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»Besiegter Fehl ist all des Menschen Tugend.
Und wo kein Kampf, da ist auch keine Macht.«
(»Die Jüdin von Toledo«)
Das österreichische Schicksalsjahr 1848 machte auch sonst Epoche im Leben unseres Dichters, wie im Leben jedes Österreichers und besonders jedes Wieners. Vergessen wir nicht, daß 1848 eine Wiener Revolution war, keine österreichische, wie umgekehrt 1938 eine österreichische war und keine Wiener. Jene »Vorfrühling« ausstrahlende Wirkung reichte bis in das Privatleben des alternden Mannes, wo sie die volksstückhafte Beziehung des ewig zankenden Liebespaares einer friedlichen Lösung näherbrachte. Was die arme Kathi brauchte, war nichts als eine dramatische Gelegenheit, ihren Mut und ihre Entschlußkraft zu bewähren, wie sie sich im weiteren Verlauf der Begebenheiten ergab. Im März hatte der Umsturz mit der Verjagung Metternichs eingesetzt, die im Grunde dem verschwiegenen Wunsche des Kaiserhauses entsprach, das der Vormundschaft des eigensinnigen alten Mannes satt war. Als aber dann ein halbes Jahr später der entfesselte Pöbel den Kriegsminister Latour aufknüpfte, der noch dazu ein Graf war, hatte die Gegenrevolution den erwünschten Anlaß, zum Rückstoß auszuholen. Windischgraetz, eine Art Alba der immer noch halb spanischen Habsburger, rückte gegen Wien vor und kartätschte die aufrührerische Stadt in zähneknirschende Unterwerfung. In diesen Oktobertagen, während die »Dechargen« vom Stephansplatz her an des nahebei wohnenden Grillparzers Ohr schlugen, war Wien kein passender Aufenthalt mehr für einen ältlichen Archivdirektor, der, an einem Habsburgerdrama arbeitend, astrologische Studien machte und der die Stirn gehabt hatte, dem siegreichen Radetzky »In deinem Lager ist Österreich!« zuzurufen. Trotzdem wäre er aus Eigensinn nicht weggegangen, wäre die Kathi nicht gewesen. Die aber wußte jetzt genau, was sie zu tun hatte. Sie machte auf ihre Art Revolution, wiegelte ihre Schwestern auf, stellte sich an die Spitze der mehrgliedrigen Deputation, die unangemeldet bei dem großen Vaterländischen, von der Spiegelgasse in die Rauhensteingasse hinüberstiefelnd, erschien und ihn ohne lange zu fragen nach Baden abtransportierte. Das milde Brunnenstädtchen, in dem nichts heiß ist als das Schwefelwasser, das aus dem Boden strömt, scheint in seiner windgeschützten Abgeschiedenheit dazu geschaffen, eine Revolution abzuwarten, und hat sich in dieser Eigenschaft wiederholt bewährt.
Ein paar Wochen später, als alles vorbei war, kehrte der von seinen Damen eskortierte Dichter in seine Wohnung zurück und beugte sich, um seine heranreifende Pension nicht zu verscherzen, knirschend wieder in sein ihn nicht allzu sehr drückendes Staatsbeamtenjoch. Aber mittlerweile hatte die gute Kathi einen stillen Sieg erfochten, den er ihr beim besten Willen nicht nachtragen konnte. Sie hatte ihm nämlich möglicherweise das Leben gerettet und gleichzeitig ermöglicht, fern vom Schuß ein Liberaler zu bleiben. Ein Jahr später war er soweit, eine Einladung der Baronin Pereira, bei ihr zusammen mit Radetzky zu Mittag zu essen, in ebenso höflicher wie bestimmter Weise abzulehnen. Die alten Wiener hatten für solche Gelegenheiten eine ständige Redensart bereit. Sie sagten: »Die Volkshymne sing' ich am liebsten allein.«
Und wieder ein paar Jahre später übersiedelte der jetzt zweiundsechzigjährige zum Vollgenuß seines Ruhestandes Herangediehene zu den Damen Fröhlich in die Spiegelgasse. Es war seine letzte Adresse, und daß sie das geworden war, hing wohl auch irgendwie mit den Erfahrungen des Revolutionsjahres zusammen und mit der Liebeskraft des resoluten alten Mädchens. Schritt für Schritt hatte sie den alten Knaben erobern müssen.
Übrigens schon ein Jahr vor 1848, anno 1847, in welchem Jahre das alternde Paar seine Silberne Hochzeit hätte feiern können, hätten sie jemals Hochzeit gefeiert, hatte sich nachweisbar etwas zwischen ihnen herausgebildet, woran man die Zusammengehörigkeit widerspenstiger Eheleute schließlich doch erkennt: ein Ton im Umgang, auf den sie sich halb widerwillig geeinigt haben und der dann weiterklingen wird bis ans Ende ihrer Tage. In einem vom 25. November 1847 datierten Schreiben Grillparzers läßt er sich deutlich feststellen. Es ist eine Gratulation zum Namenstag, den man im katholischen Wien als einen zweiten Geburtstag feiert, und sie klingt so aufgeräumt, daß die gute Kathi sicher laut gelacht und, Lachtränen in den Augen, das jungenhafte Schreiben ans übervolle Herz gedrückt hat, als sie es las.
Sie hat den Brief bis an ihr seliges Ende und darüber hinaus so gut verwahrt, daß wir ihn heute noch lesen können. Er lautet:
Wien, am 25. November 1847.
Hochschätzbares, verehrtes, beinahe vergöttertes Fräulein!
Einer Ihrer zahllosen, höchst geheimen Verehrer findet am heutigen Jahrestage des Dienstbotennamens Katharina Gelegenheit, seine Gefühle durch äußerliche Zeichen auszudrücken. Er wußte lange nicht, wie er das ins Werk setzen sollte. Ihnen ein Kleid zu kaufen ging nicht an, da er weiß, daß Sie Kleiderstoffe so lange im Kasten liegen lassen, bis durch den Wechsel der Mode Zeug und Dessein lächerlich geworden sind oder sie, bereits gemacht, Ihrer schmutzigen Schwester Pepi schenken, welche er ihrer bösen Eigenschaften wegen verabscheut und welcher er überdies an ihrem noch weit entfernten Namenstage auch ein Geschenk zu machen sich vornimmt. Es verlautet, daß Sie einen Schreibtisch wünschen, was übrigens kaum zu glauben ist, da Sie die Schreibkunst so wenig ausüben, daß Sie nach vierzehn Tagen in Ihren Einkaufsrechnungen selbst nicht mehr lesen können, was Sie vierzehn Tage vorher geschrieben. Einen »Tand« von Gold und Silber hielt er Ihren erhabenen Gesinnungen durchaus für unwürdig. Er beschloß daher, Ihnen beiliegendes Windischgraetzisches Los zu verehren. Wenden Sie nicht ein, daß dieses einen bestimmten Geldbetrag ausdrücke. Umsonst bekommt man gar nichts, und alles, was man schenkt, drückt daher einen Geldwert aus. Die Ursache, warum er aber gerade ein Lotterielos wählte, ist folgende.
