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»Studiere diesen Charakter!«
(Tagebuch)
Ein Jahr nach der Erstaufführung seines trochäisch rasselnden Gespensterstückes schreibt der erfolggekrönte, wenngleich armgebliebene junge Dichter seine gleichfalls trochäisch gestiefelten Verse »In das Stammbuch einer Neuvermählten«. Ein unbedeutendes kleines Gelegenheitsgedicht. Aber es machte Epoche in seinem Leben, was ihm freilich niemand ansah, auch nicht sein Verfasser. Kann sein, daß in diesen spielerischen elf Verszeilen die Tragödie seines Lebens – die Tragödie eines Tragöden – vordeutend enthalten ist.
Das nur scheinbar muntre Hochzeitscarmen ist rasch gelesen. Es lautet:
Amor würfelt' einst mit Hymen,
Und der kleine Gott der Liebe,
Schielend listig durch die Binde,
Wirft beständig hohe Zahlen:
Vier und Fünf und Fünf und Sechs,
Halb zuviel, halb nicht genug,
Niemals Paar, trotz List und Trug.
Da greift Hymen zu den Würfeln
Und wirft hoch nicht, aber gleich;
Eins und Eins. – Ein Jubelschrei!
Glück und Paar liegt in der Zwei.
In trockene Prosa aufgelöst, erzählt die zu einer weinfeuchten Munterkeit aufgekünstelte Schelmerei dieser Verse eine scheinbar gleichgültige Familiennachricht: Des jetzt siebenundzwanzigjährigen Grillparzer Vetter Ferdinand von Paumgartten hat ein im Grillparzerschen Lebenskreise seit geraumer Zeit heimisch gewordenes Mädchen heimgeführt, mit dem er jahrelang halb und halb verlobt war. Von ihrer Seite war es nur eine Konvenienzheirat.
Wer war dieser Vetter Ferdinand? Wer diese Charlotte, die er jetzt, keineswegs überraschend, zu der Seinen machte? Wir wissen wenig mehr von ihr, als daß sie schön, rabenhaarig und leidenschaftlich war. Und auch das wissen wir nur aus undenklich lang geheimgehaltenen Aufzeichnungen Grillparzers, der sie in seiner zur Veröffentlichung bestimmten Selbstbiographie nicht einmal erwähnt. Es gibt eine Art von Diskretion, die offenherziger ist, als die schlimmste Indiskretion sein könnte. Vielleicht trifft dies im gegebenen Falle zu. Vielleicht. Denn wir sind auf Vermutungen angewiesen. Aber doch auf ziemlich begründbare.
Wir haben die Jugendtagebücher, die in ihrer Unschuld noch nicht so diskret sind. Da heißt es, acht Jahre vor der besungenen Hochzeit, unterm 28. Juni 1810:
Heute brach Charlotte mit P. (Paumgartten). Ihr Betragen liefert ein abschreckendes Bild zum Gemälde des weiblichen Charakters. Nach allen Beweisen zärtlicher Zuneigung bricht sie, bricht um eines Nichts willen, und erträgt den Verlust eines Menschen, der ihr wirklich, wahrhaft gut war (wenn ich auch ihr Verhältnis nicht Liebe nennen will), mit einer Gleichgültigkeit, die mich empört; und doch ist sie keine von den Schlimmsten ihres Geschlechtes, ihr Herz ist gewiß gut, und gewiß wagt es keine ihrer Gespielinnen, ihr Bildung abzusprechen. Und unter diesen Geschöpfen suchst du das Ideal, das du dir in seligen Stunden schufst … In diesen von Gefallsucht und Eitelkeit geschwellten Busen willst du ein Herz suchen, aus der Mitte dieser schnatternden, gezierten, faden, ekelhaften Kreaturen soll das Wesen treten, das in jenen geweihten Stunden, in denen dein sehnendes Herz … sich aus zarten Wünschen eine Gestalt baute, in der du dein Glück, deine Seligkeit finden wolltest … Kurz, ich hasse dieses verächtliche Geschlecht … Ich habe lange gesucht unter euch, um eine zu finden, die meiner Achtung wert wäre, aber umsonst!
Es ist erstaunlich, daß dieses Tagebuchblatt, zu Papier gebracht um halb zwölf Uhr nachts, was es ausdrücklich verbrieft, den scharfsichtigen Bemühungen unserer Psychoanalytiker bisher entgangen ist. Den Literaturforschern ist es keineswegs entgangen. Aber eine gewisse, aus Ehrerbietung und pädagogischen Rücksichten gemischte Scheu hielt sie davon ab, naheliegende, das spätere Leben Grillparzers überschattende Schlüsse daraus zu ziehen.
