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So waren in schöner Harmonie die Wintermonate verflossen, und wieder zog der Frühling über das Land, mit seiner ganzen reichen Herrlichkeit von Knospen und Blüten. Nora stand am Fenster ihres Zimmers und blickte sinnend hinaus über die grüne Niederung, die dicht hinter der Stadt beginnt und sich weithin dehnt mit üppigen Feldern, schwellenden Wiesen und einzelnen, verstreuten Häusern. Wie ein silbernes Band zieht sich der Fluß durch die Ebene, träumerisch folgten ihre Blicke seinem Lauf; zog er doch nach demselben Ziel, das ihre Gedanken so oft aufsuchten, nach der lieben Vaterstadt, in deren Nähe er sich in den Schoß der blauen See ergießt. Längst war ein Jahr verflossen, seit ihr Vater von den Seinigen Abschied nahm, ein Jahr seit ihrer Einsegnung, seit der Abreise ihrer Mutter! Wenn sie es damals hätte ahnen können, daß es ein Abschied auf so lange, unabsehbare Zeit sein sollte, sie hätte auch wohl wie Elly gesagt, sie könne es nicht ertragen.
»So ganz versunken, Nora? – und Thränen in den Augen? woran denken Sie?« fragte Frau v. Westheim, die unbemerkt eingetreten war. »An die Heimat und an meine Eltern!« war die wehmütige Antwort.
»Armes Herz! aber nur getrost, auch dieses Wiedersehen wird kommen – früher, als es mir lieb sein wird. Inzwischen wenden Sie Ihre Gedanken freundlich der Gegenwart zu; wir haben eben eine dringende Einladung von Frau L. erhalten, sie auf einen ganzen Tag zu besuchen, um ihren schönen Garten in seiner Frühlingspracht zu genießen.«
»Auch ich?« fragte Nora zögernd.
»Auch Sie – ich argwöhne sogar, daß Sie eigentlich die Hauptperson, Erna und ich nur Anhängsel sind; Sie wissen wohl, welch herzliches Interesse Frau L. an Ihnen nimmt, sie ist sehr nahe mit meiner Cousine Mansfeld befreundet.«
Es war ein köstlicher Frühlingstag, als die beiden Damen sich mit Erna in den Wagen setzten, um nach dem L.'schen Gute hinauszufahren; der Weg war derselbe, den Nora damals im Postwagen zurückgelegt hatte, aber mit wie verschiedenen Gefühlen betrachtete sie jetzt die Gegend! Damals lag die nächste Zukunft vor ihr wie ein unbekanntes Land, in dem sie sich selbst einen Pfad suchen sollte; jetzt wußte sie, daß sie darin eine liebe, sonnige Stätte besaß, die dadurch nicht an Wert verlor, daß sie manches hatte thun und dulden müssen, um sie zu erwerben. Wie lieblich prangte heute der Wald in seinem Frühlingsschmuck, wie einladend blickte das behagliche Wohnhaus durch die es umgebenden Bäume und Gesträuche!
Sie stiegen die breite Freitreppe hinauf – da ward die hohe Glasthüre aufgerissen, eine helle zierliche Gestalt stürmte heraus und flog Nora um den Hals, während eine jubelnde Stimme rief: »Nora, meine Nora, hab' ich dich endlich wieder!« So konnte nur eine jubeln, nur eine umarmen!
»Meine süße Elly«, rief Nora – und mit lächelnder Rührung sahen die älteren Damen der zärtlichen Begrüßung zu.
»Nun möchte ich mir aber auch einen Gruß ausbitten«, sagte Frau v. Mansfeld, als das Küssen und Herzen kein Ende nehmen wollte.
»Und ich bitte mir einen Dank für die gelungene Überraschung aus«, sagte Frau L. –
»Und wir beide nehmen auch ein kleines Verdienst in Anspruch, weil wir nichts ausgeplaudert haben«, fügte Frau v. Westheim hinzu, »schwer genug ist es uns geworden, nicht wahr, Erna?«
Erglühend in glückseliger Verwirrung machte Nora sich los und begrüßte die Damen, während Elly sich zu dem Kinde wendete. »Bist du auch da, kleine Erna? den ersten Kuß bekommst du, weil du meine Nora so lieb hast, und den zweiten, weil du meine Cousine bist.« Die Kleine betrachtete sie aufmerksam und fragte: »Bist du Noras eigene Elly?«
»Gewiß, und sie ist meine eigene Nora.«
»Nein, sie ist auch meine, sie hat mich nicht sterben lassen, als ich sehr krank war, und« – sie flüsterte es ganz leise und ernsthaft – »sie hat gemacht, daß meine Mama mich so sehr lieb hat.«
»Ja, sie ist ein liebes süßes Wesen, wie es kein zweites auf der Welt giebt«, sagte Elly gerührt und küßte das kleine Mädchen mit dem dankbaren Herzen doppelt innig. Es war ein glücklicher Tag; alle waren freundlich bereit, den Freundinnen ein ungestörtes Beisammensein zu gönnen. Nach Tische durchstreiften sie den schönen Park, suchten sich aber bald ein lauschiges Plätzchen, um ungehindert zu plaudern; trotz des lebhaften Briefwechsels war noch vieles für den mündlichen Austausch übrig geblieben, manche Lücke durch das lebendige Wort auszufüllen.