Sie haben unter Ihren Schwestern eine Zauberin, welche die Zukunft aus den Patiencekarten voraussagt. Sie weiß jedesmal, wer die achtzigtausend Gulden gewinnt. Wenn Sie daher ihre Kunst zu Hilfe nehmen, so kann Ihnen das große Los nicht entgehen und die ganze Welt wird dadurch glücklich. Sie selbst können Ihre Neigung zur Wohltätigkeit und zum Schnupftabak auf die schrankenloseste Art befriedigen. Ihr fauler Neffe braucht gar nichts mehr zu lernen. Ihre Schwestern sind nicht mehr genötigt, durch Holzstehlen und Wucher sich den Lebensunterhalt zu erwerben und selbst der Schreiber dieser Zeilen hofft dadurch den Anspruch auf täglich drei große Äpfel zu begründen, die er sich pflichtschuldigst jedesmal abholen wird.
Warum er übrigens ein Windischgraetzisches und nicht ein Esterházysches Los gewählt, hat zur Ursache, daß ersteres wohlfeiler ist und er, der überhaupt viele Ähnlichkeit mit Gott besitzt, ihm auch darin gleicht, daß er gerne große Wirkungen mit kleinen Mitteln hervorbringt.
Ergebenst, untertänigst
Ein Tabakschnupfer.
Was diesen reizend wohlgelaunten Brief so kostbar macht, ist, daß er, obwohl in einer Art Ferialstimmung scheinbar ausgelassen hingestrudelt, den Meister im Charakterfach bewährt. Das Unorthographische im Wesen des Mädchens mit dem »Dienstbotennamen« – ein Ausdruck, der sicher von ihr selber stammte und ihrem unwirschen Bedürfnis nach Selbstverkleinerung entsprang – ist darin verewigt, aber auch die Goldhältigkeit eines Charakters, der seinesgleichen nur unter den Vornehmsten der Vornehmen findet. Ihre Unkäuflichkeit grenzt ans Sagenhafte, ja fast ans Lächerliche. Nach fünfundzwanzigjähriger Bekanntschaft noch muß der alte Verehrer sich bei ihr förmlich entschuldigen, daß er es wagt, ihr ein Lotterielos zum Namenstag zu schenken. Und wie zart ist neben dem Stolz der unbegüterten und nur halberzogenen Schönen ihre Noblesse ins Licht gerückt, mit der sie ihre neuen Kleider verschenkt, noch bevor sie sie selbst getragen. Wie wunderbar tröstlich sah sie sich im Spiegel dieses Schreibens von dem realistischen Liebhaber verstanden, der ihr unter einem versprach, sich drei große Äpfel täglich selbst »untertänigst« bei ihr abzuholen. Im Scherz geschrieben, im Ernst gemeint. Denn es gab kein anderes weibliches Wesen auf der Welt, das wußte sie, von dem der Launenhafte mit drei Äpfeln täglich sich hätte füttern lassen. Treu wie Gold (obwohl es vielleicht angebrachter wäre, das Gold treu wie Kathi zu nennen), fand sie am Ende doch ihren Wert von dem Mann gewürdigt, auf den es einzig ankam. »Monimia« nennt er sie im Maskenspiel seiner Tagebuchaufzeichnungen. Es ist ein griechisches Wort und heißt auf deutsch: die Treue.
Ein einziges Mal war diese Treue des stolzen, armen und nur halbgebildeten Mädchens vorübergehend erschüttert, in allen Ehren erschüttert, muß man eiligst hinzufügen, um einer Ohrfeige auszuweichen, die einem sonst noch übers Grab zufliegen könnte. Das war damals, als der Verwalter Kirstein um sie warb und sie ihm, gewissenhaft von ihren Schwestern begleitet, einen sommerlichen Besuch in der Achau machte. Kathi war damals ungefähr dreißig Jahre alt, Grillparzer an die vierzig und trotz der nur ihm bekannten Grille, das Mädchen nicht zu genießen, eifersüchtig wie ein Jüngling. War seine Eifersucht begründet? Sie war es insofern, als jede Eifersucht begründet ist, deren letzter Grund, wie im gegebenen Falle, im eigenen Schuldbewußtsein liegt. Kathi, nachdem sie die Hoffnung auf eine Bühnenlaufbahn und andere Hoffnungen hatte aufgeben müssen, stand damals vor der Wahl zwischen einer Vernunftehe und einem unmöglichen Liebesverhältnis. Sie entschied sich schließlich nach einer schweren, fast tödlich verlaufenden Lebenskrise ihrem Charakter gemäß, indem sie nicht nur dem einzigen Manne ihrer Wahl, sondern auch sich selbst fürs Leben treu blieb. Aber die Anwandlung, den achtbaren Verwalter in der Achau zu heiraten und ihm zu einem zahlreichen gesunden Nachwuchs zu verhelfen, hatte doch bestanden, und Grillparzer wußte davon. Er wußte alles und er übersah nichts, am wenigsten dort, wo er liebte. Ein halbes Menschenalter nach jener Schreckensnacht »auf den Stufen des Theseustempels« im Wiener Volksgarten, die ums Haar einen dritten Selbstmord in der Familie Grillparzer zur Folge hätte haben können, schreibt er seine wunderbare Novelle vom »Armen Spielmann«.
Grillparzer war ein Erlebnisdichter und war es in noch höherem Maße als Goethe, von dem man es nur, weil von ihm selbst beglaubigt, bestimmter und allgemeiner weiß. Goethe sagt, daß alles, was er geschrieben, nur Teile einer einzigen »großen Konfession« wären. Grillparzer, als er zu hohen Jahren gekommen war, äußert sich einmal, daß seine Gedichte seine Biographie enthielten. Er hätte sich nicht so bescheiden auf die Gedichte beschränken müssen. Alles, was er schrieb, veröffentlicht oder nicht veröffentlicht, erzählt seine Biographie. Sogar die Habsburgerdramen tun das, denn sein im Grunde autokratischer Charakter von jener unberührbaren Souveränität, die man beim Kaiser als »Majestät« anspricht, weist in seiner einmaligen Mischung von Selbstherrlichkeit und Volkstümlichkeit deutlich habsburgische Familienzüge auf. Darum konnte er im Bruderzwist den »stillen Kaiser« Rudolf II. so wunderbar aus sich herausbilden. Dieser große Kaiser ist nichts anderes als ein Grillparzer in Purpur auf dem Prager Hradschin, für den man sich als Kohlenträger verkleiden muß, um zur Audienz zugelassen zu werden.
Von der volkstümlichen Seite enthält »Der arme Spielmann« ein gleichwertiges Charakter- und Schicksalsbekenntnis. Der Dichter verkleidet sich darin in einen zu was Besserem geborenen Straßengeiger, der es sich wunderlicherweise in den Kopf gesetzt hat, Spaziergänger und Jahrmarktsbesucher zu den Tonfolgen klassischer Musik erziehen zu wollen, und kostümiert seine »ewige Braut«, die Kathi, als resolute Greißlerstochter oder, wie er verlegen hochdeutsch schreibt, »Grießler«. Greißler oder Grießler, es ist ein Wiener Wort, das die deutsche Sprache in ihrem Wörterbuche nicht enthält. Gemeint ist ein Kleinkrämer in der Vorstadt, eine dem Besucher der Wiener Lokalbühne wohlvertraute Figur.
