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Sechzehntes Kapitel.
Wie es zuletzt war …

»Literaturgeschichte – ein gemaltes Mittagessen!«

 

Wenn das hohe Alter keine Abzugspost, so ist es eine Summe des ganzen vergangenen Lebens, und das war es im Falle Grillparzer. Auch von ihm gilt, was Theodor Fontane seinem Vater nachsagt: Wie er zuletzt war, war er eigentlich. Er war ein magerer Greis, kein feister wie beispielsweise Goethe einer war, aber je weniger er wurde, je schattenhafter, um so wesentlicher wurde dieser Schatten, um so denkmalhafter in seiner Umrißlinie. Alles trat jetzt schärfer hervor mit Ausnahme seiner Schärfe, die einer gewissen Milde Platz gemacht hatte. Zu grollen hatte er nicht verlernt und ein Epigramm spitz zuzuschleifen machte ihm immer noch das innigste Vergnügen. Aber die Fragwürdigkeit des Daseins, mit dem die Jugend als mit einer festen Größe rechnet, machte jetzt auch alles andere fragwürdig, nicht das Recht, daran glaubte er wie eh und je, aber die Rechthaberei. Ohne ein Schicksalsdramatiker zu werden, der er auch, als er die »Ahnfrau« geschrieben hatte, nicht gewesen war, hatte er gelernt, das Schicksal als etwas Unabweisliches in Rechnung zu stellen und sich in seinen höheren Willen weise zu ergeben. Dann sagt er seufzend »Sei's!« oder »Du lieber Jesus!«, seine nachgerade ständig gewordenen Unterwerfungsformeln, oder er findet aus dem Kampfgewühl eines Dramas zu dem sternhaft aufleuchtenden Vers:

All was geschieht, ist recht. Wer sich beklagt,
Verklagt sich selbst und seine eig'ne Torheit.

Nachgeben ist eins; sich abfinden ein anderes.

In dieser geistigen Haltung, der die körperliche entspricht, hat ihn auch Helmers Denkmal im Wiener Volksgarten in das Bewußtsein der Nachwelt übernommen. Mit dem Rücken gegen die Straße, von der ihn ein reliefartig vergegenwärtigter Reigen seiner dramatischen Gestalten trennt, sitzt er wie in der selbstgebauten Nische seines Werks vor uns, ein alter Herr mit seitlich nach links geneigtem Haupt, was der Gestalt etwas Lauschendes gibt. Es ist die Haltung seiner Greisenjahre, die sich bequem aus seiner Schwerhörigkeit erklären ließe, wäre sie nicht auch ein Charaktermerkmal. Es ist die typisch österreichische Haltung, die der reichsdeutsche Literarhistoriker, wenn er die ganz Geist gewordene Würde des in einem steilen Lehnsessel vor ihm Sitzenden mit einem kritischen Blick schulmeisterlich überfliegt, als unkämpferisch, ja geradezu als »schlapp« empfindet. Und nun gar die geknickte Kopfhaltung des gequälten Schmerzensmannes, ist sie nicht kennzeichnend, denkt er, für den schwächlichen Donauländer, der unheldisch einer Entscheidung ausweicht? Jawohl, Herr Professor, das ist sie! Er weicht aus. Aber, sehen Sie doch nur etwas schärfer hin! Er weicht aus, um sich zu behaupten. Und das eben ist das sinnbildlich österreichische an ihm; das eben das Heldische.

*

Äußere Ehren, an denen es ihm in dieser aus Vergessenheit und Verehrung zu fast gleichen Teilen gemischten Periode seines weithingedehnten Lebens keineswegs fehlte, vermochten seinen inneren Zustand kaum mehr zu berühren. Als er längst über Sechzig war, machten sie den seit mehreren Jahren in den endgültigen Ruhestand übersiedelnden Archivdirektor zum Hofrat. »Damit die Spitzbuben meine Adresse leichter finden können!« war die im Freundeskreise schimpfend gemurmelte Quittung für diese »Standeserhebung«. Beinahe ein Jahrzehnt später verlieh ihm sein junger Verehrer Erzherzog Maximilian, der mittlerweile Kaiser von Mexiko geworden war, das Großkreuz des Ordens von Guadeloupe. Er wird ihn zu dem vertrockneten Lorbeerzweig legen, antwortet er brieflich, den Seine kaiserliche Hoheit ihm vor vielen Jahren aus Schönbrunn in blühendem Zustand schickte, und Anordnung treffen, daß man ihm den Orden als »einstigen Schmuck« auf den Sarg lege, was so viel heißt, als daß er »bei seinem hohen Alter« keine andere Möglichkeit sehe, ihn »der Welt vorstellig zu machen«. In der Zwischenzeit ernennt der Kaiser Franz Joseph den fast Siebzigjährigen auf Antrag des liberalen Ministeriums Schmerling zum Herrenhausmitglied. Eine bis dahin unerhörte Auszeichnung eines österreichischen Dichters. Er nimmt sie hin wie alles andere, nimmt aber bald darauf die günstige Gelegenheit seines siebzigsten Geburtstages wahr, um ein schriftliches Gesuch einzubringen, worin er den Kaiser bittet, diese ihm, wie er angenommen hätte, »mehr als eine Ehre für die Literatur« zuerkannte »Vertrauensstelle« ehrfurchtsvoll zurücklegen zu dürfen. Eine Antwort erübrigte sich, denn der alte Beamte hatte trotz dreiundvierzigjähriger Dienstzeit völlig übersehen, daß die Herrenhauswürde auf Lebensdauer verliehen wurde. Mit seinen schmerzlich gelockerten Zähnen knirschend mußte der alte poeta laureatus sich fügen.

