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An dem Fenster eines hochgelegenen Hauses zu M. stand ein junges Mädchen und ließ ihre Blicke mit gespannter Erwartung hinausschweifen über die Chaussee, die wie ein langes weißes Band im hellen Nachmittagssonnenscheine vor ihr lag. Jedes wirbelnde Staubwölkchen ließ sie schärfer hinsehen, aber stets war es eine Enttäuschung, der erwartete Wagen wollte immer noch nicht erscheinen. Die ernsten Züge des etwas farblosen jungen Antlitzes kommen uns nicht ganz fremd vor; diese großen, dunkeln Augen, diese schwarzen Haare, welche die niedrige Stirn scharf abgrenzen und dem Gesicht leicht etwas Finsteres geben, erscheinen uns wie gute Bekannte aus alter Zeit; aber freilich sind zehn Jahre vergangen, seit wir sie gesehen haben, und zehn Jahre sind eine weite Spanne Zeit, wenn es sich um die Entwickelung eines Kindes handelt. Es ist Erna v. Westheim, die vor uns steht; aus dem häßlichen Kinde ist ein schlankes junges Mädchen geworden, das auf den ersten Blick vielleicht nicht für hübsch gelten mochte, wenn ein aufmerksamer Beobachter es auch für interessant erklären würde. Jetzt hat sie den Wagen erblickt, der einen ersehnten Gast zu ihr führen soll; ein heller Strahl der Freude überfliegt ihr Gesicht und verwandelt es in einem Moment, wie ein Sonnenblick, der plötzlich über einer nebelgrauen Landschaft erglänzt; die großen Augen strahlen, die festgeschlossenen Lippen öffnen sich und lassen zwei Reihen blendend weißer Zähne sehen. – Erna ist doch hübsch geworden und mehr als das. Auch ihr Gang ist nicht mehr so schleppend, wie in der Kindheit; die sorgfältigste Pflege, die kunstgerechteste Behandlung haben den Fehler beinahe ganz überwunden; die fast unmerkliche Neigung erscheint mehr als eine Eigentümlichkeit, als wie ein Mangel an Grazie. Sie eilt die Treppe hinab und faßt Posto auf den breiten steinernen Stufen vor der Hausthür; aber ihre Geduld wird auf eine harte Probe gestellt, die Pferde können die Strecke nicht so pfeilschnell durchfliegen, wie ihr forschender Blick; es dauert lange, bis sie den Wagen die steil ansteigenden Straßen emporgezogen haben und endlich vor der Thür halten. Der Diener springt vom Bock und hilft einer Dame heraus, welche Erna zärtlich in ihre Arme schließt, schnell verschwinden beide in der Thür des Hauses. Diesmal bereitet uns das Wiedererkennen keine Mühe; die zehn verflossenen Jahre haben in Nora Diethelm keine andere Veränderung hervorgebracht, als daß alles an ihr voller und gereifter, der sanfte friedliche Ausdruck des lieben Gesichtes vertiefter erscheint, doch ist nichts Verblühtes in ihrer Erscheinung, es ruht ein Hauch unberührter Frische darauf, der sie jünger erscheinen läßt, als sie wirklich ist.
Die beiden Mädchen – Freundinnen trotz der Verschiedenheit der Jahre – saßen in Ernas traulichem Zimmer beisammen. »Wie reizend sieht es bei dir aus«, sagte Nora, indem sie sich bewundernd umschaute, »welch ein echtes Mädchenasyl ist aus unserer lieben alten Stube geworden! überall erkennt man die zärtliche Liebe, mit der deine Mutter dir dieses Sanktissimum bereitet hat.«
»Ja, die liebe Mama hat es wunderschön gemacht«, erwiderte Erna, »und ich war ganz selig, als ich am Tage vor meiner Einsegnung hierher geführt wurde. Sieh nur den reizenden Bücherschrank, und meinen Stolz, diesen Schreibtisch und all meine schönen Bücher! hier verlebe ich glückliche Stunden ganz für mich allein.«
»Es kommt mir vor, als säßest du öfter am Schreibpult, als an dem zierlichen Nähtischchen; es sieht mit seiner eleganten Decke so überaus ordentlich aus, als würde es nicht oft gebraucht.«