Um zu den in dieser Erzählung kunstvoll versteckten Lebenszeugnissen zurückzukehren: der zum Straßengeiger herabgesunkene Spielmann, ein ebenso wunderlicher wie ordentlicher Greis, ist der Sohn eines Hofrates, was, aus den Niederungen des Greißlertums gesehen, die Spitze der sozialen Pyramide bedeutet, und ist als solcher das Opfer einer falschen Erziehung geworden. Ein harter Mann, der den Sohn, weil er bei einer Prüfung die Bedeutung des Wortes »cachinum« in einer horazischen Ode nicht gleich erfaßt, zum Schreiber in seiner eigenen Kanzlei erniedrigt, und weil er sich mit der Greißlerstochter in ein Ladentischgespräch einläßt, durch einen seiner Sekretäre aus dem Hause weisen läßt, ist er sichtlich nach Modell gearbeitet. Das Modell war Grillparzers eigener Vater, der einer sich regenden Theaterschwärmerei des heranwachsenden Jünglings nichts anderes entgegenzusetzen wußte als die düstere Prophezeiung, daß er »auf dem Misthaufen krepieren werde«. Handelt es sich hier offensichtlich um einen Schulfall dessen, was Freud und seine Schule den »Vaterkomplex« nennen, so ist das hoffnungslos romantische Verhältnis, das den edelgesinnten, aber durchaus lebensuntüchtigen Hofratssprößling mit der auf zwei zierlich festen Beinen stehenden Greißlerstochter verbindet, ein in den zartesten Farben ausgeführtes Charakterporträt des Mädchens, das in der Erzählung Barbara heißt – ein anderer »Dienstbotenname«. Sie hat, wenn es ihre Mädchenehre zu verteidigen gilt, ganz wie Katharina die Hand, aber auch das Herz am rechten Fleck, und daß sie dem linkischen Verehrer, dem sie das Leben weiß Gott nicht leichter macht, dabei von ganzem Herzen gut ist, liegt auch auf der Hand, die einem Zudringlichen so leicht ins Gesicht fliegt. Einmal, da er, unbemerkt hinter ihr stehend, den lebensgefährlichen Versuch macht, sie um die Mitte zu nehmen, hat der ungeschickte Liebhaber sogar Gelegenheit, die Abwehrkraft ihrer Tugendhaftigkeit am eigenen Leibe zu erproben, was ihm, da sie, sich umwendend, den Irrtum erkennt, einen bereuenden Kuß einträgt, den einzigen, dessen er sich berühmen darf: Denn gleich darauf verschanzt sie sich hinter der Glastür, die den Laden vom Wohnzimmer des Greißlers trennt. Aber der nachmalige Straßengeiger, der damals ein noch ganz junger, erst im Werden begriffener Schlemihl war, faßt sich ein Herz, wie er in seinem Bericht sich ausdrückt, und gibt ihr den Kuß verwegen zurück – durchs Glas.
Hier haben wir das Verhältnis, das keines war, mit traurigem Selbstspott als das tragikomische Mißverständnis mit der Liebe gekennzeichnet, das es im Leben war. Auch benimmt Barbara sich genau so, wie Katharina sich allenfalls, ohne ihrem Charakter etwas zu vergeben, damals, als der Verwalter um sie warb, hätte benehmen können. Sie heiratet einen Fleischer in dem Wienerwalddorf Langenlebarn und ist ihm eine treue Frau. Aber ihren ersten Sohn tauft sie auf den Namen des armen Spielmanns Jakob, und Geige spielen soll er lernen, das ist ihr Herzenswunsch. So sehen wir nun auch noch Kathis Neffen Wilhelm Bogner, das Wunsch- und Ersatzkind, dem Grillparzer die Anfangsgründe der lateinischen Sprache beibrachte, in das Gewebe der Erzählung einbezogen. Ihre Veröffentlichung im Taschenbuch »Iris« erfolgte kurz vor Ausbruch der Achtundvierziger Revolution, ungefähr gleichzeitig mit jenem Namenstagsbrief, und dürfte der guten Kathi eine noch köstlichere Genugtuung bedeutet haben als der muntre Brief. Dort wie hier fand sie sich liebevoll in all ihrer Eigenart erfaßt und verstanden, ja sogar die dramatische Situation vorausgesehen, in die gestellt ihr Wesen sich erst ganz entfalten und ihre Liebeskraft sich endlich voll bewähren konnte. Was im Leben ein Jahr später die Revolution, das ist in der Novelle die Überschwemmung der Wiener Leopoldstadt, die Grillparzer im Jahre 1831 gleichfalls selbst erlebt hat und die er mit aller realistischen Deutlichkeit dem Gemälde seiner volkhaften kleinen Erzählung einverleibt, Erlebnisdichter auch hier. Der alte Musikant, ein Menschenfreund im Grunde trotz seiner abwehrenden Haltung, findet in dieser Katastrophe den Tod, indem er anderen das Leben rettet, und sein gesamter irdischer Besitzstand, nämlich seine Geige, geht an die arme Fleischersfrau über, deren Mann das Leichenbegängnis des alten Sonderlings bezahlt. Es ist eine Geschichte wie von Dickens, aber auf einen innigeren, seelenhafteren Ton gestimmt. Unvergeßlich zumal der Schluß, in dem der Erzähler – er gibt nach alter, damals neuer Manier vor, die Geschichte selbst erfahren zu haben – von »psychologischer Neugier getrieben« Barbara noch einmal besucht und ihr, die er im Kreise ihrer Familie beim Mittagessen antrifft, das Anerbieten macht, die Geige des Verewigten um einen von ihr zu nennenden Preis zu erstehen. Der Fleischer ist gleich einverstanden, aber Barbara greift entrüstet nach der Violine, die jetzt neben dem Spiegel »dem Kruzifix gegenüber« hängt und stößt sie mit dem Bemerken, daß sie ihrem Sohn Jakob gehöre, erbittert in eine Lade, die sie geräuschvoll abschließt. Ein Drache! mag der Besucher denken, der sich schleunigst verzieht. An der Türe aber, während der Fleischer bereits »mit schallender Stimme« das Tischgebet spricht, wendet er sich noch einmal zurück: »Mein letzter Blick traf die Frau. Sie hatte sich umgewendet und die Tränen liefen ihr stromweise über die Backen.«
»Der arme Spielmann« ist eine empfindsame Charakternovelle und als solche das Werk eines großen Erzählers, der nur aus einer Art Eigensinn ablehnte, sich dieser Kunstgattung dauernd zu verschreiben. Der Fall liegt ähnlich wie bei Kleist, der auch ein großer Dramatiker war und dessen »Michael Kohlhaas« eine der größten deutschen Novellen ist. Ein Ausnahmewerk dort wie hier, verhalten sich diese beiden Charakternovellen zueinander genau wie der deutsche und der österreichische Charakter. Bei Kleist ist es eine heroische Prinzipienreiterei bis ans apokalyptische Ende; bei Grillparzer fromme Ergebenheit und unaufdringliche Selbstbehauptung. Bei Kleist wird »Fanfare geblasen«, wie in allen seinen Stücken; bei Grillparzer tröstet ein Geigensolo den im Leben Verirrten. Seiner Weisheit letzter, melodischer Schluß sind die Verse des bekehrten Rustan in dem sinnigen Märchenspiel »Der Traum, ein Leben«:
Eines nur ist Glück hinieden,
Eins: des Innern stiller Frieden
Und die schuldbefreite Brust.