Denn Österreichs poeta laureatus war der getrost mit unermüdlichem Spaziergängerschritt dem Grab Zuwankende trotz alledem geworden, seitdem ein paar Jahre nach der Achtundvierziger Revolution der neue Burgtheaterdirektor Dr. Laube seine alten Stücke vorsichtig, aber entschlossen wieder in den Spielplan stellte. Das erste war die »Hero« gewesen, die zwanzig Jahre vorher das nicht übertrieben dankbare Publikum nur bis zum vierten Akt mit Beifall begleitet hatte. Dieser vierte Akt war eine Art Intermezzo zwischen der wundervollen Liebesszene und dem ebenso wundervollen fünften Aufzug. Grillparzer, immer der schärfste seiner Kritiker, fand ihn selbst ein wenig langweilig; aber »schön gelangweilt ist auch schön!« tröstet er sich im Tagebuch. Dann folgte »Das Goldene Vließ« an zwei Abenden, genau wie er es dreißig Jahre früher, von Charlotte kommend zu Charlotte gehend, geschrieben hatte, und wieder kommt Dr. Laube zu ihm und meldet einen vollen Erfolg »bei vollem Hause«, was der praktische Theaterdirektor nicht unerwähnt läßt. Schließlich kommt auch noch »Ottokar« an die Reihe und der immer noch unterschätzte »Treue Diener seines Herrn«. Es war wie eine zweite Jugend, wenn auch nur auf dem Theater, und zwischen zwei »Zu spät!« schreibt der Alternde auf ein dem Dr. Laube zugedachtes Blatt Papier:

Schon tot –, wieder lebend geworden
Durch dich, mein tollkühner Sohn –
So nimm den – Grillparzer-Orden,
Sonst hast du gar nichts davon.

Laube, der als ein erfahrener Theatermann genau wußte, worauf es einem Dichter ankommt, fragte höflich auch nach neuen Stücken, aber eben nur höflich, und als ihm der doch nicht so ganz unbelehrbare Dramatiker im Ruhestand halb widerwillig seine höchst unzeitgemäße, weil das Problem des Panslawismus vorschauend behandelnde »Libussa« zum Lesen anvertraute, brachte er sie ihm nach einer Weile zurück mit der höflichen Bemerkung, daß er die Bedenken ihres Urhebers teile und die Verantwortung für einen Erfolg nicht übernähme. Grillparzer ließ es bei dieser schonenden Ablehnung bewenden, wie man sie einem poeta laureatus schuldig ist, und kam auf seine noch unveröffentlichten Stücke – Stücke eines kostbaren Ganzen – bei Lebzeiten nicht mehr zurück. Immerhin geht daraus hervor, daß nicht nur sein Eigensinn schuld war, wenn man ihn in den letzten drei Jahrzehnten seines Lebens in Wien nur noch als den überlebten Dichter seiner eigenen Jugend gelten ließ und – verehrte, die Honigwaben seiner Weisheit in den Bienenstöcken seines reichen Herbstes geflissentlich verschmähend. Mit einigem guten Willen von der anderen Seite wäre die versperrte Schreibtischlade wohl aufzusprengen gewesen.

Wie lebte der zum Wahrzeichen einer versunkenen Zeit Vergilbte in diesen seinen letzten, von hoher Vergessenheit bekränzten Jahren? Nicht ganz so glücklich wie Cicero, wenn er uns in seiner Schrift »De senectute« als der geübte Verteidiger, der er war, weismachen will, daß das hohe Alter ein beneidenswerter Zustand sei. Aber auch wieder nicht so unglücklich, wie eine schuldbewußte Wiener Legende, um den ihm zugefügten Schaden auf Kosten vorangegangener Geschlechter nachträglich gutzumachen, gerne behauptet. Er lebte schmerzfrei, doch nicht völlig freudenarm. Seine, wie er sich selbst ausdrückt, »lederne« Gesundheit ermöglichte immerhin eine pedantisch strenge Zeiteinteilung.

Laube, ein nüchterner, aber gewissenhafter Beobachter, der ihn noch im Fleische wandeln sah und nachher eine ziemlich fleischlose Biographie über ihn schrieb, beschreibt uns seinen Tageslauf. Er bewohnte, auf Junggesellenart, zwei Stuben mit eigenem Eingang, aber ohne die Unbequemlichkeit eines eigenen Eingangs, die darin besteht, daß man, wenn es klingelt, selber öffnen muß. Wenn ihn jemand zu besuchen – er sagte wohl: zu überfallen – wünschte, mußte er vorerst bei den Damen Fröhlich, die er nie beim Namen nannte außer auf Briefumschlägen, an der gegenüber gelegenen Türe die Glocke ziehen. Übrigens war die Wohnung auch nicht ganz leicht zu erreichen: Vierter Stock, zweite Stiege, was wohl soviel heißt, daß die eine der beiden Stuben auf den Hof ging. Die andere schaute auf die Spiegelgasse, auf die hinunterzublicken sonst nur das Vorrecht derjenigen Mieter war, die sich auf der ersten Treppe aufwärts bewegten.

