Brigitte Augusti
Mädchenlose
Brigitte Augusti

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Drittes Kapitel.

Trübe Zeit.

Als Nora die Thür des Wohnzimmers öffnete, blieb sie betroffen stehen und blickte mit Überraschung auf die Spuren einer ungewohnten Thätigkeit; Koffer und Schachteln standen in der Mitte, Kleider und Wäschestücke lagen auf danebenstehenden Stühlen. Ihr Herz fing heftig an zu klopfen, was konnte dies bedeuten? In diesem Augenblick erschien ihre Mutter auf der Schwelle des andern Zimmers: »Nora,« rief sie schmerzlich und streckte die Hände nach ihr aus, dann aber schienen ihre Kräfte sie zu verlassen, sie sank auf den nächsten Stuhl und verhüllte ihr Gesicht. Nora flog an ihre Seite, kniete neben ihr nieder und schlang die Arme um sie. »Meine liebe süße Mama,« rief sie unter Thränen, »was ist geschehen? hast du Nachricht vom Papa erhalten?« Frau Diethelm nickte.

»So lebt er? Gott sei Dank! aber ist er krank? reisen wir zu ihm?«

»Sehr, sehr krank, mein Kind; schon vierzehn Tage hat er besinnungslos in einem Hospital in England gelegen, erst jetzt hat man meine Adresse erkunden können. Der Arzt schreibt, es könne noch Monate dauern, bis er wiederhergestellt sein wird, aber er hofft, daß die Gefahr für sein Leben vorüber sei.«

»O Mama, wie wollen wir ihn hegen und pflegen, wenn wir erst bei ihm sind! Wann brechen wir auf?«

»Ich reise morgen früh, meine Vorbereitungen sind beinahe fertig, aber dich – dich kann ich nicht mit nehmen.«

»Mutter,« schrie Nora in heftigem Schmerze auf, »das kann nicht sein, du kannst mich in dieser Zeit nicht von dir schicken! O ich will so gut und verständig sein, ich will dir helfen und dich stützen, wie könntest du auch Tag und Nacht an Papas Krankenbett aushalten, du mußt eine Hilfe, eine Ablösung haben .....«

»Meine Nora,« sagte Frau Diethelm, indem sie mit tiefem Ernst und unsäglicher Zärtlichkeit in das erregte Antlitz der Tochter blickte, »es gäbe für mich keinen größern Trost in dieser großen Not, als deine liebe Nähe, und niemand würde es so gut verstehen, wie du, deinen Vater zu erheitern und zu zerstreuen, wenn die langsame Genesung schwer auf ihn drücken wird. Und doch kann und darf es nicht sein, daß du mich begleitest. Sieh, mein Kind, wir haben bisher nie eine Sorge gekannt, wir haben stets in Fülle gehabt, was wir bedurften. Aber ich fürchte, daß durch die Unredlichkeit des Buchhalters unsere Verhältnisse schwer erschüttert sind und daß diese lange Krankheit deines Vaters uns auch äußerlich unermeßlichen Schaden bringt. Von der Summe, die er mir bei seiner Abreise zurückließ, ist schon ein bedeutender Teil verbraucht; was übrig ist, muß ich aufs äußerste zu Rate halten, denn viel Geld werde ich noch nötig haben, bis wir heimkehren, bis des Vaters Geschäfte wieder in Gang kommen werden. Du bist noch zu jung gewesen, mein liebes Kind, als daß ich dich mit solchen Verhältnissen schon früher hätte bekannt machen sollen, aber jetzt ist es nicht mehr an der Zeit, etwas vor dir zu verhehlen. Verstehst du mich, meine Nora?«

Gespannt hatte diese den Worten der Mutter gelauscht, jetzt verbarg sie das Gesicht schluchzend in ihrem Schoß. »Ich verstehe,« sagte sie leise, »o Mutter, Mutter, es ist schwer zu tragen!«

»Sehr schwer, sehr bitter! aber gedenke deines Einsegnungsspruches: Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, haltet an am Gebet! Dich trifft freilich die Trübsal früh im Leben, aber Gottes Güte kann alles zum Besten lenken und uns nach dieser Trennung ein glückliches Wiedersehen bereiten.«

Eine lange Pause entstand, endlich fragte Nora mit halb erstickter Stimme: »Und wo soll ich inzwischen bleiben?«

»Du wirst morgen an deine Tante in Z. schreiben und sie bitten, dich für einige Monate bei sich aufzunehmen; bis ihre Antwort eintrifft, findest du vielleicht bei Mansfelds eine Zuflucht. Ich muß dich verlassen, Nora, ehe diese Sache geordnet ist, ich muß ganz auf deine Umsicht, dein verständiges Wesen vertrauen. Du mußt es mit einem Schlage lernen, auf eigenen Füßen zu stehen und für dich selbst zu sorgen. Etwas Geld lasse ich dir zurück, verwalte es mit gewissenhafter Klugheit und benimm dich in jeder Lage deines Lebens so, daß ich meine Tochter mit Freuden an mein Herz schließen kann, wenn ich mit dem Vater zurückkehre. Willst du das?«