»Was macht der gute Axel?« fragte Elly, nachdem Wichtigeres besprochen war.
»Es geht ihm vortrefflich; wir sind sehr gute Freunde geworden. Er ist wirklich ein liebenswürdiger Mensch, und unter der leichten Außenseite steckt ein edler Kern.«
»Davon bin ich auch überzeugt, ich habe Axel immer für einen braven Jungen gehalten.«
»Nur dafür?« fragte Nora mit Nachdruck; »ich hoffte, du hättest eine höhere Meinung von ihm, denn es kommt mir zuweilen vor, als ob du sein Herz sehr ernstlich erfülltest.«
»Und du könntest wirklich glauben, Nora, daß er mir je etwas anderes sein könnte, als ein brüderlicher Kamerad? Nein, nein und dreimal nein! Wenn ich mir denken könnte, daß ich je einen Mann lieben und mich ihm ganz zu eigen geben sollte, so müßte er hoch über mir stehen und mir gründlich imponieren; mich ihm in irgend einer Richtung überlegen zu fühlen, das könnte ich nicht ertragen. Ich habe in B. einen Herrn kennen gelernt«, fuhr sie errötend fort, »der diesem Ideal einigermaßen entspricht, einen Mann von hohem, klugem Geist, der es nicht verschmähte, sich eingehend mit mir zu unterhalten. Aber wer weiß, ob er eine Erinnerung an das naseweise kleine Ding bewahrt, das ihm immer keck widersprach und doch im stillen fühlte, daß es stets den kürzeren zog. War es ihm nur eine flüchtige Bekanntschaft, die ihn im Augenblick amüsierte, ihn aber nicht weiter beschäftigte, so kann ich ihn auch wieder vergessen, für eine unglückliche Liebe bin ich nicht geschaffen.«
»War es Herr v. W.?« fragte Nora. Elly nickte.
»Ich glaube«, versetzte Nora sinnend, »ich könnte nie aufhören zu lieben, wenn ich einmal angefangen hätte. Das Wesen dessen, der unser Interesse im tiefsten Grunde zu erregen und zu fesseln vermag, wird doch dadurch nicht verändert, daß unsere Natur ihm nicht eine gleiche Teilnahme einflößen kann.«
»Du bist ein seltenes Geschöpf, meine Nora, und stehst hoch über mir. Der wäre auch wahrlich ein Thor, der eine solche Blume sein eigen nennen könnte und sich nicht bücken wollte, um sie an seinem Herzen zu bergen.«
Der schöne Tag nahm endlich ein Ende, wie alles Irdische, man trennte sich mit dem allseitigen Versprechen eines baldigen Wiedersehens, und in glücklichster Stimmung stieg Nora in den Wagen. »Ich habe das Glück einer Jugendfreundschaft nie gekannt«, sagte Frau v. Westheim, als sie durch den lieblichen, lauen Abend dahinrollten, »wie sie Elly und Sie verbindet, ich habe sie auch nicht vermißt, aber ich glaube doch, daß etwas Schönes und Poetisches darin liegt.«
»O es ist unsäglich süß und beglückend«, rief Nora, »auf die Liebe eines gleichgestimmten Herzens, auf seine Teilnahme am Größten, wie am Kleinsten, so sicher bauen zu können! zu wissen, daß es uns immer versteht, sich stets in uns hineindenken kann, unter allen Umständen unsere Partei ergreift. Ich habe von früher Kindheit an in einem so liebevollen und vertraulichen Verhältnis zu meiner lieben Mutter gestanden, wie vielleicht nicht viele Mädchen, und doch hätte ich Ellys Freundschaft nicht entbehren mögen; man sieht eben alles mit gleichen Augen an und vieles ganz anders, als ältere und erfahrenere Menschen. – Wie ist es dir denn gegangen, meine liebe Erna?« fuhr sie zu dieser gewendet fort, »bist du vergnügt gewesen, und hast du unter den kleinen Mädchen eine Freundin wie Elly gefunden?«
»Wir haben sehr schön gespielt«, erwiderte Erna mit ihrem gewöhnlichen Ernst, »aber eine Freundin brauche ich nicht, ich habe ja dich und die Mama!«
»Nichts vorgefallen?« fragte Frau v. Westheim, als der Wagen vor dem Hause hielt und der Diener den Schlag aufmachte. »Nichts, gnädige Frau, nur für das Fräulein ist eine telegraphische Depesche angekommen.«
»O Gott, was mag geschehen sein!« sagte Nora angstvoll, »muß denn jeder auserwählte Tag mit einer Unglücksbotschaft enden?«
Sie eilte die Treppe hinauf und betrachtete zitternd das verhängnisvolle Telegramm, ehe sie wagte, es zu öffnen. Sein Inhalt lautete: Alle Angelegenheiten glücklich geordnet, wir verlassen England, in acht Tagen zu Hause, komm so bald du kannst. Deine Mutter. Nora vermochte die frohe Kunde kaum zu fassen, sie kam so plötzlich und überwältigend.