Die Damen Fröhlich bildeten ein Kleeblatt von Siebzigerinnen, das man in der Wiener Gesellschaft nicht eben wohlwollend die »Drei Parzen« nannte. Die Hausmagd Susanne war die vierte und eine bloß dienende Parze, die, wenn sie sich mit einem wienerischen »Küss' die Hand, Herr Hofrat!« eingeführt hatte, den Kaffee abgestellt, mit einem korrespondierenden Knix wohl ebenso schnell und geräuschlos wieder empfahl. Und von diesem Augenblick an ließ man den alten Herrn am besten allein. Er liebte es, allein gelassen zu werden; nur wenn man es tat, war es ihm nicht immer ganz recht. Aber in den Morgenstunden immer; jeder Vormittag war ihm ein Lebensabend, der in seinen Augen nur eine Berechtigung hatte, wenn man ihn mit einer nützlichen Beschäftigung ausfüllte, wozu seiner Meinung nach auch immer die Beschäftigung mit einem Lerngegenstand gehörte. Darauf hielt er, das wußte die Kathi, und darum störte sie ihn nie, eingedenk eines Wortes von ihm, das man ihr einmal hinterbracht haben mochte: daß er schon deshalb nicht geheiratet hätte, weil ihm der Gedanke unerträglich wäre, es könnte jemand in jedem beliebigen Augenblick in sein Zimmer kommen. Aber natürlich wußte sie trotzdem in jedem Augenblick genau, was im drüberen Zimmer vorging.

Er begann seinen Tag, wie er ihn endete, mit Lesen. Zunächst las er, noch beim Frühstück, die Zeitung, denn wenn er auch die Journalisten nicht leiden mochte, ihre Arbeitsleistung mochte er nicht entbehren, war er doch bei aller Entrücktheit durchaus das, was die Griechen ein »zoon politikon« nannten, ein um das Gemeinwohl bekümmertes Lebewesen. Manchmal entschloß er sich sogar zu einer Art Antwort auf die im Morgenblatt vorgebrachten Behauptungen oder Mitteilungen in Form eines rasch hingekritzelten Epigramms, das auf dem Kaffeebrett liegen blieb. Es gab recht zensurwidrige darunter, zum Beispiel das auf den jungen Kaiser Franz Joseph gemünzte, das erst fünfzig Jahre später so weit herauskam, daß es wohlerzogen unterdrückt werden konnte:

Immer Jagen, immer Jagen!
Höret man den Volksmund klagen.
Um dem Vorwurf zu entwischen,
Geht er endlich jetzt auch fischen!

Nach der Zeitung, die bald ausgelesen war und dann für den Rest des Tages auf Nimmerwiedersehen aus seinem Zimmer verschwand, wahrscheinlich weil sie, auf dem Kaffeebrett liegenbleibend, von den »Damen« des Hauses erst später gelesen wurde, kam ein Buch an die Reihe, immer eins von hohem literarischem Wert, meistens von seinem geliebten Lope, der ihm eine Bibliothek und zugleich ein Theater ersetzte. Er las ihn immer in der Ursprache wie auch seine anderen bevorzugten Autoren, den Shakespeare oder den Tukydides, und er tat dies nicht nur zur geistigen Erfrischung, wie man etwa zur körperlichen Erfrischung Gelenksübungen macht, sondern auch, um dasjenige abzuwarten, was mindere Dichter die »Inspiration« nannten, die man, wie er aus Erfahrung wußte, am besten herbeirief, indem man sich mit etwas anderem beschäftigte. Manchmal auch setzte er sich zu diesem Zweck an den Flügel, der in der halbdunklen Ecke seines Zimmers stand, und begann auf dem Klavier zu phantasieren, was die Kathi mit Befriedigung herüberhörte, weil er dann bald zum Schreibtisch hinüberwechselte und die Lade seufzend aufzog – wer seufzte da eigentlich, er oder die Lade –, um den nächsten Vers zu machen, den er sich gestern schuldig geblieben war. Aus dem einen entwickelten sich andere eigensinnig versteifte Sentenzen, halbzeilige Repliken voll Charakterschärfe, aber auch leidenschaftlich aufprasselnde Ausbrüche des Gefühls, die wie im »Bruderzwist« und in der »Jüdin von Toledo« aus einem dramatischen Vorgang hoch aufsprühend Endgültiges in endgültiger Form aussagen. Und so verging der Vormittag, er konnte nicht herrlicher vergehen.

Dann kam das Mittagessen, das er genußsüchtig außer Haus einnahm, um die drei bis vier Damen zu Hause zu umgehen. Durch achtzehn Jahre bewegte er sich zu diesem Zwecke spazierengehend bis zum Matschakerhof, wo ein Eckplatz an einem länglichen Tische in einer schummerigen Wirtsstube immer für ihn freigehalten wurde. Erst in den allerletzten Jahren seines Lebens blieb er manchmal und schließlich immer aus. Wahrscheinlich waren die vier Stockwerke seiner Behausung daran schuld, die nach dem Essen emporzuklimmen dem hohen Siebziger nicht mehr ganz leichtfallen mochte. Bis zu diesem Zeitpunkt schloß sich dem Mittagmahl in dem für seine gute Küche berühmten Matschakerhof regelmäßig ein kleiner Verdauungswandel über die Bastei an, für die die alten Wiener schwärmten, weil man von dort bei klarem Wetter, und wenn einem nicht gerade ein Windstoß eine Staubwolke ins Gesicht blies, bis zum Schneeberg hinübersah. Auch der alte Hofrat tat dies mit stets sich erneuendem Vergnügen, und als dann später im Wandel der Zeiten die prunksüchtige neue Ringstraße sich auf den zum Stadterweiterungsfonds eingeschmolzenen alten Basteigründen breitmachte, war er auf den Stadterweiterungsfonds schlecht zu sprechen und gab auch diesen gewohnten Spaziergang verdrießlich seufzend auf. Dennoch pflichtete er der rosenhaft erblühten schönen Baronin Binzer bei, die als seine Tischnachbarin in einem gastfreien Hause in ihrer von seinem alten Freund, dem Dichter Zedlitz, so sehr geschätzten temperamentvollen Art die Beseitigung der Staubwolken auf der Bastei durch ihren Abbruch als einen wünschenswerten Fortschritt bezeichnete. Er war immer und überall für den Fortschritt, nicht nur im Herrenhaus.