»Ich will es,« antwortete Nora feierlich, »Gott gebe mir Kraft dazu.«

»Gott schütze dich, mein teures Kind; – und nun laß uns einpacken und die Ruhe suchen, denn meine Kräfte sind erschöpft, und ich habe schwere Tage vor mir.«


Elly saß mit ihren Eltern am Frühstückstisch und erzählte ihrem Vater von der gelungenen Partie des gestrigen Tages, als ihr ein Briefchen gebracht wurde. »Von Nora,« sagte sie überrascht, riß es auf und überflog die wenigen Zeilen, die es enthielt; dann sank das Lockenköpfchen tief herab, und sie fing an zu weinen. »Was ist geschehen, Elly?« fragte ihre Mutter.

»Meine arme, arme Nora,« schluchzte Elly, »ihr Vater liegt schwer krank in England – ihre Mutter ist heute abgereist – sie ist ganz ganz allein zu Hause – und bittet um Erlaubnis, ein paar Tage bei uns zu bleiben, – bis sie Nachricht von ihrer Tante hat.«

»Das arme Ding!« sagte der Oberst mitleidig, ebenso sehr gerührt durch den Kummer seiner Tochter, als durch das Leid ihrer Freundin. »Schicke doch gleich hinüber, Adelheid, und laß die Kleine holen, damit sie sich in der einsamen Wohnung nicht ganz verlassen fühle.«

Elly warf ihm einen dankbaren Blick zu. »Darf ich selbst gehen? und – und – o Mama« – sie faltete ihre Hände und sah mit einem flehenden Blick zu jener auf – »darf ich ihr nicht anbieten, so lange bei uns zu bleiben, bis ihre Eltern zurückkehren? ich weiß, daß sie ihre Tante kaum kennt, und ich könnte es schwer ertragen, mich auf so lange Zeit von Nora zu trennen.«

Frau von Mansfeld sah unschlüssig aus und antwortete nicht; ihr Mann aber sagte: »Das ließe sich ja auch wohl einrichten, nicht wahr, Adelheid?«

»Machen läßt es sich schon,« war die Antwort, »doch bin ich nicht sicher, ob eine solche Einladung zum Besten des jungen Mädchens dienen würde. Man fürchtet allgemein, daß ein Bankerott der Diethelmschen Handlung unvermeidlich sei; dann würde für Nora in kurzem die Notwendigkeit entstehen, sich selbst ihr Brot zu erwerben und eine Stelle anzunehmen. Ob nun ein längerer Aufenthalt in unserm Hause, wo ich sie Elly doch ganz gleich stellen müßte, eine richtige Vorbereitung für solche Zukunft ist, möchte ich bezweifeln.«

»Ich sollte meinen,« entgegnete der Oberst, »daß eine sorgenfreie Gegenwart immer ein Gewinn ist, wie sich auch die Zukunft gestalten möge, und daß die Erinnerung an empfangene Liebe unter allen Umständen nur heilsam sein kann.«

»O du lieber, alter, einzig guter Papa,« rief Elly und flog dem Oberst mit einer so stürmischen Bewegung um den Hals, daß ihr Stuhl krachend hinter ihr zu Boden fiel, »wie gütig bist du immer und wie unmenschlich lieb habe ich dich!«

»Elly, wann wirst du endlich begreifen, daß diese ungezügelten Aufwallungen sich für ein erwachsenes Mädchen nicht schicken?« sagte Frau v. Mansfeld in strafendem Ton. »Du erdrückst ja deinen Vater beinahe mit deinen Umarmungen; auch die Zärtlichkeit muß Form und Maß zu halten wissen.«

»Nun, liebe Adelheid«, versetzte der Oberst, »ihrem Vater gegenüber laß sie nur das unbefangene, warmherzige Kind bleiben, sonst mache aus ihr eine so feine Weltdame, wie es dir beliebt. Ich muß an meine Arbeit, adieu, meine Damen.«

Er strich noch einmal liebevoll über Ellys glühende Wangen und verließ das Zimmer. Etwas beschämt hob diese den Stuhl auf und brachte die Serviette in Ordnung, die sie vorhin arg zugerichtet hatte; dann küßte sie ihrer Mutter Hand mit einem bittenden Blick: »Verzeih, Mama, ich will mich besser beherrschen lernen. – Was darf ich Nora von dir sagen?«

»Lade sie vorläufig für eine Woche ein, dann wollen wir weiter sehen. Ich werde Nora gern bei uns haben, sie ist ein liebenswürdiges Mädchen, klug und bescheiden, und von ihrem feinen ruhigen Wesen kannst du manches lernen.«

»Ich danke dir, liebe Mama«, sagte Elly aufrichtig erfreut; »lebe wohl für jetzt, ich eile zu Nora hinüber,«