Diese Schlüsse, die dem Verfasser auf der Hand zu liegen scheinen, sind, der Reihe nach aufgezählt, die folgenden. Erstens geht aus dieser Eintragung unzweideutig hervor, daß die damals noch ganz jugendliche Charlotte – auf ein frühes Mädchenalter deutet das Wort »Gespielinnen« – den Vetter Paumgartten schon damals nicht »eigentlich« geliebt hat; und nicht eigentlich heißt »nicht«, denn eine uneigentliche Liebe gibt es nicht, in diesem Punkt ist jedes Mißverständnis ausgeschlossen. Der zweite Schluß, der sich uns bei nachdenklicher Betrachtung des um Mitternacht schriftlich ausgestoßenen Entrüstungschreies aufdrängt, ist, daß der damals neunzehnjährige Grillparzer das Mädchen noch nicht geliebt hat. Es war also nicht wie bei jener etwa gleichzeitigen Antonie, oder Antoinette, deren Bräutigam er knabenhaft spielerisch hintergangen hat, zu spät erkennend, daß es ihrerseits nur ein verwegenes Spiel war. Diesmal ist der junge Idealist der Liebe, der Grillparzer war und blieb, ehrlich entrüstet, nicht für sich, sondern für den Freund und Vetter, den er betrogen glaubt. Der dritte Schluß, dessen Schlüssigkeit sich allerdings nur psychologisch im Zusammenhang mit einer späteren Entwicklung der Beziehung wird beweisen lassen, ist, daß Charlotte schon damals von den beiden Vettern Franz und Ferdinand den anderen, nämlich Franz, den um drei Jahre jüngeren, geliebt hat, planmäßig geliebt hat. Ihr Plan, der ihr in keiner Weise Unehre macht, bestand darin, daß sie ihn heiraten wollte. Darum brach sie mit dem zweiundzwanzigjährigen Ferdinand, der bereits Polizeikommissar war, und wartete jahrelang, volle acht Jahre lang, bevor sie sich erbitten ließ, Frau von Paumgartten zu werden. Es war kein leichter Entschluß, sonst hätte sie sich nicht so lange Zeit gelassen und nicht noch ein volles Jahr über die Erstaufführung der »Ahnfrau«, die den Vetter Franz berühmt machte, ihr Jawort hinausgezögert. Es war, als hätte sie sich und ihm noch eine letzte Frist gegeben. Aber es war wieder vergeblich, da bei all dem Ruhm schließlich doch nur vierhundert Gulden in Silber herauskamen; ganz abgesehen davon, daß der Vetter Franz sich kaum entschlossen haben würde, dem leiblichen Vetter die zögernde Braut wegzufischen. Daß er später in Gefahr geriet, dem Vetter die Frau wegzunehmen, lag damals noch auf den »Knien der Götter«, wie man in jenem klassisch gebildeten Zeitalter gerne sagte. Die Beteiligten wußten es nicht und selbst Charlotte ahnte es kaum, als sie ihren Namen ins Standesregister neben demjenigen des zähen und erfolgreichen Herrn von Paumgartten eintragen ließ. Sie hat den Herrn von Paumgartten, jetzt bereits Geheimer Kabinettssekretär im Obersthofmeisteramt der Kaiserin, nicht so sehr geheiratet, als sie ihn doch geheiratet hat. Dieses »doch« ist nicht nur die Wurzel einer Tragödie, sondern einer ganzen Reihe von Tragödien, die Grillparzer im Laufe eines langen und im eigentlichen Literaturbereiche epochalen Lebens geschrieben hat; dieses »doch« macht ihn, wie wir weiterschreitend für das erkennende Auge klarzumachen hoffen, zu dem großen, noch klassischen, aber auch schon modernen Dramatiker des ehelichen Verhältnisses. Es sind die Junggesellen unter den Dichtern, die das meiste von der Ehe wissen. Die Verheirateten sind bestochen; oder gelähmt.
*
Eine Eheirrung psychologisch zu begründen – und nur um eine solche Begründung kann es sich hier handeln – muß man hinter die Hochzeit zurückgehen. Ist doch die Ehe nichts anderes als die Dramatisierung einer Charakterkonstellation, die sich bei etwas längerer Dauer meist schon im Szenarium des Brautstandes deutlich zu erkennen gibt.
Grillparzers sich entfaltendes Charakterbild kennen wir bereits, wenn wir es auch noch nicht ganz überschauen. Auch von Charlotte können wir uns immerhin einen Begriff machen auf Grund jener aufgeregten Tagebuchnotiz, die nicht nur das Wesen des Mädchens, sondern auch das desjenigen, der über sie urteilt, mit unbedingter Wahrheitsliebe wiedergibt. Sie ist leidenschaftlich und handelt unüberlegt sogar dort, wo ihr eigener Vorteil auf dem Spiele steht; sie ist anderseits gefallsüchtig – der Dichter sagt es und der Dichter weiß es – aber sie ist auch, der betonte Respekt ihrer »Gespielinnen« beweist es, gebildet, geistig, nicht nur erotisch anziehend. Wie Grillparzer über ihren Busen dachte, wissen wir nicht. Aber sicher ist, daß sie keine Antonie war.
Aber der Mann, dieser Herr von Paumgartten, in dessen Armen sie Trost, Halt und Vergessen suchte, als sein berühmter Vetter nicht wußte, oder nicht wissen wollte, wie es um sie stand – wie war er? Was war er?
Er war, und das ist nicht unwichtig, der Sohn von Grillparzers Tante Eleonore, in deren Wohnung im Schottenhof die Familie des Dichters der »Ahnfrau« nach diesem ersten dramatischen Erfolg ihres ältesten Sprößlings Aufnahme gefunden hatte. Ferdinand hatte in eben dem Zimmer ober der Backstube jahrelang geschlafen, worin es Franz wegen der schwülen Hitze nicht aushielt, was für den einen ebenso bezeichnend ist wie für den anderen. Auch sonst mochte Tante Eleonore der Familie ihrer Schwester manchen Dienst erwiesen haben. Sie war die Frau eines »Hofrichters«, was noch mehr war nach damaligen höfischen Begriffen als die Frau eines Advokaten, und dem Hofe zugewandt war auch die Laufbahn ihres Sohnes. Daß er mit Zweiundzwanzig bereits Polizeikommissar war, läßt auf eine verläßlich reaktionäre Gesinnung schließen. Sein hohes Vorbild auf der Amtsleiter war der berüchtigte Polizeidirektor Sedlnitzky, dessen Gönnerschaft eine weitläufige Charakteristik ersetzt. Sedlnitzky verschaffte ihm auch die Anstellung im Obersthofmeisteramt, die seiner zähen Werbung um Charlotte den entscheidenden Nachdruck lieh. Zehn Jahre nach der Hochzeit, als Charlotte bereits tot war, schreibt er einmal an Grillparzer, wie sehr er darunter leide, daß das wahre Wesen Sedlnitzkys freudig anzuerkennen so wenige sich entschließen könnten. Zu denen, die es nicht konnten, gehörte auch Grillparzer.