»Nun, liebe Nora«, fragte Frau v. Westheim, die ihr gefolgt war, »ist es etwas Gutes?«
»Meine Eltern kommen, in acht Tagen soll ich sie wiedersehen und bei ihnen sein! O lieber Gott, ich danke dir!« stammelte Nora, die ihrer Worte kaum mächtig war.
»Das ist in der That eine frohe Botschaft, ich gratuliere Ihnen von Herzen dazu. Was wird es für Sie und für Ihre Eltern für eine Freude sein, daß diese lange Trennung ein Ende hat.«
»Aber Nora, wenn du ihnen guten Tag gesagt hast, kommst du wieder zu uns«, sagte Erna zuversichtlich, »du bleibst nur zum Besuch bei ihnen.«
»Nein, mein Liebling«, entgegnete Nora ernst, »dann bin ich wieder das Kind meiner Eltern und bleibe für immer bei ihnen.«
»Und wir bleiben hier allein?« rief Erna ängstlich, »o Mama, das kann doch nicht sein, sage Nora, wir können nicht ohne sie leben.«
»Meine kleine Erna«, sagte Frau v. Westheim, indem sie das Kind auf ihren Schoß nahm, »du wirst es auch lernen müssen, daß jedes neue Glück mit einem Schmerz erkauft werden muß, daß nur zu oft der Gewinn des einen einen Verlust für den andern bedeutet. Wir dürfen Nora nicht halten, sie gehört ihren Eltern, wie du uns gehörst. Möchtest du den Papa und mich verlassen und mit deiner lieben Nora gehen?« Die Kleine schlang ihre Arme um den Hals der Mutter. »Nein, meine Mama, ich bleibe bei dir. Nora hat ihre Eltern, aber du hast nur mich; ich will dich noch lieber haben, wenn Nora fortgeht.«
Mit gefalteten Händen und feuchten Augen stand Nora da, in Gedanken verloren. »Wie hätte ich es je für möglich gehalten«, sagte sie endlich, »daß bei der Aussicht auf die baldige Rückkehr meiner Eltern etwas anderes, als Jubel und Wonne mein Herz erfüllen könnte! Und nun will die Wehmut des Scheidens von hier den Jubel beinahe unterdrücken. Ich komme mir lieblos und undankbar gegen die teueren, geliebten Eltern vor, die mich sechzehn Jahre lang gehegt und geliebt haben, während ich hier doch nur wenige Monate lebte.«
»Nein, meine liebe Nora«, entgegnete Frau v. Westheim herzlich, »machen Sie sich keine Skrupel über ein natürliches Gefühl. Jede, die ihr Vaterhaus verließ, um dem Manne ihrer Liebe zu folgen, hat ähnliches durchgemacht, den gleichen Zwiespalt der Empfindungen zwischen dem Alten und dem Neuen. Jedes hat sein Recht; gönnen Sie uns die Wehmut des Abschiedes, die Sie fühlen, es ist die Anerkennung unserer herzlichen Liebe für Sie. Sind Sie erst bei Ihren Eltern, dann werden Sie es voll empfinden, daß das Ihr rechter Platz ist und alle anderen Ansprüche in zweiter Reihe stehen. Aber wir werden Sie sehr vermissen, meine liebe Nora!« –
Der Tag der Trennung war gekommen, mit thränenvollen Augen ging Nora umher, um Abschied zu nehmen; sie fühlte es an dem Kummer, der ihr Herz erfüllte, wie lieb ihr alles hier geworden war, wie heimisch sie sich gefühlt hatte. Frau v. Westheim und Erna begleiteten sie bis zur Bahnstation; weinend hing das Kind an ihrem Halse und wollte sie nicht von sich lassen; schmerzlich bewegt winkte Nora den beiden aus dem Coupéfenster die letzten Grüße zu. Aber je näher sie der Vaterstadt kam, um desto höher schlug ihr Herz, und als sie den Zug verließ und ihren Eltern in die Arme sank, da empfand sie nichts anderes, als höchste Freude und dankbares Entzücken, und fühlte es tief, daß hier ihre wahre Heimat sei. – –
Hier verlassen wir Nora. Ein Lehr- und Wanderjahr lag hinter ihr; sie hatte fremde Menschen und Verhältnisse kennen gelernt, Schwierigkeiten überwunden, Trübes erlebt und ernste Kämpfe durchgestritten. In allem hatte sie es bestätigt gefunden, daß Gottes Vaterhand allezeit über uns ausgestreckt ist, um uns zu schützen und zu leiten, um Trauer in Freude zu verkehren, – daß überall Menschenherzen voll Liebe und Teilnahme schlagen, wenn wir nur den rechten Weg zu ihnen zu finden wissen, und daß jedes Leiden, das in Geduld und Ergebung getragen und überwunden wird, schließlich zu unserm Besten dienen muß. Diese Erfahrungen waren ihr ein kostbarer Schatz, der sie durch ihr ganzes Leben begleitete und ihr in allen Wechselfällen ihres Geschickes Trost, Freude und wahre Erhebung brachte.