Brigitte Augusti
Mädchenlose
Brigitte Augusti

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Neuntes Kapitel

Große Sorge

Mehrere ereignislose Wochen waren verflossen; Frau v. Westheim hatte ihr Benehmen gegen Nora nicht geändert, jedoch wollte es dieser zuweilen scheinen, als ob sie freundlicher und rücksichtsvoller behandelt würde, als früher. Seit einiger Zeit machte sie sich Sorge um Erna; das Kind, das eben angefangen hatte, ein wenig aufzublühen, das sich geistig erfreulich entfaltete, schlich matt und unlustig umher, ohne eigentlich krank zu sein.

Eines Tages sollte auf einem benachbarten Gute ein größeres Fest stattfinden, zu dem auch Westheims geladen waren. Als der Wagen schon vor der Thür stand, kam die Mutter noch einmal herauf, um nach ihrem Kinde zu sehen. »Erna gefällt mir heute nicht ganz,« sagte sie, »sie hat ein fieberhaftes Aussehen. Ich hoffe, es hat nichts zu bedeuten, doch wird es gut sein, sie früh zu Bett zu bringen und morgen nach unserer Rückkehr den Doktor holen zu lassen. Ich kann mich darauf verlassen, daß Sie in meiner Abwesenheit Erna keinen Augenblick verlassen, nicht wahr, Lorchen?« »Gewiß, gnädige Frau, ich bleibe auf meinem Posten.«

»Ich schenke Ihnen vollkommenes Vertrauen, liebes Fräulein,« sagte Frau v. Westheim mit Nachdruck und reichte Nora die Hand. »Adieu, meine kleine Erna; ich will dir etwas Schönes mitbringen, komm mir morgen frisch und froh entgegen.«

Nora hörte den Wagen fortrollen, ein Gefühl großer Einsamkeit kam über sie; die gute alte Haushälterin, die sonst wohl einmal ein Stündchen bei ihr saß, lag zu Bett und konnte ihr keinen Rat geben, keine Hilfe bei dem kranken Kinde leisten. Sorgenvoll beobachtete sie das von Stunde zu Stunde steigende Fieber, die immer vermehrte Unruhe; endlich, als Erna, aus unruhigem Schlummer erwachend, über heftige Halsschmerzen klagte, konnte sie die Angst nicht länger ertragen, sie klingelte dem Mädchen, das nach einer Weile, schon halb verschlafen, erschien.

»Ich fürchte, Erna ist sehr krank, Martha, schicken Sie gleich nach dem Doktor, damit nichts versäumt wird,« sagte Nora.

»Aber Fräulein Lorchen,« erwiderte jene ganz betreten, »wer soll gehen? Der Diener ist mit den Herrschaften fortgefahren, Amalie ist zu ihrer kranken Mutter gegangen und kommt erst morgen früh zurück, und ich allein kann doch in dunkler Nacht nicht den weiten Weg gehen, ich fürchte mich zu sehr.«

»O mein Gott,« seufzte Nora, »was sollen wir machen? ist denn niemand da, der in dieser Not helfen könnte?«

»Machen Sie sich nur nicht gleich solche Sorgen, Fräulein, « tröstete das Mädchen, »das sieht bei Kindern immer schlimmer aus, als es wirklich ist. Wir wollen warme Umschläge um den Hals machen, das wird helfen.«

Eilfertig trug Martha alles Nötige herbei; wirklich schien das Mittel etwas Linderung zu bringen. Doch nach kurzer Zeit stöhnte die Kranke wieder stärker, sie warf sich heftiger in ihrem Bett hin und her, die Augen glühten vor innerer Hitze, sie sprach wirre Worte und röchelte schwer. »Es hilft nichts,« sagte Nora mit plötzlichem Entschluß, »der Arzt muß geschafft werden; entweder Sie gehen, Martha, oder ich.«

»Ach Fräulein Lorchen,« jammerte das Mädchen, »verlangen Sie nur das nicht von mir, ich ängstige mich tot in der Finsternis, es ist ja Mitternacht vorüber.«

»So werde ich gehen, der liebe Gott wird mich beschützen. Aber erst schwören Sie mir, Martha, keinen Schritt vom Bett des Kindes zu weichen, bis ich zurückkomme.«

»Ich schwöre es,« sagte das Mädchen, ganz erschüttert von Noras feierlichem Ernst.