Und die Größe ist gefährlich
Und der Ruhm ein leeres Spiel:
Was er gibt, sind nicht'ge Schatten,
Was er nimmt, es ist so viel!
»Und die schuldbefreite Brust!« – das ist es, was den Dichter des Gewissens, der Grillparzer ein halbes Jahrhundert vor Ibsen war, zum Dichten antrieb. Das ist es auch, was ihn ein halbes Jahrhundert lang immer wieder zu seinem Lieblingsstoff, der »Jüdin von Toledo«, zurückkehren ließ, den er ganz jung empfing und erst im hohen Alter vollendete. Und auch in die Entwicklung dieses Werkes, dessen Werdedauer nur mit derjenigen von Goethes »Faust« vergleichbar ist, spielt die Revolution des Jahres 1848 schicksalhaft und auf einem unvermuteten Umweg belebend hinein. Der österreichische Euripides war ein viel aufmerksamerer Beobachter der Zeitereignisse als diejenigen seiner kritischen Beurteiler zugeben wollen, für die des Dichters Auge immer noch in holdem Wahnsinn rollt. Weil er ein Klassiker ist, erklären sie ihn für einen weltabgewandten Poeten. In Wahrheit war er ein weltzugewandter – und gerade darum ein Klassiker. Denn welcher Klassiker, von Äschylos angefangen, war es nicht?
Die »Jüdin von Toledo« erzählt die Geschichte vom Glück und Ende eines Königsliebchens. Dies ist zumindest von außen gesehen der Stoff des Stückes. In seinem Kern erfaßt, ist es: der Mann zwischen zwei Frauen, von denen die eine, die Jüdin, »das Weib als solches, nichts als ihr Geschlecht« ist, die andre die verkörperte »Sittsamkeit, noch sittlicher als Sitte«, mit der er verheiratet ist. Das freilich ereignet sich in allen Kreisen, nicht nur bei Hofe. Was sich aber in jenen der Wiener Revolution unmittelbar vorangegangenen Wochen in dem nah benachbarten München ereignet hatte, war, daß das Volk, der Maitressenwirtschaft bei Hofe endgültig müde, ein solches von dem schwachen König in den Adelsstand »erhobenes« Königsliebchen davongejagt hatte und daß das klerikale Ministerium darüber gefallen war. Ihr Name war Lola Montez. Sie war eine Irländerin von Geburt, hatte es aber vorgezogen, sich als spanische Tänzerin in die Gunst des schlafmützig romantischen Königs Ludwig kastagnettenklappernd hineinzutanzen. Ihr schimpflicher Abgang von München unter dem Gejohle der Studentenpartei hatte den Dichter der »Medea« und ehemaligen Liebhaber der schönen Marie Daffinger wieder an sein halbfertig gespeichertes Stück gemahnt. Indem er den ersten und zweiten Akt wieder durchlas, bekam er Lust, am dritten weiterzuschreiben. »Die Jüdin von Toledo« ist ein Königsdrama, aber zugleich auch ein Kind der Revolution. Sie ist dies schon bei Lope de Vega, an dessen melodramatischer Haupt- und Staats-Aktion die Einbildungskraft des Zwanzigjährigen sich entzündet hatte. Lopes Titel: »Die Friedensschlüsse der Könige« hat einen verkniffen aufrührerischen Beigeschmack, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Voraussetzung eines dieser »Friedensschlüsse« die Ermordung eines liebenswürdigen Frauenzimmers ist. Übrigens war die Komödie Lopes nicht Grillparzers einzige Stoffquelle. Auch hier wieder bediente er sich zum Aufbau eines Meisterwerkes des Schutthaufens eines Machwerkes, das im gegebenen Falle Wilhelm Zaberns zweideutiger Schlüsselroman »Die Taube von Amsterdam« war. Grillparzer hatte ihn 1836 auf der Rückreise von England gelesen. Auch hier handelte es sich um einen legitimen König und eine illegitime Jüdin, die als »Taube« gehätschelt und als Jüdin vergiftet wurde. Der König war Christian II. von Dänemark. All dies lieferte willkommenen Brennstoff für die »Brandfackeln« der Phantasie.
Für die Vermutung, daß dieses zugleich interessanteste und modernste Grillparzer-Stück, als welches die »Jüdin von Toledo« sich immer unverkennbarer entpuppt, im Zusammenhang mit der Revolution und der ihr vorangehenden Gewitterschwüle der europäischen Luft jenen inneren Anstoß erhielt, der bis zu ihrer schließlichen Vollendung viele Jahre später nachwirkte, spricht merkwürdigerweise auch wieder eine bisher kaum bemerkte Stelle in jenem lustigen Glückwunschschreiben. Es sind die paar Zeilen, in denen Grillparzer, einem möglichen Einwand seiner überempfindlichen Herzensfreundin zuvorkommend, mit den Worten »Umsonst ist gar nichts!« über Geld und Geldeswert orakelt. Dieser Gedankengang stimmt haargenau überein mit dem, was der Jude Isaak, der schönen Rahel geschäftskundiger Vater, der sich bei Hof eine artige Bestechungszentrale eingerichtet hat, in gleicher Richtung äußert:
Geld, Freund, ist aller Dinge Hintergrund.
Es droht der Feind, da kauft Ihr Waffen Euch,
Der Söldner dient für Sold und Sold ist Geld.
Ihr eßt das Geld, Ihr trinkt's, denn was Ihr eßt,
Es ist gekauft, und Kauf ist Geld, sonst nichts.
Die Zeit wird kommen, Freund, wo jeder Mensch
Ein Wechselbrief, gestellt auf kurze Sicht.
Sollte sich hier nicht ein flüchtiger Einblick in die trotzig versperrte Schreibtischlade des Dichters eröffnen, der seit dem Mißerfolg von »Weh dem, der lügt« nur noch für ein Publikum, das er selbst war, seine Stücke zu Papier brachte? »Sibi scribere« nennt es Nietzsche, der aber doch, im Gegensatz zu Grillparzer, auch wenn er sich selber schrieb, die Verbindung mit seinem Verleger ängstlich aufrechterhielt. Bei Grillparzer geht die Abneigung so weit, daß er dem Herausgeber der »Iris«, der ihm nach Erscheinen des »Armen Spielmanns« einen artigen Brief schreibt, um weitere Beiträge bittend, fast einen Verweis erteilt. Erzählungen wären überhaupt nicht sein »Fach«, und der »Arme Spielmann« wäre »wirklich nur durch ein eigenes Erlebnis entstanden«. Als ob es auf Erlebnisse ankäme in der Kunst und nicht auf das, was einer daraus macht.