Er war um drei Jahre jünger als Paumgartten, mit dem er seit seinen Kinderjahren in ständiger Verbindung war; in Brunn am Gebirge, einem Wiener Vorort, hatten die Paumgarttens gemeinsam mit den Grillparzers und der Mutter Sonnleithner ein Landhaus besessen, wo man einige Kindheitssommer verbracht hatte. Nachher, in ihren Jünglingsjahren, trafen die Vettern im Elternhause Muckerl Wohlgemuths zusammen, wo auch Charlotte bereits ins Bild tritt. Die jungen Leute gründeten eine Art Akademie – Gesellschaft zur gegenseitigen Bildung nannte sie sich im Geist der Epoche – und hielten an einem bestimmten Tag der Woche Vorträge, um sich wechselseitig geistig zu erquicken.
Als einen »jungen Mann von den besten Aspekten«, wie man damals sagte, charakterisiert den jungen Herrn von Paumgartten auch schon sein ererbter Name, den kein noch so geschickter Dramatiker für Charakterisierungszwecke passender hätte erfinden können. Richtig geschrieben, müßte er Baumgarten lauten, was allenfalls auf eine patrizische Abkunft schließen ließe. Aber die Familie hält an den beiden orthographischen Fehlern, dem harten P und noch härteren doppelten tt, die sich seit Jahrhunderten fortgeerbt haben mögen, mit einem Eigensinn fest, der über das Patrizische hinaus ans Hochadelige grenzt. Jeder Snob weiß, was für ein Qualitätsunterschied beispielsweise zwischen einem richtig geschriebenen Freiherrn von Berg und einem falsch geschriebenen Fürsten Perg besteht, obwohl es augenscheinlich dasselbe Wort ist, das auf ererbten Landbesitz zurückdeutet. So wie Ferdinand Ritter von Paumgartten seinen ritterlichen Namen schrieb und unterschrieb, hat er etwas wienerisch Patziges, man möchte fast sagen: Vernageltes, das einen ungewöhnlichen Hochmut und ein nicht alltägliches Selbstgefühl voraussetzt. Dazu paßt auch Grillparzers eigenes, sichtlich etwas gehemmtes Urteil in seinen Tagebüchern. Da spricht er etwa von des Vetters »Herrschsucht« oder seiner »Prahlsucht«. Ein anderesmal und zu einer Zeit, als Charlotte noch völlig außer Betracht blieb, notiert er: »Über Paumgartten fühle ich mich erhaben.« Hierin liegt ein Urteil, und eines, auf das wir bauen können wie auf Grillparzers unbedingte, durch nichts zu erschütternde, durch nichts abzulenkende Wahrheitsliebe. Der Mann, der dreißig Jahre später die Komödie »Weh dem, der lügt« schrieb, konnte, wenn er eine Feder in die Hand nahm, einfach nicht lügen. Wofür von seinen Werken abgesehen unter anderm auch seine emsige Tagebuchschreiberei spricht. Verlogene Menschen führen selten ein Tagebuch, und sie wissen warum. Sie brauchen sich mit ihrem Gewissen nicht auseinanderzusetzen, da sie keines haben.
Grillparzer, der mütterlicherseits der reichverzweigten Familie Sonnleithner entstammte, hatte noch einen anderen Vetter von einer anderen Tante. Das war der Freiherr von Rizy, der ihn liebevoll und treu durch ein ganzes Leben begleitete und sich noch nach dem Tode Grillparzers um dessen schriftlichen Nachlaß hochverdient machte. Auch er ist ein unverdächtiger Zeuge.
Dieser Freiherr von Rizy nun äußert sich als uralter Mann über jene Hochzeit und alles, was sie zur Folge hatte, als gewissenhafter Familienchronist mit den Worten: »Damals« – nämlich 1818, als Grillparzer das neckische Gedicht schrieb – »ahnte er wohl nicht, daß das jugendliche Wesen, welches nunmehr in den Kreis seiner nächsten Freunde eintrat, dazu bestimmt sein sollte, einen entscheidenden Einfluß auf sein Leben zu nehmen. Allein die Bewunderung, welche die enthusiastische Frau den Werken des Dichters zuwendete, lenkte unwillkürlich seine Aufmerksamkeit auf sie; und das Interesse, das er einer so warmen und liebenswerten Verehrerin seiner Poesien zuzuwenden nicht umhin konnte, ging nur allzubald in eine zur Leidenschaft sich steigernde Neigung über, die sein ohnehin überreiztes Gemüt durch mehrere Jahre den heftigsten Aufregungen preisgab.«
Nun, das sagt alles, und was es allenfalls unausgesprochen läßt, das sagt uns der Dichter selbst, wenn er in einem weniger verklausulierten Stil ungefähr zwei Jahre später seinem Gewissensspiegel anvertraut, daß am Tage der Eintragung seine Beziehung zu Charlotte aufgehört hatte, eine platonische zu sein. Der in seiner rücksichtslosen Wahrheitsliebe manchmal erschreckende Laube erwähnt die Notiz, die er vor Augen gehabt haben muß. In der gedruckten Ausgabe der Tagebücher fehlt sie.