Noch offener zutage als Grillparzers Vormittage liegen seine Nachmittage, die zu überschauen es nicht des Röntgenblickes der Liebe bedurfte, der durch mannshohe Schränke und verrammelte Türen dringt, wie dies bei der guten Kathi der Fall war. Am Nachmittag kamen Besuche und wenn es auch meistens nur Audienzen waren, so fanden sie doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit statt, wie uns in Spiegelschrift eine seiner mißlaunigen Bemerkungen verrät. »Es kommt niemand mehr zu mir«, beklagt er sich zu der damals noch jungen Marie Ebner-Eschenbach. »Männer schon gar nicht, nur noch Frauen!« Und er fügt galgenhumorig hinzu, er habe den Eindruck, längst schon gestorben zu sein, weil, wie es in der Heiligen Schrift heißt, »die Weiber zu seinem Grabe kommen«. Lustig, daß der Damenmann, der er war, sich eine Frau aussuchte, um dieses Epigramm an den Mann zu bringen. Übrigens nahm es die Besucherin, die das zweideutige Kompliment lachend quittierte, nicht im geringsten übel. Was sie allenfalls hätte erwidern können, hätte ihre unbegrenzte Verehrung für den alten Mann sie nicht davon abgehalten, wäre, daß dies in beiden Fällen, dort wie hier, nur für die Frauen spräche.

Der liebenswürdigen Dichterin, die man, um im Bilde zu bleiben, zwar nicht, wie es in der Bibel von Johannes heißt, den Lieblingsjünger des Herrn, wohl aber seine Lieblingsjüngerin nennen kann, verdanken wir auch das beste und bei aller Wahrheitsliebe liebenswürdigste geschriebene Porträt des großen alten Mannes. Wir verdanken ihrer Gabe der realistischen Beobachtung zugleich die mit unaufdringlichen Mitteln des Stils festgehaltene Atmosphäre solcher Nachmittagsbesuche, zumindest soweit sie, wie in ihrem Falle, erwünscht waren. Das galt auch von der Frau von Littrow, der Dame mit dem Weihnachtsfasan, die er, weil sie die Gattin des gleichnamigen berühmten Astronomen war, immer nur »die Astronomin« nannte, und die einmal sogar eine Schauspielerin mitbringen durfte. Allerdings war es die Wolter, die vielleicht größte Burgtheaterschauspielerin und jedenfalls beste Sappho ihres Jahrhunderts. Ihr küßte der alte Herr, der sie nie auf der Bühne gesehen hatte, beim Abschied sogar die Hand, wie fünfzig Jahre früher seine erste Sappho, die große Schröder, ihm die Hand geküßt hatte. Der Kreis schloß sich.

Der Vorgang, der diesen Begegnungen zugrunde lag, war immer der gleiche. Der Besucher, der meistens eine Besucherin war, mußte bei der einen Türe, nämlich bei den Damen klingeln, um hinter der anderen, nämlich bei Grillparzer, vorgelassen zu werden. Mit anderen Worten, die Kathi, obzwar sie unsichtbar blieb, mußte davon wissen. Das war eine Bedingung, die sich zwischen dem verzankten alten Liebespaar stillschweigend herausgebildet hatte, und deren Erfüllung in gewisser Beziehung auch wieder einen stillen Sieg Aschenbrödels bedeutete. Im Falle der jungen Dichterin Marie Ebner-Eschenbach, die sich später zu einer Jane Austen österreichischer Adelskreise entwickelte, wie auch in einigen verwandten Fällen, machte diese Anmeldung nicht die geringste Schwierigkeit. Sie war eine geborene Gräfin Dubsky, was zur Folge hatte, daß die gute Susanne – »Pförtnerin und Köchin« – schon beim Öffnen der Eingangstür vor Beglückung derart grinste, daß, wie die scharfäugige Beobachterin in ihren reizenden »Erinnerungen an Franz Grillparzer« es humorvoll ausdrückt, »ihr Mund von einem Ohr zum andern reichte«. Übrigens mochte die hochadelige Abstammung auch den Beginn ihrer Bekanntschaft mit dem sonst unzugänglichen alten Herrn vorteilhaft beeinflußt haben. Eine Zufallsbegegnung in Gesellschaft sich zunutze machend, hatte die junge Gräfin ihn mit einer ihr später unbegreiflichen Kühnheit, die sie sich jahrzehntelang vorwarf, angegangen und gefragt, ob sie tags darauf bei ihm vorsprechen dürfe, um ihm ein Stück vorzulesen. Bestürzt hatte er ja gesagt und sich die Vorlesung gefallen lassen, ja sogar hin und wieder ein »Gut!« oder »Sehr gut!« eingeworfen, um freilich in den nachfolgenden Jahren ihrer Bekanntschaft nie mehr auf dieses Stück der späteren großen Erzählerin zurückzukommen. So hatte er sich auch bei dieser Gelegenheit im Ausweichen behauptet.