*
König Ludwig von Bayern hatte durch die Standeserhöhung der Lola Montez die liberale Partei in München herausgefordert. Grillparzer verpflichtete sich die sehr maßgebende liberale Partei im Wiener Burgtheaterpublikum durch die, wenn man so sagen darf, Titelerhöhung der Jüdin. Weder Lope noch Zabern waren so weit gegangen, ihr diesen Platz einzuräumen. Grillparzer tat es mit vollem Bedacht und, wie sich vermuten läßt, aus zwei Gründen. Der eine war, daß ihn der Kontrast zwischen Rahels Judentum und dem katholischen Hof besonders reizte, wie er auch schon Lope gereizt hatte. Rahel war ja nicht nur Jüdin, sie war es im zwölften Jahrhundert und in Spanien, dem klassischen Lande der Judenverfolgung. Sich mit einem solchen ausgestoßenen Wesen einzulassen, war schlimmer als Ehebruch, es war, was die dem Mittelalter abgeborgte Nazi-Ideologie als »Rassenschande« kennzeichnete und verfolgte. Eine unmenschliche Auffassung im zwölften wie im zwanzigsten Jahrhundert, die aber auf dem Theater den Vorteil hatte, daß sie den Aufstieg des von einem heulenden Mob verfolgten Pariamädchens zur launenhaften Gebieterin eines allerchristlichsten Königs ins Märchenhafte rückt. Der Dichter, der sich unterfängt, eine derartige Entwicklung in zwei Akten überzeugend darzustellen, spielt ein hohes Spiel, und gerade dies reizt den Meister des Theaters, den es, eben weil er ein Meister war, nie gelockt hatte, um Betteleinsätze mit dem Schicksal zu würfeln. Was ihn aber womöglich noch mehr faszinierte und dazu bewog, auf die Magie dieses Frauenschicksals schon im Titel ein Rembrandtsches Licht fallen zu lassen, das war das im Sinne seines Zeitalters Zeitgemäße, ja Moderne, das sich in seiner nur scheinbaren Mittelalterlichkeit höchst anziehend verbarg: die Problematik des Judentums, an dem die Jahrhunderte mit gehässiger Voreingenommenheit ahnungslos vorbeigegangen waren. Erst die Französische Revolution mit der von ihr behaupteten Gleichheit aller Menschen hatte, auch sie nur mittelbar, das Jude-Sein zum Problem gemacht, das bis dahin nur eine eben nicht abzuändernde Tatsache gewesen war. Darum ist bei Lope das Königsliebchen eine Jüdin; sie könnte auch eine Zigeunerin sein. Bei Grillparzer aber wird sie, zum Diskussionsgegenstand erhöht, die Jüdin, fast wie in der ungefähr gleichzeitigen Oper »Die Jüdin« von Halévy, die der österreichische Dichter von Paris und London her in bester Erinnerung hatte, und die auf dem europäischen Theater eine ganze Reihe von Judenstücken einleitete. »Die Jüdin von Toledo« ist nur eins von ihnen, allerdings aber, trotz ihrer Zeitbedingtheit, das dichterisch zeitloseste.
Zwingt die Erneuerung des kostbaren alten Stoffes den Erneuerer dazu, sich mit dem Judenproblem im Sinne des neunzehnten, nicht des zwölften Jahrhunderts auseinanderzusetzen, so bietet zugleich die im Sinne christlicher und jüdischer Moral anstößige Verbindung, die Rahel mit dem König eingeht, die nicht unerwünschte Gelegenheit, diesen Sündenfall wenn nicht zu entschuldigen, so doch zu verlieblichen. Auch das geschieht im Geiste des neunzehnten Jahrhunderts, dessen Theater mit alten Vorurteilen aufzuräumen nicht müde wird. Es entdeckt zum erstenmal die, wie sich herausstellt, immer dankbare Rolle der »interessanten Frau«. Auch hier geht die Umsturzbewegung von Frankreich aus und beginnt mit Manon Lescaut, deren anmutige Liebesirrungen ein immer wachsendes Publikum vom Roman bis in die Oper begleitet. Bald hat sie ihre Nachfolgerinnen, wohin man blickt, ob sie nun »Die Kameliendame« oder »Carmen« heißen oder im Versstück »Olympia« von Grillparzers Zeitgenossen Augier, oder im Salonstück »Fernande« von Sardou oder im »Luder-Stück«, dem »genre rosse«, zu dem die neue Richtung zuletzt sich unerschrocken bekennt, »Die Pariserin« oder ganz zuletzt Wedekinds »Lulu«. Die Zeit der Iphigenien, der edlen Frauen im starren Tugendmieder nach der Mode des französischen grand siècle, schien endgültig vorüber, auch in Deutschland; die Rechtfertigung der Entgleisung galt bald genug als die auch dichterisch dankbarere Aufgabe. Goethe selbst war in dieser Richtung vorangegangen, als er mit jener olympischen Launigkeit, die seine Zeitgenossen mehr im persönlichen Umgang mit ihm als auf dem bedruckten Papier schätzten, einer dritten Gattung Frauen, nämlich den »Schälken«, die zwischen den »guten« und den »bösen« Weibern stehen, einen gewissen öffentlichen Kredit einräumte. Ein solcher Schalk ist seine Philine, die zugestandenermaßen »liebliche Sünderin«. Und seine Bajadere in dem wahrscheinlich schönsten Gedicht deutscher Sprache »Der Gott und die Bajadere« ist noch etwas weniger als ein Schalk, nämlich ein Dirnchen. Und doch wird sie von Mahadö, dem »Herrn der Erde«, in dem Gedicht entsündigt. »Unsterbliche heben verlorene Kinder – Mit feurigen Armen zum Himmel empor!« lautet die letzte Verszeile des gleichermaßen feurigen und unsterblichen Gedichts.