Was war bis dahin zwischen den beiden vorgegangen? Auch das wissen wir oder können es erschließen.
Zunächst war gar nichts. Die Hochzeit hatte Mitte Jänner stattgefunden und drei Monate später wurde »Sappho« am Burgtheater zum erstenmal aufgeführt, mit ebenso großem wie nachhaltigem Erfolg. Mit allem, was er nach sich zog – unter anderem Grillparzers sofortige Anstellung als Theaterdichter, die er seinem Gönner und Vorgesetzten im Finanzamt, Grafen Stadion, zu danken hatte – vergeht der Frühling und Frühsommer des Jahres. Ende Juni finden wir den jetzt berühmten und von seiner Berühmtheit etwas erschöpften Dichter in einer Kuranstalt in dem lieblichen Baden wieder, das damals noch die Sommerfrische des Hofes war. Auf das Freiwerden seines Zimmers wartend, blättert er ein mythologisches Lexikon auf und liest darin, ein gieriger Leser, wie er immer war, den Artikel über »Medea«. Wieder, wie im Falle »Ahnfrau«, wie im Falle »Sappho«, worüber einiges noch zu sagen sein wird, entzünden sich im Nu die Brandfackeln seiner Phantasie: der Grundeinfall seiner »Medea«-Trilogie flammt in ihm auf und wird jahrelang weiterflammen. Aber zunächst verschweigt er sich und anderen den Brand und geht – nach Gastein, um den Brand zu kühlen. Dann kommt der Herbst und er schreitet an die Ausarbeitung seiner »Medea«-Trilogie, die erst im Jänner 1819 ins Stocken gerät. Mittlerweile hat Charlotte ihr erstes Kind bekommen. Sie hat fünf Kinder gehabt, und da sie bereits im Jahre 1827 starb, hat sie zweifellos sehr früh angefangen, den Stammbaum des Hauses Paumgartten fortzusetzen. Immerhin dürfte Grillparzer schon in diesem Warte- und Erwartungsjahr aufgegangen sein, daß die dunkelhaarige, feurige, gewitterige Charlotte wie eine tragische Muse, wie Medea aussieht. Ein Gedicht »Die tragische Muse«, das, im Spätherbst 1819 entstanden, zweifellos ihr gewidmet ist, schließt mit den Zeilen:
Vollendet sei, was begonnen!
Winke nicht mehr, du hast mich gewonnen!
Geh voran! Ich folge dir!
Die Wahrheitsliebe des Dichters ist erschreckend; denn es geht aus diesen freien Rhythmen, die den gebundenen Trochäus abgelöst haben, unzweideutig hervor, daß die junge Frau des Vetters »begonnen«, daß sie »gewinkt« hat, und daß sie, was noch schlimmer ist, »vorangegangen« ist. Aber auch den Weg, den Charlotte eingeschlagen hat, um zu ihrem Dichter zu gelangen, ihr allertiefstes Frauengeheimnis, verrät uns dieses aufschlußreiche Gedicht, dem ein Jahr später ein ebenso aufschlußreiches folgen wird. Es ist der Weg der dämonischen Medea, der von der Liebe ihres Gatten enttäuschten Frau, die ihre Kinder mordet. Grillparzer hat ihr seinen Plan anvertraut, sie hat leidenschaftlich, wie es ihrer Natur entsprach, darauf gedrängt, daß er ihn vollende, sich zu seiner »tragischen Muse« aufwerfend. So sind sie nach seiner Rückkehr von Italien im Spätsommer 1819 ins Gespräch gekommen, ins Liebesgespräch. Sich mit dem Gegenstand seiner dichterischen Träume unlöslich verbindend, brachte es die Frau zuwege, daß er sich in sie verliebte, weil er in Medea verliebt war, sie zu seiner tragischen Muse ernannte und, ihr folgend, den Weg, den sie vorausgesehen haben mochte, mit männlicher Entschlossenheit bewußt zu Ende ging. Sie hatte ihn jetzt ganz, ihren geliebten Dichter, denn er liebte sie, von ihrer Glut entflammt, als Frau, aber zugleich als Stoff. Eine gefährliche Liebschaft.