Sie kam dann öfter. Einmal las er ihr eine Szene aus dem »Lope« vor, was ihr einen um so größeren Eindruck machte, als sie kein Wort Spanisch verstand, ein andermal tröstete er sie über eine schlechte Kritik mit einer wegwerfenden Handbewegung: »Literaturgeschichte – ein gemaltes Mittagessen!« Ein drittes Mal, als sie von seinem eben wiederaufgeführten »Ottokar« schwärmte, erzählte er ihr eine seiner unvergeßlichen Anekdoten: wie einmal der Graf Lanckoronski in einer großen Gesellschaft auf ihn zugekommen wäre, um ihn als den Dichter des »Ottokar« mit Komplimenten zu überschütten. Jedes seiner Stücke, versicherte ihn der hochgeborene Herr treuherzig, hätte er nicht nur im Burgtheater gesehen, sondern auch gelesen: »Nur den ›Ottokar‹ nicht: Den hab' ich von keinem meiner Bekannten zu leihen bekommen.« Der alte Herr, der, von einer Schülerarbeit »Die Schreibfeder« abgesehen, seine Stücke nur in Versen geschrieben hatte, war bei alldem ein Realist, der genau wußte, daß ein Schriftsteller nicht nur von wohlfeilen Komplimenten leben kann. Als ihm am Abend seines achtzigsten Geburtstags ein verspäteter Gratulant noch rasch vor dem Schlafengehen seine Huldigung darbrachte, unterbrach er ihn mit den Worten: »Lassen S' mich aus! Wissen S', was der Wallishauser (sein Verleger) von mir heut' verkauft hat? An'(eine) ›Ahnfrau‹!«

Die Ebner-Eschenbach war schon ein paar Tage früher zu ihm heraufgestiegen und hatte ihm etwas von einer zu gründenden Grillparzer-Gesellschaft erzählt und daß die Frauen Wiens ihn zu ehren wünschten, was er sich zum Geburtstag wünschen würde? »Drei neue Rasiermesser!« lautete die messerscharfe Antwort. Dann kam sie mit den befohlenen Messern angerückt und erhielt dafür einen richtigen festen Kuß von dem erfreuten Jubilar. Aber schon tags darauf begegnete sie der Magd auf der Treppe – mit den Messern. Der Herr Hofrat hätte sie zurückgeschickt, er bestünde auf Änderungen.

Der Dichter des »Bruderzwist« war ein »Schwieriger«, lang vor Hofmannsthals »Schwierigem«. Einen Meister der Selbstquälerei nennt ihn die Eschenbach.

*

Seine letzte Reise hatte er mit dem hochaufgeschossenen Wilhelm Bogner unternommen, nach Hamburg, nachher unternahm er nur noch kleinere Kurplatzreisen in nahegelegene sanfte Schwefelbäder – ebenso gut für Gehörleiden wie für alles andere –, in denen die ehemaligen Staatsbeamten eine Ermäßigung genossen. Die »verfluchte Familie«, wie er einmal brieflich donnert, kostete ihn ja noch immer Geld, und das Geld war dank den unglücklichen Kriegen von 1859 und 1866 immer wertloser geworden. Seinen letzten derartigen Fluchtversuch machte er nach dem oberösterreichischen Bad Hall, wo er die Schlacht bei Königgrätz erleben mußte, einen Trauertag erster Ordnung für jeden guten Österreicher, und wo er außerdem das Fleisch so zähe fand, daß er es »mit seinen neuen 120-Gulden-Zähnen« – Brief an Kathi Fröhlich – einfach nicht bewältigen konnte. Ein neuer, stiller Aschenbrödel-Sieg der guten, noch immer feueraugigen Greisin. Denn es gab sicher auf der ganzen Welt keine andere Frau, zu der er so freimütig über seine Bezahnung geredet hätte. Das setzte eine immerhin bald fünfzigjährige Bekanntschaft voraus. Das Alter hat seine Genugtuungen, man mag sagen, was man will. Wenn man Marie Ebner-Eschenbach glauben darf, machte der Uralte seinem liebenswürdigen Hausdrachen am Ende seines Lebens sogar einen richtigen Heiratsantrag, den das alte Mädchen abwies, weil sie, was sie an seiner Seite auszustehen hatte, bei aller Liebe lieber in zwei Wohnungen ausstehen wollte als in einer; lieber als Nicht-Frau denn als Frau. Aber die ganze Sache scheint etwas unwahrscheinlich. Vielleicht war es nur die Novellistin Ebner-Eschenbach, die, nach einem novellistischen happy end auslugend, auf diesen allzu naheliegenden Einfall kam.