Was alle diese »Rettungen« schiffbrüchig gewordener Frauenmoral mit der »Jüdin von Toledo« gemein haben, ist die Rettung durch die Liebe. Ob sie rettbar ist, läßt uns ihr Dichter anfänglich bezweifeln. Wir erfahren aus dem mit souveräner Kunst und subtilster Kenntnis des weiblichen Herzens ausgeführten Gemälde, das Grillparzer von ihr entwirft, fürs erste nur, daß sie sich über die Tatsache, daß der König verheiratet ist, einfach hinwegsetzt; daß sie ihm auf jede Weise zu gefallen sucht und zu diesem Zwecke selbst Zauberkünste nicht verschmäht, dann aber, sobald sie seiner sicher ist, ihn auf jede Art mit ihren unberechenbaren Primadonnenlaunen quält. Liebt sie ihn eigentlich, der sie voll Nachsicht »Du albern spielend, töricht-weises Kind!« nennt? Sicher liebt sie ihn weniger, als sie ihre Schwester Esther liebt, die nach wie vor ihrem Herzen am nächsten steht, weniger vielleicht sogar als ihren geldsüchtigen Vater, der ihre Stellung unbedenklich ausnützt, ja vielleicht sogar weniger als des Königs besten Freund Garceran, den Frauenmann, mit dem sie über die Liebe spricht. »Ja, wenn der richtige käme! …« sagt sie deutlich genug zu ihm, um dann resigniert fortzufahren:
Bis dahin mach' ich die Gebräuche mit,
Die hergebracht im Götzendienst der Liebe,
Wie man in fremden Tempeln etwa kniet …
Aber all dies, einschließlich ihre wahrscheinlich nur vorgeschützte Frigidität, ist nur Schein, wie er ihrem scheinhaften Wesen entspricht, ist in jedem Falle nur Oberflächenflimmer. Erst da ihr Kurtisanenglück zu Ende geht, der König zu seiner Herrscherpflicht zurückfindet, und sie »töricht-weise« voraussieht, daß sie ihn, einmal verloren, für immer verloren hat, erst am Schlusse des dritten Aktes wird sie sich klar über ihr spielerisch verheimlichtes Gefühl und bricht zusammen und wirft sich zusammenbrechend der geliebten Schwester in die Arme:
»Und hab' ihn, Schwester! wahrhaft doch geliebt!«
Dieser große Aktschluß rettet sie und macht ihre Rolle zu einer der meist begehrten des deutschen Theaters.
*
Sind die ersten drei Akte der »Jüdin von Toledo« brillantes Theater im Sinne des neunzehnten Jahrhunderts, das ein großes Jahrhundert des westeuropäischen Theaters war, so sind die letzten beiden, in denen Rahel nicht mehr auftritt, noch etwas mehr, nämlich großes Theater im Sinne jedes Jahrhunderts. In diesen Schlußszenen kommt Grillparzer Shakespeare am nächsten durch die technische Meisterschaft ebensowohl wie durch die Unbeirrbarkeit seines sittlichen Urteils. Rahel hat sich gegen das Sittengesetz vergangen und auch der König hat es getan, denn sein etwas kavalierhaftes Gegenargument:
Die Langeweile eines Fürstenhofes,
Sie macht die Kurzweil manchmal zum Bedürfnis.
kann nicht einmal vor dem Gerichtshof seines eigenen Gewissens, geschweige vor dem von der Königin eingesetzten Regentschaftsrat bestehen. Ein Opfer puritanischer Sittenstrenge – »O Sittsamkeit, noch sittlicher als Sitte!« – wird das Mädchen hingerichtet in Abwesenheit ihres Beschützers, der gegen die Mauren Krieg führt. Dann kehrt er heim, um selbst Gericht zu halten über die Schuldigen. Aber bevor er es tut, tritt er noch einmal an die Leiche der ermordeten Geliebten, und da vollzieht sich etwas, das als eine der größten Szenen der dramatischen Literatur nur ein großer Schauspieler, wie Joseph Kainz es zu Anfang dieses Jahrhunderts war, begreiflich, dann aber freilich auch unvergeßlich zu machen imstande ist. Der König findet, die er im Leben geliebt, im Tode nicht wieder. Nicht, daß sie vom Tode entstellt wäre, sie ist nur als das, was sie in Wahrheit gewesen ist, vom Tod enthüllt: ein Sinnenrausch, der Vergänglichkeit anheimgegeben. Ist nicht ihr liebliches Gesicht von einem »bösen Zug um den Mund, ein lauernd Etwas« abstoßend gekennzeichnet? Seine Liebe verwandelt sich in Abneigung, die Rahel »töricht-weise« schon im dritten Akt vorausgesehen hat, wenn sie, im Gespräch mit Garceran ihr Herz entladend, sich über ihren königlichen Liebhaber mit den Worten äußerte: »Und seine Neigung ist verstecktes Hassen!« – was auch Grillparzers Neigungen manchmal waren. Mit einer dramatischen Wendung von fast erschreckender Kühnheit, an die man sich erst gewöhnen muß – wie an gewisse gespenstische Tonfolgen in Beethovens letzten Quartetten – kehrt der König ernüchtert in den Regentschaftsrat zurück, um das angedrohte Gericht zu halten, doch nicht mehr über die anderen, über sich selbst, den er zur Absetzung verurteilt. Er ernennt die beleidigte Königin zur Regentin und sein unmündiges Söhnchen zum König, dessen Reich von den Mauren zurückzuerobern seine letzte Aufgabe sein soll: »Ich bin nur der Feldhauptmann meines Sohns!« Aber so leichten Kaufs will ihn Esther, die Schwester der Geopferten, nicht ziehen lassen. Ihr Fluch hallt ihm nach:
Am Tag der Schlacht, wenn deine schwanken Reihen
Erschüttert von der Feinde Übermacht.
Und nur ein Herz, das rein und stark und schuldlos,
Gewachsen der Gefahr und ihrem Drohn;
Wenn du emporschaust dann zum tauben Himmel,
Dann wird das Bild des Opfers, das dir fiel,
Nicht in der üpp'gen Schönheit, die dich lockte,
Entstellt, verzerrt, wie sie dir ja mißfiel,
Vor deine zagend bange Seele treten!
Dann schlägst du wohl auch reuig an die Brust,
Dann denkst du an die Jüdin von Toledo!
Vater Isaak aber denkt vorläufig nur an die erworbenen Schätze: »Doch such' ich erst mein Gold!« Da wird Esther klar, daß auch er, daß auch Rahel mitschuldig sind, ja, daß wir es genau genommen alle sind. Und das Trauerspiel, zur letzten Verallgemeinerung strebend, schließt mit den frommen Worten:
Wir stehn gleich jenen in der Sünder Reihe;
Verzeihn wir denn, damit uns Gott verzeihe!
*
Die gigantische Judenverfolgung des zwanzigsten Jahrhunderts, die in der Erinnerung alle übrigen Schandtaten des Nationalsozialismus um das von Hitler prophezeite Jahrtausend überleben wird, hat eine bleibende Empfindlichkeit gezeitigt, der zufolge auch die großen deutschen Dichter des neunzehnten Jahrhunderts einer Art Nachprüfung in der Judenfrage sich unterziehen müssen. Die dem achtzehnten Jahrhundert angehörigen deutschen Klassiker scheiden aus, weil diese Frage zur Frage erst wird mit der den Juden zugesprochenen staatsbürgerlichen Gleichberechtigung, die ihrerseits, auch in Deutschland, eine Folge der Französischen Revolution ist. Nur der einzige Lessing macht eine Ausnahme, der in »Nathan der Weise« und auch sonst die grundsätzliche Gleichberechtigung des liberalen Zeitalters vorwegnimmt. Er bekennt sich als ausgesprochener Judenfreund, teils, weil er der freieste Kopf im gesamten deutschen Schrifttum ist und andernteils wohl auch, weil er mit Moses Mendelssohn gerne Schach spielt. Was Goethe betrifft, der am weitesten ins neunzehnte Jahrhundert hinüberlebte, so hatte er in diesem Punkt immerhin einige Vorurteile, wenn er sich auch nicht gestattete, Vorurteile zu haben. Als die Emanzipation der Juden in seiner Vaterstadt Frankfurt in Rede stand, sprach er sich brieflich dagegen aus.