Zitternd eilte Nora durch die dunkeln Straßen, der Wind pfiff und heulte unheimlich, ein feiner Regen sprühte herab, sie achtete auf nichts, als ihren Weg, der hin und wieder von dem flackernden Schein einer Laterne matt beleuchtet wurde. Schon hatte sie den größten Teil zurückgelegt, schon atmete sie freier, als plötzlich laute, lachende Stimmen an ihr Ohr schlugen, offenbar kam eine Schar von Herren ihr entgegen. Sie drückte sich hart an die Mauer und hoffte unbemerkt zu entschlüpfen, als eine Hand sie berührte. »Was ist das – wen haben wir hier – ein pikanter Fang, holla, laß sehen,« so tönte es von allen Seiten. Im nächsten Augenblick flammte ein Streichhölzchen auf, eine kleine Laterne wurde angezündet und dicht vor Noras Gesicht gehalten. »Ei mein holdes Kind, wohin so spät? – mein schönes Fräulein, darf ich's wagen, meinen Arm und Geleit ihr anzutragen?« Solche und ähnliche Scherze wurden ihr unter lautem Gelächter zugerufen. Einen Augenblick stand sie fassungslos vor Angst und Grauen, dann preßte sie die Hand auf ihr wild klopfendes Herz und trat mit einem kühnen Schritt auf einen jungen Mann zu, der sich mehr zurückzuhalten schien. »Mein Herr,« sagte sie mit bebender Stimme, »ich bin auf dem Wege zum Arzt, es handelt sich um ein kostbares Leben, sonst wäre ich nicht hier; helfen Sie mir, mein Ziel zu erreichen.«

»Gern, mein Fräulein,« war die schnelle Antwort; er faßte ihre Hand und zog sie aus der Menge. »Macht Platz,« rief er den andern gebieterisch zu; »seien Sie ohne Sorge, ich werde Sie sicher geleiten.« Ohne ein weiteres Wort zu sprechen, ging er neben ihr her, bis sie am Hause des Doktors angekommen waren, und zog die Nachtglocke. »Ich warte, bis man Ihnen aufmacht, – leben Sie wohl.«

»Ich danke Ihnen von Herzen,« stammelte Nora, sie hielt sich kaum noch aufrecht. Es schien ihr eine Ewigkeit, bis der Doktor sich fertig gemacht hatte und sie mit ihm zusammen den Rückweg antreten konnte.

Voll Todesangst eilte Nora in das Krankenzimmer, händeringend kam ihr Martha entgegen. »Gott sei Dank, daß Sie da sind, Fräulein, ich bin fast vergangen vor Angst, ich dachte, Ernachen stürbe mir unter den Händen«.

Der Doktor machte ein ernstes Gesicht, als er die kleine Patientin untersuchte: »Es ist, wie ich dachte, Diphtheritis. Es ist die höchste Zeit.« Mit ruhiger Besonnenheit traf er seine Anordnungen und wendete die mitgebrachten Mittel an; als keine Veränderung eintrat, sagte er ernst: »Ich muß zur Operation schreiten.«

»Ist es nicht möglich, zu warten, bis die Eltern zurückkehren?« fragte Nora zitternd.

»Eine Stunde Warten kann den Tod bringen«, erwiderte er entschieden – und Nora widerstrebte nicht länger. – –

Totenstille herrschte im Zimmer; der Doktor saß am Bett und verwandte kein Auge von dem kranken Kinde; Nora war in einen Stuhl gesunken und vor Erschöpfung eingeschlafen, da rollte ein Wagen, die Eltern waren zurückgekehrt. Bald danach wurde leise die Thür geöffnet, Frau von Westheim trat ein. Beim Anblick des Arztes fuhr sie zurück. »Sie hier, Herr Doktor? wer hat Sie gerufen?« Er winkte ihr Schweigen zu und deutete auf Erna, die blaß wie eine Leiche mit verbundenem Halse dalag.

»Was ist geschehen?« flüsterte sie angstvoll – – »mein Kind –.«

»Danken Sie es dieser tapfern jungen Dame, daß Sie Ihr Kind noch am Leben finden, gnädige Frau; eine Stunde später und es war zu spät.«

Verwirrt blickte sie von dem Arzt auf Nora, aber dann heftete sie den zum Tode erschrockenen Blick wieder auf die Kranke. »Ist sie außer Gefahr?«

»Ich hoffe es, wenn alle Vorsichtsmaßregeln genau beobachtet werden; ich habe dem Fräulein alles eingeschärft, sie scheint mir zuverlässig und treu wie Gold.«

Frau v. Westheim setzte sich nieder und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Sie, die Mutter, hatte ihr Kind vernachlässigt und war ihrem Vergnügen nachgegangen, die Fremde hatte es durch Treue und Aufopferung gerettet – es war ein Augenblick bittersten Selbstgerichts. –

Eine Stunde verrann in stummer Beobachtung, dann stand der Doktor auf: »Für den Augenblick ist keine Gefahr, nur Ruhe, Ruhe! Lassen Sie nur diejenigen bei dem Kinde sein, an die es am meisten gewöhnt ist.« Er trat auf Nora zu und rüttelte sie leise am Arm. »Stehen Sie auf, mein Kind, Sie müssen auf Ihren Posten, im Lauf des Vormittags komme ich, Sie abzulösen.«

Nora sprang auf und eilte mit geräuschlosen Schritten, des Arztes Platz am Bett des Kindes einzunehmen. Frau v. Westheim saß regungslos, sie sah und hörte nichts, ihr Blick war ganz nach innen gerichtet.


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