Die alte Köchin, die schon seit vielen Jahren im Diethelmschen Hause diente, öffnete auf Ellys Klingeln die Thür; dicke Thränen standen in ihren treuen Augen, als sie redselig wie immer ausrief: »Ach, Fräulein Ellychen, wie schön, daß Sie kommen, ich weiß auch gar nicht mehr, was ich mit unserem Fräuleinchen anfangen soll; seit die gnädige Frau abgereist ist, hat sie nichts gethan als geweint und geschluchzt, daß es einen Stein erbarmen könnte, kein Täßchen Kaffee will sie trinken und kein Semmelchen essen, und ich habe doch schon die feinsten geholt, die sie sonst so gern hat, und habe ihr so viel zugeredet und sie gebeten, sie möchte sich doch nicht unglücklich machen; ach, unser Norachen wird uns gewiß noch krank zu all dem Leid, was wir so schon haben, und die gnädige Frau hat sie mir doch so auf die Seele gebunden und gesagt, ich sollte gut für sie sorgen, solange sie noch hier im Hause ist.«

Auch Ellys Augen füllten sich mit stets bereiten Thränen, als sie diesen Bericht geduldig anhörte. »Wo ist Nora?« fragte sie.

»Sie liegt in der Vorderstube auf dem Sofachen, und zuerst hat sie gestöhnt und geschluchzt, daß man's ein paar Stuben weit hören konnte, aber nachher ist sie ganz still geworden und hat nur immer geweint, geweint, und jedesmal, wenn ich zu ihr kam, waren ihre Äugchen röter und dicker und das liebe Gesichtchen blasser, ach Gott, unser armes Norachen, wenn sie uns nur nicht krank wird!«

»Lassen Sie mich allein zu ihr gehen, Mina,« bat Elly, »sie würde erschrecken, wenn wir plötzlich alle beide vor ihr ständen.«

»Ja, ja, Fräulein Ellychen, gehen Sie nur und sehen Sie zu, was Sie thun können, ich habe schon alles umsonst versucht. Und reden Sie ihr zu, ein Täßchen Kaffee zu trinken, denn Essen und Trinken hält Leib und Seel' zusammen, und essen muß der Mensch, auch wenn er traurig ist, ich hab' ihn auch auf Spiritus gestellt, damit er hübsch warm bleibt.«

Mit beklommenem Herzen öffnete Elly die Thür des Wohnzimmers und trat mit zögernden Schritten näher, denn die Jugend hat immer eine Scheu, mit einem großen Schmerz in Berührung zu treten, wie warm und aufrichtig auch die Teilnahme sei, die sie dafür empfindet. Nora lag auf dem Sofa, aber sie rührte sich nicht, um die Freundin zu begrüßen; nach einer schlaflosen Nacht, nach der heftigen Erregung des Morgens hatte sie sich endlich in Schlaf geweint. Leise trat Elly zu ihr heran, – war das wirklich ihre Nora? das verwirrte Haar, die schweren, von Thränen geröteten Lider, der halb vollendete Anzug – das alles entsprach so wenig der sonstigen zierlichen Erscheinung und gab ein solches Bild bittern, selbstvergessenen Kummers, daß Elly davon vollständig überwältigt wurde; sie sank neben dem Sofa auf die Kniee, legte ihren Kopf auf die Hände der Freundin und rief schluchzend: »Meine arme, arme Nora! o Gott im Himmel, hilf ihr und mache sie wieder froh!«

Nora erwachte und schaute mit einem trüben, müden Blick um sich: »Du hier, Elly?« fragte sie erstaunt. Sie richtete sich auf, aber nun kam auch das Gefühl ihrer Verlassenheit, die Erinnerung an den schmerzvollen Abschied von ihrer Mutter über sie, sie verbarg ihr Gesicht wieder in den Kissen und rief jammernd: »O Elly, wenn ich lieber nie wieder erwacht wäre! wenn ich mein Herzeleid für immer hätte verschlafen können!«

Was konnte Elly thun, als mit ihr weinen? Sie saßen eng aneinandergeschmiegt, wie zwei Vögel auf einem Zweig, und ließen ihre Thränen zusammen fließen, bis sich endlich die Gewalt des Kummers erschöpfte und der Strom versiegte. Die alte Mine, die nach einer Stunde hereintrat und den Kaffee immer noch unberührt auf der Spirituslampe fand, erhielt von Ellys Überredungskünsten keinen höhern Begriff, als von ihren eigenen, und wurde ordentlich böse auf ihr »Fräuleinchen«, das sich gar nichts sagen lassen wollte und auf keinen verständigen Menschen hörte. Die Natur machte endlich ihr Recht geltend, Nora ließ sich bereden zu frühstücken und fühlte sich kräftiger danach. Sie bat Elly, sie jetzt allein zu lassen, sie wolle die brennenden Augen kühlen und ihre Sachen ordnen, um gegen Abend zu ihr zu kommen, es sei sicher am besten, wenn sie sich erst beruhige und die Spuren der vergossenen Thränen vertilge, ehe sie in einem andern Hause erscheine. »Deine Liebe und Teilnahme, meine Elly, haben mir wieder den Mut gegeben, mich aufzurichten und vorwärts zu gehen, wie Gott es will und wie ich es meiner Mutter versprochen habe; habe Dank dafür, du treues Herz.«


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