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Angstvolle Tage folgten; zwar war die Macht der Krankheit gebrochen, aber noch war die tödliche Schwäche zu besiegen, die sich infolge der Operation des zarten Körpers bemächtigt hatte. Es galt vor allem, bei Tag und Nacht kein Auge von der Kranken zu verwenden und auf jedes Symptom zu achten, um die nötigen Maßregeln danach zu treffen. Frau v. Westheim und Nora hatten sich ganz in die Pflege geteilt, von zwei zu zwei Stunden lösten sie einander ab. Es hatte keine Aussprache zwischen ihnen stattgefunden, es war auch keine Zeit dazu, jede fand ihr eignes Thun und das der andern selbstverständlich. Nur an dem warmen Druck der Hand, mit dem sie empfangen wurde, an dem herzlichen Ton der Stimme merkte Nora, daß eine Veränderung ihres Verhältnisses eingetreten sei.
Erna lag in tiefem, ruhigem Schlummer, als Nora zur Ablösung erschien. »Ich kann mich noch nicht trennen,« sagte Frau v. Westheim, nachdem sie jener den Platz eingeräumt hatte, »ich denke, dieser sanfte Schlaf bedeutet uns Gutes. Ich möchte so gern dabei sein, wenn mein armes Kind zum erstenmal mit vollem Bewußtsein erwacht.« Mit gefalteten Händen blieb sie am Bette stehen und blickte Erna mit einer tiefen Innigkeit an, die Nora früher nie an ihr gesehen hatte. Jetzt regte sich die Kleine und schlug die großen dunkeln Augen auf, ein glückliches Lächeln flog über das schmale, blasse Gesichtchen:
»Nora!« sagte sie mit zärtlichem Ton. Die Mutter wendete sich ab, um ihre Thränen zu verbergen. Nora beugte sich über das Bett und küßte das Kind: »Sieh mein Liebling, hier ist auch die Mama!«
»Meine Erna«, flüsterte Frau von Westheim, hast du für mich nicht auch einen liebevollen Gruß?«
»Warum weinst du, Mama?« fragte die Kleine, indem sie die Mutter aufmerksam betrachtete.
»Ich danke dem lieben Gott, daß du wieder gesund geworden bist!«
»War ich krank?«
»Ja, sehr krank, aber nun ist alles wieder gut, nun wirst du bald wieder ganz frisch und munter sein.«
»Freust du dich darüber? hast du mich denn lieb, Mama?« Die Frage schnitt der Mutter ins Herz.
»Wie kannst du nur so fragen, du bist ja mein einziges, zärtlich geliebtes Kind. Aber nun ist's genug, wir dürfen nicht so viel sprechen, es könnte dir schaden.« Sie küßte Erna und verließ schnell das Zimmer.
Von nun an ging die Genesung rasch vorwärts. Der Doktor rieb sich vergnügt die Hände und meinte, so glänzend wäre ihm selten eine Kur geglückt, aber freilich fände er auch nicht oft so treue Helfer. Er war sehr geneigt, das ganze Verdienst Nora zuzuerkennen, wogegen diese aber energisch protestierte; sie mochte überhaupt nicht gern von ihrer nächtlichen Unternehmung sprechen, die Erinnerung daran war ihr zu schrecklich.
Da die kleine Patientin die oberen Räume noch nicht verlassen sollte, so brachte Frau v. Westheim ganze Abende oben zu; sie warb förmlich um Ernas Liebe, und Nora hatte oft das Gefühl, daß sie sich zurückziehen und Mutter und Kind allein lassen müsse, aber die Kleine ließ sie nicht von ihrer Seite und war nur glücklich und zufrieden, wenn sie neben ihr saß. Mit Überraschung wurde Frau v. Westheim gewahr, wie lebhaft und unbefangen Erna plaudern konnte, welche originellen Ideen der kleine Kopf hervorbrachte; sie hatte ihre eigene Tochter für apathisch und uninteressant gehalten und mußte jetzt sehen, daß nur sie selbst es nicht verstanden hatte, die verschlossene Pforte zu öffnen, hinter der so reiche Schätze geistiger und gemütlicher Begabung verborgen lagen.