Bei Grillparzer, dem Josephiner, ist die Toleranz selbstverständlich, nicht nur, weil er ein liberaler, sondern auch, weil er ein klassischer Österreicher war. In seinen Reisetagebüchern beklagt er sich wohl ein ums andere Mal, daß er im Postwagen Juden gegenübersaß, oder er erwähnt mißmutig, daß ihm in Berlin der weibliche Anhang der Familie Mendelssohn weniger zusagte als der ihm befreundete Hausherr. Aber wenn man vergleicht, was er, höchst empfindlich für menschliche Unzulänglichkeit, wie er nun einmal war, und ein unerbittlicher Gesellschaftskritiker, über andere Personen und Gruppen von Personen, über Aristokraten etwa oder Professoren, über Schriftsteller oder Schauspieler brummig äußert, so muß man sagen, daß die Juden eigentlich um vieles besser abschneiden als alle anderen. Wichtiger ist, daß die absolute Wertskala, zu der er sich bekennt, rassenmäßige und konfessionelle Unterscheidungen ebensowenig wie Standesunterschiede vermerkt, und daß er grundsätzlich alle Menschen gleich freundlich – oder auch, wenn er übler Laune ist, gleich unfreundlich beurteilt. In der »Jüdin von Toledo« aber, wo er Gelegenheit hat und sucht, zur Judenfrage eindeutig Stellung zu nehmen, geht er noch um einen Schritt weiter. Hier, als fühlte er hinter dem fahnenschwingenden Nationalismus, der ihm zuwider war, das Gespenst des Antisemitismus bereits herandrohen, nimmt er den Juden gegen seinen Ankläger und Verleumder geradezu in Schutz, indem er seinen judenfreundlichen König Alfons wie einen Habsburger aus der großen Zeit über diese Dinge denken und sprechen läßt. Zu Garceran, der lang genug im Feld gestanden hat, um die Vorurteile der spanischen Kriegerkaste in diesem Punkt zu teilen, sagt er verweisend:
Was sie verunziert, es ist unser Werk;
Wir lähmen sie und grollen, wenn sie hinken
Zudem ist etwas Großes, Garceran,
In diesem Stamm von unstet flücht'gen Hirten:
Wir andern sind von heut, sie aber reichen
Bis an der Schöpfung Wiege, wo die Gottheit
Noch menschengleich in Paradiesen ging,
Wo Cherubim zu Gast bei Patriarchen,
Und Richter war und Recht der ein'ge Gott.
Und dann:
So Christ als Muselmann führt seinen Stammbaum
Hinauf zu diesem Volk als ältstem, erstem,
So daß sie uns bezweifeln, wir nicht sie.
Und hat es, Esau gleich, sein Recht verscherzt,
Wir kreuz'gen täglich zehenmal den Herrn
Durch unsre Sünden, unsre Missetaten,
Und jene haben's einmal nur getan.
Das ist mehr als eine Applausstelle, das ist ein Menschheitsbekenntnis hoher Vorurteilslosigkeit, ist Christentum im edelsten Sinne, das sich als solches auf das Wort des Apostels Paulus berufen kann: »Ich kenne nicht Skythen noch Griechen, noch Juden, denn sie sind alle Kinder Gottes!«, aber sich nicht erst darauf berufen muß. Zugleich rundet es das Charakterbild des für sein Jahrhundert viel zu freisinnigen Königs ab, der mehr ist als ein König, nämlich ein königlicher Mensch. Ihm konnte der Dichter solche milde Weisheit anvertrauen, und es spricht für Grillparzer, daß er dies wagen durfte, ohne die Grenze der Natürlichkeit, die ihm heilig war, zu überschreiten. Spricht ein König so? Die Frage ist nur von Fall zu Fall zu beantworten. Bei Grillparzer darf er so sprechen, weil sein Urheber einer der letzten großen Dichter deutscher Zunge war, der einen König schreiben konnte.
*
In diesen Jahrzehnten der versperrten Schreibtischlade, den letzten seines Lebens, wurde Grillparzer im Umgang immer wählerischer. Er verkehrte eigentlich nur noch mit Königen und Fürstlichkeiten, die seine ängstlich verheimlichten Stücke bevölkern. Er ging in Gedanken von einem zum anderen wie ein Sammler, der hinter behüteten Türen seine Vitrinen abgeht, erhascht da einen Zug, verbüchert dort einen anderen. Neben Alfons, der zwischen seiner bajaderenhaften Geliebten und seiner viktorianischen Gattin so bedenklich schwankt – »Vier Augen drohen in Toledo mir – voll Wasser zwei, zwei andere voll Feuer!« – ist es vor allem Rudolf II., der schrullenhaft edelste aller Habsburger, der Alchimist auf dem Throne, der ihm auf seinen immer einsamen Wanderungen durch die altertümlichen Straßen Wiens oder, wenn er sinnierend im Lehnstuhl sitzt, Gesellschaft leistet. Aber auch andere gekrönte Häupter kommen Jahr um Jahr auf Besuch oder pochen unvermutet an seine Türe, ihr gelebtes Leben vom Dichter zurückfordernd: der sagenhafte König Primislaus in der panslawistischen »Libussa« und der biblische König, den die kluge Esther in einer unvergleichlichen Liebesszene so geistreich bestrickt. Was für Charakterbilder! Eine Galerie von Königen, von Meisterhand in den prunkvollen Rahmen erträumter Kulissen gezaubert.
Von allen diesen verheimlichten Stücken hat bei Lebzeiten des Dichters nur das kostbare »Esther«-Fragment einen Schimmer von Bühnenlicht erblickt. Es wurde, dank den Bemühungen eines betriebsamen Damenkomitees, im Rahmen einer Wohltätigkeitsaufführung in Abwesenheit des fast Achtzigjährigen, der sein Fernbleiben wie gewöhnlich mit seiner Schwerhörigkeit entschuldigte, von Burgtheaterkräften dargestellt und machte »großes Glück«, wie Grillparzer in einem Brief an Paul Heyse verdrießlich feststellt – verdrießlich, weil man ihm nun in den Ohren lag, es noch einmal drucken zu lassen. »Ich bin dem Plane sehr entgegengesetzt, werde aber doch schwerlich aushalten können«, schreibt er. Dieser Plan kam indes nicht zur Ausführung und der Abdruck des Fragments im »Dichterbuch aus Österreich« von 1863, das erste, was von dem größten österreichischen Dichter nach fünfzehnjähriger Unterbrechung seiner Beziehung zum Leserpublikum wieder im Druck erschienen war, blieb auch das letzte. Er ist fertig! denken die jungen Leute, ahnungslos, daß zur gleichen Zeit drei mächtige Fünfakter: »Bruderzwist in Habsburg«, »Libussa« und »Die Jüdin von Toledo« in seiner Schreibtischlade eingesargt ihrer Auferstehung entgegenharren, wie die Habsburgerleichname im Totenkeller der Kapuzinergruft. Er ging täglich an ihr vorüber, denn sie lag gleich um die Ecke seiner Zweizimmerwohnung in der Spiegelgasse. Wie wienerisch nüchtern und märchenhaft zugleich war doch das Leben des verdrießlichen alten Mannes.