Über diese ihre bedenkliche Doppelfunktion in seinem Leben, Stoff und Frau zugleich zu sein, gibt eine wieder andere Tagebuchnotiz des Dichters Aufschluß. Sie verewigt den Eindruck eines Besuches, den er, ganz und gar in Medeens Schicksal verstrickt, bei seiner tragischen Muse machte und der sich trotz einer eigenartigen Gewitterstimmung, die Charlotte umströmte, oder vielleicht sogar gerade dieser Stimmung wegen so tief in den Abend ausdehnte, daß schließlich eine Lampe zwischen ihnen in dem nachtdunklen Gemach brannte. Als er sich am Ende doch zu gehen entschloß und sie ihn mit der Lampe in der Hand zur Tür begleitete, schwebte der zwischen ihnen den ganzen Abend schon fällige Kuß in der Luft, dem die schöne Frau mit einer unvergeßlichen Wendung zuvorkam. Sie setzte die Lampe auf den Boden: »Ich muß dich küssen« und umfing ihn mit der Glut verzehrender Leidenschaft. – »Die Lampe soll's nicht sehen«, sagt ein Jahrzehnt später Hero am Ende jenes dritten Aktes, in dem sich Liebe und Schicksal entscheiden. Grillparzer, der nach zehn Jahren den zartesten und poetischesten Ausdruck für den Inhalt dieses Augenblickes gefunden hat, schrieb sich am gleichen Abend noch das Erlebnis auf, um den Duft der Stunde zu bewahren. Aber sogleich regt sich der Seelenforscher in ihm und der, wenn man so sagen darf, dichterische Ökonom, der genau weiß, was ein solcher erlebter Zug in einer Dichtung wert ist, und wie um sich selbst als Künstler zurechtzuweisen, fügt er kaltherzig hinzu: »Studiere diesen Charakter!« Damit wird Charlotte Stoff und er selbst wird, was zu sein er immer wieder, in Vers und Prosa, als sein Schicksal beklagt: »Zugleich Zuseher und Schauspieler!« »Aber«, fährt er fort: »… der Zuseher konnte nicht Plan und Stoff des Stückes ändern, noch das Stück den Zuseher zum Mitspieler machen.« Auch hier wieder das kalte Meisterwort: Stoff. Es ist ein lebensgefährliches Wort im Leben einer liebenden Frau, denn die Stoffe wechseln.
Das hatte sich allerdings schon von allem Anfang an angekündigt. Bereits die allererste Tagebucheintragung, in der von Charlotte die Rede war, hatte den heranwachsenden Jüngling zu einer ausführlichen und noch dazu sehr harten Zergliederung ihrer Charaktereigenschaften veranlaßt. Und ein volles Jahr vor der verhängnisvoll aufrichtigen Tagebuchnotiz und ebensolang vor der in freien Rhythmen abgefaßten »Tragischen Muse« hatte Grillparzer ein anderes höchst biographisches Gedicht geschrieben, »Der Bann«, in streng gebundener Form: Vierzeilige Strophen, doppelt gereimt. Eine davon lautet:
Die
dich liebt, flieh! Die du begehret,
Sie schaudere zurück vor dir!
Und sagt sie ja, hat sie gewähret,
So töt' ihr Ja dir die Begier.
Das ist deutlich, und so ist alles in dem herrlich beredten Gedicht, das, datiert wie es ist, ein Tagebuchblatt ersetzt. Es schlägt, wie ein Beethovensches Klavierstück, ein hoch aufrauschendes Grundmotiv an, das es in einem majestätischen Rhythmus abwandelt: den Gegensatz zwischen Leben und Kunst. Grillparzer, der auch als Lyriker immer der Dramatiker bleibt, der er ist, stellt Leben und Kunst in einer dantesken Allegorie einander gegenüber. Beide verkörpern sich ihm, dem Frauensüchtigen, in Frauengestalt, aber nur die eine, das Leben, spricht, während die andere, die Kunst, als eine stille Siegerin – schon ist sie's – sich, wie in solchem Fall gewöhnlich, in ein tiefes Schweigen hüllt. Das betrogene Leben aber schleudert seinen »Bann«, der eigentlich ein Fluch ist, gegen den abtrünnigen Dichter:
…
Von Wunsch zu Wunsch in ew'ger Kette
Und rastlos, wie du bist, so bleib!
Dir sei kein Haus und keine Stätte,
Kein Freund, kein Bruder und kein Weib!
Ein Büttel aber beigegeben,
Um dich, in dir, laß er dich nie,
Er hetze rastlos dich durchs Leben,
Der wilde Dämon Phantasie!
Er heiße dich nach allem fassen,
Was irdisch schön, mit raschem Geiz!
Doch hältst du's, müssest du es lassen,
Und Mängel sieh in jedem Reiz!
Dieser Abschied, damals schon beschlossen aber nicht vermocht, wurde nun zur Tatsache. Ein Gedicht an das erste Kind der geliebten Frau, ein Gelegenheitsgedicht, höchst unpersönlich, wie irgendein anderes zu solchen Veranlassungen, besiegelte ihn. Charlotte nahm ihn hin, wie sie ihn hinnehmen mußte. Die Ehe mit Paumgartten setzte sich geräuschlos fort. Fünf Kinder in sieben Jahren.
Kurz nachdem er sich mit seinem Gewissen wieder in Einklang gesetzt hat – um den Preis einer lebenslang weiter zu tragenden Schuld, wie er sehr wohl weiß – legt er die gleichfalls zum Abschluß gebrachte »Medea«-Trilogie in einem sehr selbstbewußten Brief der Hofburgtheaterdirektion vor. Das war im Jahre 1820. Bald darauf macht er die nähere Bekanntschaft der bezaubernd schönen Kathi Fröhlich, die Grillparzers ewige Braut, aber nie seine Frau werden sollte – aus Gründen, die im »Bann« vorweggenommen sind. Zur selben Zeit vermacht ihm ein anderes schönes Mädchen, Marie Piquot, Tochter eines Gesandten, sterbend ihr Bild, »wenn er darum bitten sollte«. Ein Jahr später sieht er sich in ein schon wieder anderes Romangespinst verwickelt mit einer schon wieder anderen Marie, Maria Katharina Smolk von Smolenitz, die ein paar Jahre später die berühmt schöne Frau des berühmten Wiener Malers Daffinger werden wird, und deren Schönheit in den von ihrem Gatten gemalten Bildnissen lieblich weiterlebt. Man hat beim Anblick dieses Frauenreigens, der seinen dreißigsten Geburtstag und die nachfolgenden Jahre umschwebt, den etwas schwindelerregenden Eindruck, daß der in seinem Tagebuch und erst recht in seinen Tragödien rastlos jammernde und unnachsichtig richtende Dichter im Leben eine Art Don Juan war. Und das war er denn auch, wenngleich ein Don Juan mit bemerkenswerten literarischen Hemmungen.