*

Freunde – der alte Mann, hatte er eigentlich Freunde? In seiner Jugend hatte es ein paar unter seinen Zeitgenossen gegeben, die auf diese in seinen Augen verpflichtende Bezeichnung Anspruch erheben durften: Altmütter, Schreyvogel und der edle Feuchtersieben, der feinste unter allen. Arzt, Dichter, Schöngeist, Verfasser eines großen kleinen Buches »Zur Diätetik der Seele« und einiger unsterblicher Gedichte und schöner, an Grillparzer gerichteter Verse, die ihm dieser in der Concordia vorzulesen verbot, hatte er als Freund nur einen Fehler: daß er, ein herzschwacher Mann, der an den Erschütterungen des Achtundvierziger Jahres vorzeitig zugrunde ging, das letzte Vierteljahrhundert Grillparzers nicht mehr miterlebte. Das gleiche gilt von fast allen seinen Jugendgenossen, mit denen er, ohne geradezu mit ihnen befreundet gewesen zu sein, in schönen Sommerwochen das österreichische Gebirge durchwanderte. Lenau, Bauernfeld, Schubert, Anastasius Grün gehörten zu dieser Gruppe und noch einige andere. Wer war ihm geblieben für seine alten Tage? Lenau und Schubert waren tot, Anastasius Grün war bei allem zur Schau gestellten Liberalismus im Grunde doch ein Graf Auersperg und blieb es, obwohl er im Herrenhaus an Grillparzers Seite gegen das Konkordat stimmte. Bauernfeld hinwiederum mit seinem zerzausten Schnurrbart, dem finsteren Kalabreser und dem aufrührerischen Knotenstock, mit dem er sich, wilde Reden schwingend, durch die Revolution durchfocht, war ein nach Grillparzers Begriff allzu einseitiger Demokrat. Auch als Dichter fuchtelte Bauernfeld und redete ihm etwas zu viel und ließ sich zu wenig Zeit, um eine vernünftige Handlung in den meisten seiner Lustspiele herauszubilden; der Dialog wuchs ihm doch immer und überall über den Kopf. Sein »Kategorischer Imperativ«, nun ja, darüber ließ sich allenfalls reden. Das war ein hübsches Lustspiel aus der glorreichen Wiener Kongreßzeit, eine Mischung von Liebeständelei und Kantscher Philosophie, und der Dichter von »Weh dem, der lügt« hatte das Seine dazu beigetragen, ihm einen Preis zu verschaffen. Aber dieses Salonstück »Aus der Gesellschaft«, dessen Problem darin bestand, ob es möglich und vielleicht sogar zulässig sein könnte, daß ein österreichischer Fürst Lübbenau die Gesellschafterin seiner hochadeligen Schwester als Gattin erwählte – der Dichter der »Jüdin von Toledo« mochte das ein wenig kindisch finden und nicht ausreichend für vier ernsthaft plaudernde Komödienakte. Und nun gar »Ein deutscher Krieger«, was sollte das heißen, diese Anbiederung des unentwegten Demokraten an das mit Blut und Eisen unerquicklich zusammengeschweißte, autokratisch geleitete Deutsche Reich? Nein, mit diesem ewigen »Vorwärts!« um jeden Preis war es auf die Dauer auch nichts. Das Vorwärts wäre schon recht gewesen, aber es fragte sich doch immer auch, was man dafür aufgab und eintauschte. Und der alte Herr schrieb mit einer zarten, aber auch festen Kielfeder sich und anderen ins Stammbuch:

Nur weiter geht das tolle Treiben.
Von vorwärts! vorwärts! erschallt das Land.
Ich möchte, wär's möglich, stehen bleiben,
Wo Schiller und Goethe stand.

Grillparzer und Bauernfeld: in ihrer Jugend waren sie viel und weitgehend zusammengekommen, aber im Alter kamen sie immer weiter auseinander. Im Grunde war es ein ähnliches Verhältnis wie zwischen Heine und Börne: der eine war dem anderen zu viel Dichter, und der andere dem einen zu wenig. Freunde waren sie gewesen.

Verblaßte in diesen Fällen die frühere Freundschaft später zur Gleichgültigkeit, so wandelte sie sich in anderen, schlimmer als das, in bittere Abneigung. Da war etwa dieser Zedlitz, der große Vaterländische, der in seiner Jugend das schöne Gedicht »Die nächtliche Heerschau« geschrieben hatte und manches Geschichtsstück, das vorschnelles Urteil des Burgtheaterpublikums neben, ja sogar über die gleichgerichtete Produktion Grillparzers gestellt hatte, und der dann in späteren Jahren als Presse-Offiziosus des Fürsten Metternich sich ein viel zu schönes Sommerhaus in Alt-Aussee als Nachbar der viel zu schönen Baronin Binzer baute. Nun, er starb zur Zeit, so daß man ruhig sein Abschwenken zur einträglicheren Reaktion der alles richtenden Geschichte überlassen durfte. Ärgerlicher beinahe noch war die von einer gewissen Kollegialität übertünchte Beziehung zu einem nicht minder reaktionären Mitglied der Akademie und zeitgenössischen Liebling, dem Dichter Friedrich Halm, von dem Grillparzer, als er ein Jahr vor ihm starb, mit der sauersüßen Miene des Epigrammatikers sagte, daß er ihm überall im Leben zuvorgekommen sei, leider auch im Tode. Was sich darauf zurückbezog, daß Halm sich vor vielen Jahren mit Grillparzer zugleich um die Stelle eines Kustos der Hofbibliothek beworben hatte und, wahrscheinlich weil er ein Baron und verläßlich rückschrittlich gesinnt war, ihm, dem auch als Beamten – und wie sehr erst als Dichter – höher qualifizierten Mitbewerber den Rang abgelaufen hatte. Am hoffnungslosesten aber ließ sich der wiederholte Versuch an, zwischen dem alten Grillparzer und dem in gleicher Richtung nach dem Lorbeer eines deutschen Euripides langenden Friedrich Hebbel eine freundschaftliche Respektbeziehung herstellen zu wollen. Nicht daß der unbeirrbare Gerechtigkeitssinn des älteren Dramatikers sich auch nur einen Augenblick lang darüber hätte täuschen lassen können, daß Hebbel sein bedeutendster dichterischer Zeitgenosse war. Er war es nur leider in gerade entgegengesetzter Richtung. Grillparzer verlangte vom Drama Bildlichkeit in jedem Atemzug, bei Hebbel atmete nur die Idee. Der eine kam von Kant her, der andere, nämlich Hebbel, seiner norddeutschen Abstammung und Schulung entsprechend, von Hegel. Dialektik war ihm alles, wo Grillparzer Empfindung alles war. Geistreich waren sie beide, aber wo der Österreicher im Geiste der Natürlichkeit zustrebte, befriedigte sich Hebbels Unnatur nur in der Abstraktion. Grillparzer sagte in »Sappho« von der Dichterkrone: »Von Tausenden gesucht und nicht errungen!« wo Hebbel in »Gyges und sein Ring« von der Königskrone nur zu sagen wußte: »Wirf weg, damit du nicht verlierst!« Am Ende hätte der Österreicher zu dem frostigen Friesen sagen können, was Goethe nach einem denkwürdigen Gespräch über die Metamorphose der Pflanzen zu Schiller sagte: »Was für Sie eine Idee ist, ist für mich eine Erfahrung!« Aber so weit kam es gar nicht zwischen den beiden Euripidessen. Als die Concordia Grillparzer zu einem denkwürdigen Abend einlud mit der Begründung, der Doktor Hebbel werde auch erscheinen, gab er die schlichte Antwort, da werde er lieber nicht kommen. Denn wenn er mit dem Doktor Hebbel zusammenkomme, da werde das Gespräch gleich auf den lieben Gott kommen. Aber da wäre er, der Grillparzer, im Nachteil. Weil nämlich der Doktor Hebbel ganz genau wüßte, wie der liebe Gott im Gesicht aussähe – »Und ich weiß das leider nicht!« …

