zwei Menschenleben. Und wie von der Lotterie für die Hinzufügung einer einzigen Zahl im Gewinnfall das Hundertfache ausgezahlt wird, so werden auch die ohnehin schon so mannigfaltigen Zufälle des menschlichen Lebens in einer erschreckenden Progression vervielfältigt, wenn mit einem Leben ein anderes Leben vereinigt wird.