Um aber, treuer als der Dichter selbst es war, zu Charlotte, der femme fatale in seinem Leben, zurückzukehren, so ist es bezeichnend für diese Beziehung, von der erst jetzt die Schleier fallen, daß Grillparzers rastlose Tagebuchschreiberei in den Jahren von 1819 bis 1821 fast ausschließlich literarischen Überlegungen gehört und persönliche Aufzeichnungen nur sehr sparsam mitlaufen. Auch im Tagebuch der anschließenden Jahre durchzucken nur sehr seltene Blitze das Dunkel um »Medea«. Aktenmäßig geredet sind es vor allem zwei Dokumente, die hier aufklärend, wenn anders es noch einer Aufklärung bedarf, in Betracht kommen.
Das eine ist ein Widmungsblatt: »An Desdemona.« Grillparzer bedient sich in seinen persönlichen Aufzeichnungen merkwürdiger Decknamen, die oft verräterischer sind als die richtigen Namen sein könnten. Kathi wird »Lucie« genannt – nach Goethes »Stella«, der Tragödie des Mannes zwischen zwei Frauen –; eine vorübergehende Anna Kurzrock scheint als »Jessika« im Tagebuch auf; eine andere, von der wir nicht einmal wissen, daß sie vorübergehend war, heißt ihm »Monimia«, nach einem Drama des Engländers Otway, und Charlotte wird in eine »Desdemona« umgetauft. Was hat das zu bedeuten, dieses Maskenspiel der Namen? Handelt es sich um eine dichterische Marotte, die aus Frauen Lesezeichen macht? Oder steckt mehr dahinter?
Im Falle Desdemona steckt sichtlich mehr dahinter und man braucht nicht erst ein geschulter Psychoanalytiker zu sein, um herauszufinden, was es ist. Desdemona ist ein Anagramm der Eifersucht. Aber wer ist eifersüchtig und auf wen? Sicher war es Charlotte, vielleicht schon als ganz junges Mädchen auf die Theresen und Antonien im Hause Wohlgemut, und ganz gewiß zehn Jahre später, als alles aus war zwischen ihr und Grillparzer, auf ihre Nachfolgerinnen, die reizende Kathi Fröhlich und die gewissenlos schöne Marie Daffinger. Aber es könnte eine noch andere, noch verschwiegenere Eifersucht sein, die ihm den Namen Desdemona eingibt, seine eigene nämlich, die Eifersucht auf den begünstigten Gatten der Geliebten, mit dem sie vier bis fünf Kinder hat. Nur eins kann es bestimmt nicht sein: die Eifersucht des Herrn von Paumgartten auf Grillparzer. Dies aus einem sehr einfachen Grunde. Herr von Paumgartten, Kabinettssekretär der Kaiserin von Österreich, war viel zu selbstbewußt, um eifersüchtig zu sein. Man muß also, um das Anagramm »Desdemona« aufzulösen, die Tragödie Charlottens, dort wo sie an die Komödie grenzt, gleichsam in Spiegelschrift lesen: Nicht Othello ist eifersüchtig, sondern der Cassio ist es auf den Othello.
Wie immer sich dies in der Psychoanalyse darstellen mag, im Leben ging die liebliche Desdemona an dem Konflikt unheilbar zugrunde. Im Jahre 1827 stirbt sie nach der Geburt ihres fünften Kindes am Kindbettfieber. Grillparzer ist jetzt sechsunddreißig Jahre alt, und die kinderreiche Frau, die spät geheiratet hat, kaum jünger. Seit sechs Jahren sind sie einander in zunehmendem Maße entfremdet, aber jetzt, am Tage vor ihrem Ableben, besucht er Medea noch einmal und erinnert sich, an ihrem Sterbebette sitzend, flüchtig daran, daß er sie in früheren Jahren Desdemona genannt hat. Das angefangene, dann fallengelassene Widmungsblatt bezeugt dies noch heute. »Du, von der eine gebieterische Notwendigkeit mich trennt, deren Wert ich aber erkenne und erkennen werde, solange noch ein Herz in meiner Brust ist und Denkkraft in meinem Gehirn« hebt es an: »Dir seien diese Blätter (die ihr zugedachte Buchausgabe der »Medea«) heilig, denn dir müssen sie auch wert sein vor allen. Erstlich weil sie der schrieb, der dich hochschätzt und liebt bis in den Tod. Zweitens weil du an seinem Werk selbst Anteil hast durch den Anteil, den du an dem Verfasser nahmst …« und so weiter. Der Rest der beiseite gelegten Widmung ist Literatur, aber der Tod ist nicht Literatur, sondern eine erschreckende Realität, vor der alle Literatur verblaßt. Der Dichter weiß das und die Frau, die ihn besser verstanden haben mag als irgendeine andere Frau in seinem langen Leben, weiß es gleichfalls. Einen Augenblick des Alleinseins benutzend, spricht sie das Schlußwort der Tragödie: »Ich möchte lieber nicht leben als der Verursacher eines solchen Zustandes sein!« Ein schreckliches Wort; ein Medeen-Wort. Aber der Dichter weiß ein noch entsetzlicheres. »Mich griff das Ganze nicht sonderlich an«, setzt er ins Tagebuch. Er versichert es sich, aber es gelingt ihm nicht, sich selbst davon zu überzeugen, wie die nachfolgenden Selbstanklagen beweisen. Freilich, den er anklagt, ist nicht der Mann, sondern der Dichter: »Für mich gab es nie eine andere Wahrheit als die Dichtkunst« und: »Mein ganzer Anteil blieb immer der Poesie vorbehalten.« Die Menschen waren ihm nur »Figuren einer Komödie«; auch Charlotte war es. Mit marmorner Ruhe, marmorner Kälte schreibt er ihr die Grabschrift – auf Wunsch des Gatten vermutlich, wozu hat man einen Dichter in der Familie? –, die mit unbewegter Miene, wenn auch sicher nicht unbewegten Herzens, die Worte lapidar aneinanderreiht: »Charlotte von Paumgartten, geborene Jetzer, Mutter von fünf Kindern, deren erstes ihr im Tode voranging, das letzte hier mit ihr in einem Grabe ruht.« Und das ist alles. – Es ist nicht alles.