Eine literarische Beziehung von einzigartiger Wärme verband den Dichter der Komödie »Weh dem, der lügt« mit dem Komödiendichter Ferdinand Raimund, der so etwas wie eine Vorstadtausgabe des hochliterarischen Grillparzer war. Beide waren sie große Hypochonder – Raimund starb sogar an seiner Hypochondrie – die Wahnidee, von einem tollen Hund gebissen zu sein, trieb ihn in den Selbstmord –, beide zankten sie sich ein Leben lang mit der geliebten Frau, beide schwärmten sie für das inkommensurable Genie Shakespeares, beide glaubten sie an eine Art Oberwelt, die unsere Geschicke lenkt, bei Raimund waren es die Feen, bei Grillparzer die Götter, und beide liebten sie die österreichische Natur, von der sie ein Teil waren. Hier bei Raimund ging der Erhabene, auch über Freundschaft Erhabene, so weit, daß er etwas tat, was er, soweit wir seine Korrespondenz überschauen können, sonst nie getan hatte: daß er sich brieflich um einen Sitzplatz zur Erstaufführung eines Stücks von Raimund, augenscheinlich des »Verschwender«, bewarb. Um der Bühne ganz nahe zu sein, bittet er um einen Sperrsitz. Er würde ihn am Tage der Aufführung in der Theaterkanzlei abholen lassen, schrieb er, doch würde er: »… findet sich nichts für mich, es ganz natürlich finden und Sie darum nicht weniger von ganzem Herzen lieb haben.« Aber das war 1829 gewesen und sieben Jahre später erschoß sich Raimund, sechsunddreißig Jahre bevor Grillparzer, der ihn liebgehabt, starb. Wo waren die Freunde seiner Jugend? Der alte Herr fröstelte, wenn er zurückblickte.

Aber zum Glück gab es immer noch Frauen, die ihn liebhatten und mit denen ihn, den Frauenmann, freundschaftliches Empfinden bis zuletzt verband. Freundschaft zwischen Männern setzt Gleichartigkeit voraus, bei Frauen ist die Ungleichartigkeit eine angenehme Erleichterung. Einen Brief, wie ihn der Sechsundsiebzigjährige an Frau von Littrow-Bischoff schreibt, konnte ihm jetzt nur noch eine Frau ablocken, der er artig zu danken hatte. Sie hatte ihn, der »trübsinnig und einsam im Lehnstuhl saß und seinen armseligen Weihnachtsbaum in einem Gartengeschirr« verdrießlich anstarrte, mit einem Fasan erfreut und mit Teebrot, »wie es Goethe zu essen pflegte, der mitunter etwas Schlechtes schrieb, aber nie etwas Schlechtes aß …« In solch einer munteren Wendung haben wir eine Kostprobe von dem, was die Ebner-Eschenbach sein glänzendes Konversationstalent nannte; der alte Klassiker konnte auch recht vergnügt Rede stehen und Antwort geben, wenn es darauf ankam. Auch Laube hebt hervor, wie überraschend gut und in wie weiten Grenzen man ihn über alles unterrichtet fand, wenn man ihn in seiner Einsamkeit aufstörte. Aber in dem Brief, auf den die gute Frau von Littrow, Astronomin oder nicht, bis an ihr Lebensende stolz war, gibt er noch ganz andere nahrhafte Gedanken zum besten, mit denen ein Weihnachtsvogel reichlich aufgewogen ist. Über den Rand der Schüssel hinausblickend, auf der der Fasan bald genug zum Genuß einladen wird, spricht er mitfühlend von dem toten Flügelwesen, das, nachdem er aus seinem poetischen Waldleben durch Pulver und Blei in den prosaischen Tod versetzt worden ist, durch Kochen und Braten wieder in idealistischen Zustand versetzt werden kann; kein verächtliches Bild für unser Schicksal nach dem Tode. »Der Weise und der Fromme, hier werden sie eins.«

Einer seiner allerletzten Briefe ist der deutschen Kaiserin Auguste zugedacht, der »Tochter Weimars«, die trotz gleichzeitiger Gründung des Deutschen Reiches Zeit fand, etwas zu tun, was die Kaiserin von Österreich zu tun unterließ: ihm anläßlich seines achtzigsten Geburtstags huldvoll zuzuwinken. Um ihr nichts schuldig zu bleiben, nennt er sich dankbar einen »Bürger Weimars, des wahren Vaterlandes jedes gebildeten Deutschen«.