»Wie schade«, fiel Erna schnell ein, »daß du nicht etwas früher kommen konntest, um Mama noch zu treffen! unsere süße kleine Nora wirst du nun gar nicht sehen. Du ungetreue Pate hast sie seit ihrer Taufe nicht wieder besucht, und wie würdest du dich an ihr erfreuen!«
»Deine Mutter schrieb mir, sie wäre das Ebenbild eurer seligen Adda?«
»Ja, sie entspricht so ganz dem Bilde, das ich von meinem Engelsschwesterchen im Herzen trage, daß ich die beiden Gestalten kaum noch unterscheiden kann. Ich könnte dir beinahe böse sein, Nora, daß du in zwei Jahren nicht Zeit gefunden hast, dich von ihrem Leibreiz zu überzeugen.«
»Es ist sehr schwer für mich, meine Erna, mich von der Heimat los zu machen; meine Eltern sind so sehr an meine Nähe gewöhnt, daß Papa immer scherzend erklärt, unser häuslicher Dreiklang könnte die Dominante unmöglich entbehren. Und meine Mutter ist so zart und oft so leidend, daß ich sie Monate lang nicht verlassen konnte.«
»O Nora«, sagte Erna mit tiefem Gefühl, »wie gut bist du! in meinen besten Stunden überkommt mich eine heiße Sehnsucht, dir ähnlich zu werden und wie du, selbstlos und hingebend für die Meinen zu leiden. Aber meine Anläufe dazu fallen immer so armselig aus, so unnatürlich und gezwungen! Wenn ich mir Mühe gebe, dem Papa kleine Dienste zu leisten, so lacht er mich aus und bittet mich, ihn nicht gewaltsam glücklich zu machen, und wenn ich mich einmal bestrebe, der Mama hilfreich zu sein, so verderbe ich sicher etwas durch Ungeschick oder Vergeßlichkeit. Dann fühle ich deutlich, daß ich für solche Dinge nicht geschaffen bin und kehre wieder zu meinen Büchern zurück, in denen ich mich viel heimischer fühle, als in der realen Welt. Aber zuweilen erfaßt mich doch ein tiefes Bangen, ob ich mich auf diesem Wege den Meinen jemals unentbehrlich machen werde.«
Sie sah bei diesen Worten so niedergeschlagen aus, daß Nora sie zärtlich umfaßte. »Vor allem wollen wir diese verzweifelte Falte fortschaffen«, sagte sie liebreich, indem sie mit der Hand über die Stirn der jüngeren Freundin strich. »Mit sechzehn Jahren hat man noch kein Recht, an sich selbst zu verzweifeln, man hat noch ein ganzes Leben vor sich, um alle Mängel abzulegen und nach allem Schönen und Löblichen zu streben. Wenn du deine geistigen Gaben mit voller Zustimmung deiner Eltern gewissenhaft ausbildest, so thust du Recht daran und kannst ihnen und deiner kleinen Schwester dadurch viel gewähren. Andererseits freilich möchte ich dich vor jeder geistigen Einseitigkeit bewahrt sehen ...«
»Aber Nora, kann denn jemand etwas Rechtes leisten ohne eine gewisse Einseitigkeit? muß er nicht alle seine Kräfte auf einen Punkt, ein leuchtendes Ziel richten, um wirklich etwas Großes zu erreichen?«
»Für das Genie möchte ich dies gelten lassen, für gewöhnliche Menschen nicht, und für uns Frauen erscheint mir die volle Harmonie der Ausbildung als das höchste Ziel, nach dem wir streben können.«
»So verlangst du, daß wir uns mit Aufgaben abquälen sollen, für die wir weder Anlage noch Neigung haben, und darüber das vernachlässigen, wozu uns das Talent verliehen ist?«
»Ich meine, wir müssen für alles echt Weibliche Interesse gewinnen, und wo die natürliche Begabung uns versagt ist, um so eifriger Fleiß und Willen einsetzen, das Fehlende zu erwerben, denn jede von uns kann berufen sein, einmal einem Hause vorzustehen.«
»Ach Nora, ich will gewiß nie heiraten, ich möchte immer bei meinen Eltern bleiben, unsere kleine Nora erziehen und unterrichten helfen und in meinen geliebten Büchern leben, bis – – –«
»Nun, bis wann?«
»Bis ich selbst eine Schriftstellerin werde«, sagte das junge Mädchen mit Erröten.