*
Man mag an Jonathan Swifts Stella und Vanessa, an Strindbergs »Rotes Zimmer« selbstquälerischer Grausamkeit, an Oscar Wildes säkularen Vers »Ein jeder tötet, was er liebt« denken, der das geliebte Zeitalter eines unsozialen Ästhetizismus zum Tode verurteilt; die Wahrheit, die Grillparzer heilig war, bleibt bestehen, daß die unglückliche Charlotte seine gottgewollte Gefährtin war. Worüber er einmal in Beethovens »Konversationsheften« klagt, daß: »Die Geister unter den Weibern keine Leiber und die Leiber keine Geister haben«, galt in diesem Falle, und wie es scheint, nur in diesem Falle nicht; Charlotte hatte beides und somit alles, was er brauchte. Sie liebte den Mann und den Dichter; sie war Weib und Stoff; Brennmaterial für die Fackeln seiner Phantasie und die Flamme, die sie entzündet. Wenn er sie trotzdem nicht zu seiner Frau machte, so waren zwei Gründe dafür maßgebend, die den in seine Einsamkeit verliebten »Geistes- und Gemütsegoisten«, wie er sich einmal nennt, weitgehend entsühnen. In jenen Jahren vor der Hochzeit, als noch Amor und Hymen um ihr Schicksal würfelten, war er zu arm, die Hand nach ihr auszustrecken. Später lebte sie in einer katholischen Ehe, die gemäß dem klerikalen österreichischen Eherecht untrennbar war. War dies der Grund für sein abweisendes Verhalten? Es ist nicht ausgeschlossen. Viele Jahre, nachdem er die letzte Strophe seines Gedichts »Der Bann« geschrieben hatte:
Seitdem irr' ich verbannt, alleine,
Betrüge andre so wie mich:
Du aber, armes Weib, beweine
Den du verloren, ewiglich!
tut er die höchst merkwürdige, ja erschreckende Äußerung in seinem Tagebuch, an allem Unglück in Österreich sei der Katholizismus schuld! Er meint natürlich den Klerikalismus; nicht die Religion, zu der er sich bekennt, sondern die Priesterherrschaft, die er ablehnt. Die in Österreich genau ein Jahrhundert später eingeführte Dispensehe hätte ihn retten können.
Der Rückständigkeit des österreichischen Eherechts entspricht auf der anderen Seite die säkulare Heuchelei bei Beurteilung der schicksalhaften Liebesbeziehung, die Franz Grillparzer unanzweifelbar mit der Frau seines Vetters verband. Noch in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts, in einer Festschrift zu Ehren des großen Grillparzer-Forschers Professor Sauer, stellt der Literarhistoriker Reinhold Backmann in einer Fußnote autoritär fest: »Es war sicherlich ein Verhältnis von größter Vertraulichkeit und Innigkeit, das aber doch in den gehörigen Grenzen blieb.« Ein würdiges Gegenstück zu jener anderen historisch gewordenen Fußnote eines deutschen Literaturprofessors, der die Äußerung Goethes, daß er unter allen Frauen Lili am meisten geliebt habe, mit der schulmeisterlichen Anmerkung »Hier irrte Goethe!« versah. Der Wiener Volksmund, der manchmal ein Salonmund ist, sprach sich über die Angelegenheit ungleich freimütiger aus, wenn auch nur, wie es seine Art ist, in Form eines Witzes. Als Herr von Paumgartten genau ein Jahr nach dem Tode Charlottens zum zweitenmal heiratete, soll, so ging die Sage im Biedermeier-Wien, der hochgestellte Herr, damals bereits Kanzleidirektor im Oberstkämmereramt, seinem von jeher begünstigten Vetter Grillparzer von diesem freudigen Ereignis mit den Worten Mitteilung gemacht haben: »Wir haben wieder eine Frau genommen!« Das ihn charakterisierende Wir paßt trefflich zu dem doppelten tt des Mannes.