»Ich muß bei Ihnen in die Schule gehen, liebe Nora, und lernen, mein eignes Kind zu behandeln und ihm rückhaltloses Vertrauen einzuflößen«, sagte sie eines Tages, »das ist ein schweres Geständnis für eine Mutter. Aber mir scheint, ich habe ein Jahr in einem dumpfen Traume verlebt; der Tod meines Engelskindes hatte eine harte Rinde um mein Herz gelegt, durch die kein Gefühl der Liebe hindurchdringen konnte, weder von innen, noch von außen. Erst die Todesangst um Erna hat die eisigen Bande gesprengt. die mich gefangen hielten, ich erkenne deutlich Gottes Hand in dieser Fügung und sehe mit Schrecken, wieviel ich versäumt habe. Auch Ihnen, liebe Nora, habe ich viel abzubitten; Sie haben Böses mit Gutem vergolten! nie kann ich Ihnen genug danken für das, was Sie an Erna und damit an mir gethan haben. Wir haben viel gemeinsam durchgemacht, wir können einander nicht mehr fern stehen – lassen Sie uns Freundinnen sein!«
»O gnädige Frau«, rief Nora mit überströmendem Gefühl, »Sie beschämen mich und machen mich doch sehr, sehr glücklich! Haben Sie Dank für Ihre Güte, für Ihr Vertrauen, ich will es heilig bewahren!« Sie neigte sich, um Frau v. Westheims Hand zu ergreifen, aber diese zog sie in ihre Arme und küßte sie herzlich.
»Liebe Nora«, sagte sie warm, »ich habe mich selbst am meisten beraubt, als ich Sie so fern von mir hielt. Ich weiß jetzt, was ich an Ihnen habe, und danke Gott, der Sie in mein Haus geführt. Ich hoffe, auch Sie sollen es von nun an nicht mehr beklagen dürfen, daß Sie zu uns gehören.«
Mit dieser Stunde begann ein neues Leben für Nora; zwar äußerlich betrachtet, veränderte sich nicht viel, und doch empfand sie es täglich und stündlich mit froher Dankbarkeit, daß alles anders geworden sei. Jetzt wurde sie wirklich wie ein Glied des Hauses angesehen, und wenn sie Ernas Liebe und Gesellschaft nicht mehr so ausschließlich genoß, wie früher, so gewann sie dafür die Liebe und Teilnahme einer Schwester, denn wie eine solche wurde sie fortan von Frau v. Westheim behandelt. Die größte Veränderung aber war mit dieser letzteren selbst vorgegangen. Der Gram um das verstorbene Kind, der nie durch Geduld und Ergebung überwunden, sondern nur gewaltsam zurückgedrängt war, hatte ihr ganzes Innere gleichsam verknöchert und ihrem Wesen etwas Herbes und Kaltes gegeben. Nun war der Bann gebrochen; ihre natürliche Liebenswürdigkeit, die durch Schmerz und Sorge geläutert war, konnte sich frei entfalten. Die gemeinsame Erinnerung an den verlornen Liebling war der sicherste Weg, auf dem sich die Herzen von Mutter und Kind zusammenfanden; sie wurden nicht müde, von Adda zu sprechen, und Frau v. Westheim erstaunte oft über die zähe Treue, mit der Erna alle Eindrücke ihrer frühesten Jahre festgehalten hatte. Längst war jene des übermäßigen geselligen Treibens überdrüssig, es hatte ihr nur als Betäubungsmittel für den nagenden Kummer gedient; jetzt bot ihr Ernas, immer noch der schonendsten Vorsicht bedürftiger Zustand eine willkommene Gelegenheit, sich für diesen Winter ganz davon zurückzuziehen. Auch ihren Mann gewann sie wieder für die stillen Freuden des häuslichen Lebens, das sie durch Musik, gemeinsame Lektüre und den Verkehr mit wenigen nahen Freunden angenehm zu beleben wußte. Nora nahm an allem teil und fühlte sich in diesem geistig anregenden Leben so glücklich und befriedigt, wie es ferne von den Ihrigen überhaupt möglich war.