»Also das ist dein leuchtendes Ziel?« versetzte Nora langsam und gedankenvoll, »Meine Erna, möchtest du dein Glück darin finden! ich muß gestehen, dein Wunsch erschreckt mich fast.«
»Warum das? O Nora, kann es etwas Höheres, Beglückenderes geben, als das, was unsere Seele mächtig bewegt, ausströmen zu lassen, die Gedanken und Bilder, die uns vorschweben, in eine schöne Form zu bringen, andere dadurch zu bilden und zu erheben, ihre Herzen für alles Große und Edle zu begeistern?«
»Es ist in der That eine herrliche Aufgabe, aber es gehört viel dazu, nicht nur Talent und Studium, sondern auch eine reiche Erfahrung, und ich fürchte, es wachsen auf diesem Wege neben den duftenden Rosen auch scharfe Dornen, die unsäglich verwunden können. – Hast du über diese Pläne schon mit andern gesprochen?«
»Mit Mama natürlich, vor ihr habe ich überhaupt kein Geheimnis, sonst bist du die erste und einzige, die davon erfährt.«
»Deiner Freundin sagst du nichts davon?«
»Meiner Freundin? ich habe keine, außer dir.«
»Ich dachte, du hättest dich mit der Tochter des Pfarrers befreundet.«
»Ach, die gute Marie«, sagte Erna etwas reuevoll, »nein, mit der spreche ich nie über solche Dinge, die würde auch kein Verständnis dafür haben.«
»Wovon sprecht ihr denn?«
»Von unsern kleinen Erlebnissen; sie erzählt mir viel von ihrem Leben, ihrer Sonntagsschule oder auch von ihrer wirtschaftlichen Thätigkeit.«
»Ein tüchtiges, verständiges Mädchen, wie mir scheint; ich wünschte, du könntest mir auch recht viel von solchen Dingen berichten.«
»Du giebst dir den Anschein, beste Nora, als ob du ›solche Dinge‹ hoch über alle geistigen Interessen und Bestrebungen stelltest; aber auch du mußt zugeben, daß es etwas Höheres ist, ein Buch zu schreiben, als zu nähen oder zu kochen.«
»Ich wollte, ich könnte ein Gesetz geben, daß keine Frau ein Buch schreiben dürfte, die nicht nachweisen kann, daß sie einen Strumpf zu stricken und eine gute Suppe zu kochen versteht«, versetzte Nora halb scherzend. »Doch horch, da kommt dein Papa nach Hause; laß uns eilen, ihn zu begrüßen!«
Das angeregte Thema wurde nicht wieder aufgenommen, doch klang es in Nora noch lange nach und ließ sie abends nicht zur Ruhe kommen. Sie hatte Erna vor zehn Jahren mit zärtlicher Liebe in ihr Herz geschlossen und war mit warmer Teilnahme ihrer Entwickelung gefolgt. Kein Jahr war vergangen, in dem sie nicht einige Wochen mit ihr zusammen verlebt hätte, wenn sie als lieber, hochgeschätzter Gast im Westheimschen Hause einkehrte. Diesmal war eine längere Pause eingetreten, welche aber durch einen lebhaften Briefwechsel ausgefüllt wurde; dennoch überraschte sie die Wendung, welche Ernas Neigungen genommen hatten. Mit Freude, ja mit Stolz hatte sie die reichen geistigen Anlagen des Kindes sich entfalten sehen, aber heute konnte sie sich nicht freuen; heute fühlte sie den Wunsch in sich aufsteigen, ihre junge Freundin möchte alltäglicher geartet sein, möchte nicht so hochfliegende Pläne in sich tragen, sondern mehr Sinn für das wirkliche Leben zeigen und sich an dem gewöhnlichen Mädchenlose genügen lassen. Würde sie glücklich werden auf ihrem selbsterwählten Wege? –
Frau v. Westheim hatte, als sich die Notwendigkeit einer Badereise für sie herausstellte, den dringenden Wunsch gehabt, Erna möchte diese Zeit auf dem Lande zubringen, und Nora hatte zu diesem Zwecke das ihr verwandte Haus eines Herrn Klingemann vorgeschlagen, in welchem man öfter junge Mädchen, die sich erholen oder mit der Wirtschaft bekannt machen sollten, in Pension nahm. Es traf sich gut, daß Nora sich gerade jetzt von ihrem Elternhause losmachen und Erna bei ihren Verwandten einführen konnte, welche einige Meilen von M. auf einem schön gelegenen Gute wohnten. In der Frühe des nächsten Morgens stand der Wagen vor der Thür, der beide an ihren Bestimmungsort führen sollte. Erna nahm einen wehmütigen Abschied von ihrem Vater und erklärte, es käme ihr vor, als sollte sie nach Sibirien verbannt werden; der einzige Trost läge in der Person des Transporteurs. »Wenn ich nicht mehrere Dienstreisen vorhätte«, meinte Herr v. Westheim, »so hätte ich dich gern zu Hause behalten, mein Töchterchen, obgleich ich fürchte, ich hätte unter deiner Wirtschaftsführung zuweilen nur ein schönes Gedicht oder einen geistvollen Artikel zu Mittag erhalten.«