Wenn irgendein vernünftiger Zweifel, hinter den offizielle Wahrheitsscheu sich flüchten könnte, in diesem Punkte noch bestünde, so müßte ihn eine andere, aus diesen bewegten Jugendjahren stammende Tagebuchnotiz widerlegen, in der der hypochondrische Dichter seine »Liebesunfähigkeit«, das heißt, die Unfähigkeit, sich in der Liebe aufzugeben, selbstquälerisch analysiert und den traurigen Tatbestand, wie er ihn sieht, mit dem Satze krönt: »Ich habe auf diese Weise das Unglück von drei Frauenzimmern gemacht. Zwei davon sind bereits tot.« Die Überlebende, das wissen wir, war Kathi Fröhlich. Die beiden anderen waren Marie Piquot, das schwindsüchtige Mädchen, das unglücklich in ihn verliebt war, und Charlotte Paumgartten, die er in seiner Schreibtischlade mit den Worten begräbt: »Hätte ich je ahnen können, daß diese scheinbar äußerliche, ja kokette Natur zugleich so stark, von so innerer Ausdauer wäre, manches wäre nicht geschehen … Aber weiß Gott, ich hatte keine Vorstellung davon, daß diese Leidenschaft so tiefe Wurzeln geschlagen hätte.«
So wäre also Charlotte unbeschadet der ärztlichen Diagnose an dem in den Romanen jener Zeit so beliebten, wenngleich medizinisch schwer nachweisbaren »gebrochenen Herzen« gestorben? Fünf Jahre nach dem erfolgten Bruch gestorben? Es ist nicht gänzlich ausgeschlossen, zumal da die »tiefwurzelnde Leidenschaft« ihrer nur äußerlich koketten Natur gerade in jenen letzten Wochen vor ihrem anklägerischen Ende aus der Eifersucht neue, sie zerstörende Kräfte sog. Daß ihr Herzensfreund die ihn beklemmende Beziehung zu der Frau des Vetters aufgeben mußte, mochte sie begreiflich finden, ja sogar achtenswert. Auch wenn er die kleine, feueräugige Kathi Fröhlich mit den vielen Schwestern geheiratet hätte, würde einem gewissen Verständnis ihrerseits begegnet sein. Was sie als Frau weder verstehen noch entschuldigen konnte war, daß er weder dieses unberührte Mädchen noch sie berührte, wohl aber der nichts als unerlaubt schönen Marie Smolk, die bald Daffinger heißen würde, nachlief, ja, daß er – darüber kommt keine Frau hinweg – sogar mit ihr glücklich war. Warum sie und nicht ich? Warum ist er nur bei mir jetzt so moralisch? Eine messerscharfe Frage, die eine nach innen gewandte Medea wohl vernichten kann.
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Die Frage heischt Antwort, warum gerade bei Betrachtung dieses Abschnittes im Leben Grillparzers die zünftige Literaturgeschichtsschreibung so scheinheilig verlogen zu Werke ging und die Wahrheit die längste Zeit nicht wahrhaben wollte? Es war das Zeitalter bürgerlich anfechtbarer und darum romantisch genannter Liebesbeziehungen. In England wurde Lord Byron nicht ohne Grund verdächtigt, zu seiner Halbschwester in einem mehr als brüderlichen Verhältnis zu stehen. In Frankreich geht die schöne Gräfin d'Agoult mit Liszt durch, lebt sieben Jahre, ohne geschieden zu sein, als seine Frau mit ihm, hat drei Kinder von ihm, und kehrt schließlich als Gräfin d'Agoult nach Paris zurück. Ungefähr zur gleichen Zeit begibt sich die berühmte Schriftstellerin George Sand erst mit Musset, dann mit Chopin auf eine Liebesreise, und der verheiratete Victor Hugo richtet der Schauspielerin Juliette Drouet eine kleine Wohnung im Herzen von Paris ein, die er allein betreten darf. Alle diese Fälle und so viele andere verzeichnet die Kunstgeschichte, ohne mit der Wimper zu zucken. Nur im Falle Grillparzer zuckt sie die längste Zeit und drückt sich um eine mit seinem Schaffen unlöslich verbundene Lebenstatsache scheu herum. Warum? Es muß einen Grund haben.
Der Grund ist, daß Grillparzer ein Klassiker ist, was ihm, in diesem Zusammenhang, der deutsche Literaturprofessor freigebig zugesteht, obwohl er seine Klassikerwürde sonst nicht allzu gerne gelten läßt; und ein Klassiker darf manches nicht, was einem Romantiker erlaubt ist. Bei diesem sieht man durch die Finger, während man bei einem »ganz Großen«, wie der immer auf Rangordnung bedachte deutsche Professor gerne sagt, sich die Hand geschlossen vor die Augen hält. Aber Grillparzer war eben nicht nur ein Klassiker, der die sechs deutschen Klassiker zum Siebengestirn ergänzt, sondern auch ein Moderner; er war der in der zeitlichen Reihenfolge letzte Klassiker und der erste Moderne, ein Vorläufer Ibsens in mancher Hinsicht. Mit dem Sittengesetz als Dichter immer im Einklang, nicht aus Ehrfurcht vor dem überkommenen Dogma, sondern aus – wenn man so sagen darf – Dramaturgie, weil es ohne Sittengesetz kein Drama gibt, stellt er dennoch das Triebleben nicht wie der klassische Geist als ein emotionales Element in seine dichterische Rechnung ein, sondern als ein inkommensurables Element. Daß das Triebleben nicht ist, wie es die Sitte befiehlt, sondern wie es der Natur beliebt, scheint dem Modernen eine unumstößliche Wahrheit und auf Wahrheit ist er aus, selbst um den Preis der Anstößigkeit. Das ist nach Schulbegriffen unerwünscht, und der deutsche Professor ist eben in erster Linie Schulmann und erst in zweiter freier Forscher. Darum wurde im Falle Grillparzer die Wahrheit so lang und so ängstlich verschleiert. Nicht weil daran gezweifelt werden könnte, daß ihn mit der dämonischen Charlotte nicht die lauterste, sondern die zärtlichste Freundschaft verband, sondern weil – nun eben, weil die Lampe es nicht sehen sollte.