Aber seine letzten handschriftlichen Zeilen, von Baden bei Wien datiert, das den langjährigen Kurgast zum Ehrenbürger erhoben hat, sind an Kathi, das »Bürgerkind aus Wien«, gerichtet, man merkt es gleich am vertrauten Ton. Der gute Doktor Preyß, sein treuer ärztlicher Rat, hat ihm das Schwimmen im Doblhoffbad verboten, darüber war der alte Knabe wütend, der nicht umsonst der geistige Vater des strammen Meisterschwimmers Leander war. Auch mit dem Essen im Kurhaus ist der Ehrenbürger höchst unzufrieden, die Kathi wird dafür Verständnis haben: »Nichts wird gereicht als Suppe und ein halber gebratener Hund (wienerischer Küchenausdruck für Hackfleisch). Der Teufel hole das alles! – Ergebenst Grillparzer.« Der letzte seiner Liebesbriefe.

*

Nur eine der Damen Fröhlich war im Zimmer, als Grillparzer ein halbes Jahr später, am 21. Jänner 1872, eine fragwürdige Welt verließ. Kathi, die den Mann nicht sterben sehen wollte, für den sie gelebt hatte, zog sich leise zurück, und der Priester, um den die Damen die in ihre Schürze weinende Susanne geschickt hatten, kam etwas zu spät. Grillparzer starb als ein Liberaler, wie er gelebt hatte. Nur der Arzt saß in der Stube neben Anna auf dem Gästekanapee des Junggesellenzimmers, an ihn war sein letztes Wort gerichtet: »Mein lieber Preyß!« Goethe hatte »Mehr Licht!« gesagt. Goethes Abschiedswort ist kosmischer, mehr der Sonne zugewandt. Grillparzers letzter Augenaufschlag galt einem Menschen. Aber ist nicht auch der Mensch ein Kosmos, dessen Sonne die Güte ist?

Zwei Tage später waren die Wiener in ihrem Element: sie begruben einen Unsterblichen. Zwanzigtausend säumten den Straßenrand auf dem Weg zum Hietzinger Friedhof und senkten die Wimper und lüpften den Hut, während der große Einsame in die letzte Einsamkeit hinüberglitt. Es war wie bei Beethoven, als sie den Vergessenen in eine unvergeßbare Menschheitserinnerung verwandelten. Hunderte hatten in den dazwischenliegenden Tagen an seiner Bahre gestanden und hatten den Guadeloupe-Orden angestarrt und das Großkreuz des Franz-Joseph-Ordens, die so artig auf der silberbestickten schwarzen Decke lagen. Nicht alle wußten, aber alle fühlten, daß es der Dichter Österreichs war, dem sie nachblickten als etwas Unwiederbringlichem, aber auch Unverlierbarem. Denn das war er: ein österreichischer Mensch, geadelt von einem großen Dramatiker. In ihm mischten sich die gegensätzlichsten Eigenschaften wie in den Bewohnern dieses zwischen Schneegebirgen und Weingebieten sich wiegenden Landes. Nur der Kontrapunkt der Musik und des Dramas konnte zur höheren Einheit binden, was sich da zusammenfand; zügellose Phantasie und höchst besonnener Verstand; die natürliche Grausamkeit des Tragödiendichters und ein alles mitfühlendes Herz. Beamter und Künstler. Ein wilder Liebhaber, bewacht von einem zahmen Bürger. Ein abgezirkelt lebender Hofrat und ein leidenschaftlicher Reisender. Ein Herrenhausmitglied, das gegen das Konkordat stimmte, und ein Revolutionär, der ein Preislied auf Radetzky dichtete. Grillparzer, der Österreicher. Das war er, und daß er nicht nur ein Österreicher war, macht ihn zu einem vorbildlichen.

Denn ob er wollte oder nicht, er gehörte und gehört doch zum gemalten Mittagessen der deutschen Literaturgeschichte. »Der größte Dichter Deutschlands«, wie ihn der amerikanische Übersetzer seiner »Sappho«, Mr. Archer Gurney, zur »headline« verdichtet, seinem großen Lande vorstellte, war jedenfalls ein großer deutscher Dichter und ein begnadeter Theaterdichter, zu dem das Publikum der Schaubühne sich noch lange drängen wird, um zu beten und zu beichten. Das wußte Grillparzer; wußte es wie so manches, lange bevor es Deutschland wußte. Als ihn kurz vor seinem Tode eine begeisterte Verehrerin in einer Wiener Buchhandlung beweihräucherte, brachte er, was er darauf zu erwidern hatte, gelassen in unverwechselbar österreichischer Wortfolge mit zögernder Bestimmtheit zum Ausdruck: »Ja, ja, sie werden schon sehen, mit der Zeit, die Deutschen, daß sie seit Goethe und Schiller keinen Größeren gehabt haben als mich!« sagte er und verschwand.

Und blieb.


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