Der Morgen war so köstlich und taufrisch, die Lerchen jubelten so hell in der blauen, sonnigen Luft, daß Ernas melancholische Stimmung nicht lange standhielt; hatte sie doch auch ihre geliebte Nora zur Seite, die einzige, der sie, außer ihrer Mutter, volles Vertrauen schenkte und welcher sie durch mündliche und schriftliche Mitteilung einen Einblick in ihr innerstes Denken und Fühlen gestattete, »Nein!« rief sie und richtete sich aus ihrer Versunkenheit empor, »ich will mir diese wenigen Stunden, in denen ich dich noch für mich habe, durch nichts trüben lassen. Ach, geliebte Nora, welche himmlische Zeit hätten wir verleben können, wenn du in Mamas Abwesenheit bei uns in M. geblieben wärst.«
»Ich hätte schwerlich so langen Urlaub von meinen Eltern erhalten können und glaube außerdem, deine Mutter wünschte ausdrücklich, du möchtest einmal eine Weile unter fremden Menschen leben.«
»Aber warum? ich kann mir unmöglich denken, daß uns etwas heilsam sein kann, was so sehr unserer Natur widerstrebt.«
»Doch, doch, mein Liebling, ein Menschenkind kann nicht heranwachsen wie eine wilde Blume auf dem Felde; dürfen doch selbst die edleren Pflanzen nicht allein ihrer Natur folgen, sondern werden gezogen, wie es ihr Herr und Meister will. Wenn ich daran denke, welchen Segen mir einst der Aufenthalt in eurem Hause gebracht hat, wie bereichert und gereift ich zu meinen Eltern zurückkehrte, so möchte ich allen jungen Mädchen wünschen, eine Zeitlang in der Fremde zu leben; den einen, damit sie erkennen lernen, wie gut sie es zu Hause haben, den andern, damit sie einsehen, daß es auch außerhalb ihres engen Kreises Menschen giebt, die ihrer Beachtung und Teilnahme wert sind.«
»Zu den letzeren rechnest du mich, und vielleicht hast du recht damit. Aber ist es meine Schuld, wenn ich noch nie einen so klugen und ritterlichen Mann, wie meinen Vater, eine so schöne, gütige und geistvolle Frau, wie meine Mutter, ein so sonniges, goldlockiges, Kind, wie unsere Nora, gefunden habe?«
»Oder ein junges Mädchen, wie Erna, mit so hochfliegenden Träumen, so tiefsinnigen Gedanken?«
»Du spottest, Nora, und doch hast du auch hier ein Fünkchen recht; wirklich fand ich noch nie ein Mädchen, dem ich es zugetraut hätte, mit mir in dem zu sympathisieren, was mir das Höchste und Liebste ist. Sie interessieren sich für ihre Kleider, ihre Gesellschaften, für hundert kleine und erbärmliche Dinge, aber von ernstem, geistigem Streben sind sie weit entfernt.«
»Vielleicht hast du es auch noch nie der Mühe wert gehalten, sie für etwas Besseres zu interessieren; und sie ahnen gar nicht einmal, was in dir lebt. Auch ist das Kleine nicht immer unserer Beachtung unwert, sondern nur das Kleinliche.«
»Ach Nora, ich fürchte, du hast immer recht, und ich sehe, es ist unnütz, mit dir zu disputieren; ich werde mich künftig ein für allemal deiner weisern Erkenntnis auf Gnade und Ungnade ergeben.«
Nora lächelte nur zu diesem Vorsatz, der auch keineswegs zur Ausführung kam, denn Erna hatte über jeden Gegenstand ihre verschiedene Ansicht, die sie mit Eifer und oft mit Hartnäckigkeit verteidigte. Die verhältnismäßige Abgeschlossenheit, in der sie bisher gelebt hatte, die ausschließliche Beschäftigung mit geistigen Dingen hatten ihrem regen Gedankenleben fast zu reichlichen Vorschub geleistet, und daneben hatte es ihr noch an Gelegenheit gefehlt, ihre Anschauungen an andern zu messen und an der Wirklichkeit zu berichtigen.
Gegen Mittag näherten die Reisenden sich ihrem Ziel; langsam rollte der Wagen die stark ansteigende Chaussee hinauf, welche zu beiden Seiten von dicht bewaldeten Hügeln anmutig begrenzt wurde.
»Sieh, Erna,« sagte die Freundin, »hier ist zu deinem Besten auch die Romantik vertreten; der alte Turm, der dich dort vom Berge herab begrüßt, und das zerfallene Gemäuer rings umher stammt aus der Zeit der deutschen Ordensritter und hat gewiß manchen harten Strauß mit Polen und Heiden gesehen.« Endlich war die Höhe erreicht; an den Häusern des Dorfes vorüber führte der Weg in den Hof, wo inmitten der Wirtschaftsgebäude das schlichte Wohnhaus stand. Ein paar Hunde schlugen an, die Hausthür öffnete sich, und heraus quoll eine solche Menge von Personen, Kindern und Erwachsenen, daß es Erna schwindelte, – wie sollte sie sich je in diesem Chaos zurechtfinden!