Wer immer das Bruchstück der »Esther« auf der Bühne gesehen und in dem preziös gedruckten Almanachbändchen gelesen hatte, fragte erstaunt und vorwurfsvoll: »Warum hat er das nicht zu Ende geschrieben?« Auch Frau Auguste von Littrow-Bischoff, eine geistreiche Wiener Gesellschaftsdame, die ihm zu Weihnachten einen Fasan, begleitet von einem Christbaum, verehrt, fragt ihn das manchmal und so gründlich, daß der Uralte, sich in seinen eigenen Gedankengang verwickelnd, verworren zu reden beginnt, worauf sie nach seinem Tod ein Schriftchen zu Papier bringt und veröffentlicht, in dem sie ihre Fragen und seine oft recht widerwillig gegebenen Antworten gewissenhaft bekanntgibt. Allerdings sieht sie sich ein paar Jahre später von Laube, dem großen Burgtheaterdirektor, desavouiert. Laube, der gleichfalls und durch viele Jahre Grillparzer besucht und als Theaterdirektor und Freund manches gefragt hat, sagt in seinen »Erinnerungen« mit der ihm eigenen kaltschnäuzigen Trockenheit, daß Grillparzer ihm auf eine in gleicher Richtung zielende Frage erwidert habe, er habe »den Plan für Esther total vergessen«. Aber Grillparzer mag wie in anderen Fällen auch diesmal dem inquisitorischen Theaterdirektor gegenüber mit seinen Bekenntnissen zurückhaltender gewesen sein als im Gespräch mit der ihm so ergebenen Freundin, von deren Takt er sich weniger Ruhestörung erwarten durfte als von dem immer tatgeladenen Laube. Gleichzeitig äußert Laube als der erfahrene und maßgebende Dramaturg, der er war, daß selbst, wenn Grillparzer der Frau von Littrow all das erzählt haben sollte, was sie erzählt, »die Ausführung des Stückes wohl anders, will sagen, gelinder« geworden wäre.
Gelinder als das Buch Esther in der Bibel, das selbstverständlich die Grundlage der Dichtung Grillparzers wie der »Esther« des Racine und jeder anderen Darstellung des oft und immer wieder bearbeiteten Stoffes bildet? In diesem vorbeugenden »gelinder« des erfahrenen Theatermannes steckt die Antwort, die Grillparzer zwar nicht der schöngeistigen Verehrerin, wohl aber sich selbst gegeben haben mag, als er das Fragment Fragment sein ließ.
Das Buch Esther, wie wir es aus dem Buch der Bücher kennen, ist der wahrscheinlich älteste historische Roman in der uns bekannten Literaturgeschichte der Menschheit. Es ist ein Werk der epischen Kunst weit mehr als eine religiöse Offenbarung und setzt, wie jede Novelle, bei seiner Dramatisierung einen Einfall voraus, von dem ausgehend der Nachgestalter die überlieferte Begebenheit in eine neue interessante Beleuchtung zu rücken vermag. Dieser Einfall ist als Ausgangspunkt aus dem »Esther«-Fragment deutlich herauszulesen. In seiner letzten Schlußfolgerung sich zu ihm zu bekennen unterließ der Dichter jedoch aus guten Gründen.
König Ahasver ist mit seiner Gemahlin zerfallen. Er läßt die schönsten Mädchen in seinem Reich zusammentrommeln, um, ein Despot auch in der Liebe, ihr zu Trotz eine andere Frau zu freien. Esther, die Ziehtochter des weisen Mardochai, wird von dem Aufgebot ereilt. Aber bevor sie zu Hofe geht, weist Mardochai sie an, wenn es dazu kommt, sich nicht als Jüdin zu erkennen zu geben. Esther hält sich an diese Vorschrift, die dem Wunsch des Vormunds entspringt, auf den König Einfluß zu gewinnen. Sie gewinnt die Liebe des Königs, indem sie ihm zuredet, zu seiner Frau zurückzukehren, was der Hauptpunkt ist in jener entzückenden Szene, die den zweiten Akt abschließt. Dann aber wird sie, mehr und mehr, Gefangene ihrer ersten Lüge, und da es zu der von Haman angezettelten Judenverfolgung kommt, steht sie auf der falschen Seite und kann nichts tun, um die Verfolgung ihrer Glaubensgenossen zu verhindern. Zeitgemäß ausgedrückt, sie geht, weil sie gelogen hat, zu einem wenn auch nur duldenden Faschismus über. Das ist schon vorgekommen bei hochgekommenen Jüdinnen und könnte auch auf dem Theater vorkommen. Aber es ist, alles in allem, mehr ein Vorwurf für eine satirisch gewürzte Offenbachiade oder für eine geistschillernde sophistische Komödie von Giraudoux (»Esther 38?«), als für den Dichter von »Weh dem, der lügt«. Das hatte Grillparzer, obwohl von dem Stoff hingerissen, in einem bestimmten Augenblick erkannt, und darum ließ er ihn nach dem vollendeten zweiten Akt abgebrochen liegen. Sein Urteil auch in eigener Sache hat, selbst im hohen Alter, nichts von seiner ursprünglichen Schärfe eingebüßt. Von der Härte des Diamanten ritzt es jedes und wird von keinem anderen Urteil geritzt. Indem er die zweite Hälfte seines biblischen Stückes, mit Ausnahme der Eingangsszene zum fünften Akt, weise vernichtete, rettete er das bezaubernde Charakterbild seiner lieblichweisen Esther für die Nachwelt.
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Kein Zweifel, Grillparzers greisenhafte Existenz in einem ihm zeitweise entfremdeten Wien war eine Tragödie. Aber jede Tragödie hat auch ihre Annehmlichkeiten und aufatmenden Entschädigungen – hielte man sie sonst aus? Der halb Vergessene lebte als ein heimlicher Kaiser im düsteren Bereich seines Schattenhofes, den er zusammenrief, wann immer es ihm gefiel. Was für Erschütterungen, was für Erhebungen warteten seiner im Kreise selbstgeschaffener Gestalten, deren Anblick er mit niemand mehr zu teilen hatte. Kein Wunder, daß dem alten Herrn vor seiner eigenen Größe manchmal schwindlig wurde, so daß er einmal, noch als Archivdirektor, von der Bibliotheksleiter stürzte und ein andermal zweiundsiebzigjährig als Kurgast in Römerbad eine Treppe hinunterpurzelte. Seine Schwerhörigkeit führte er wehleidig darauf zurück, man weiß nicht recht, auf den ersten Fall oder den zweiten. Aber auch sie hatte teilweise ihr Gutes. Sie ermöglichte es ihm, lästige Besuche abzuwehren und sich allen vereinsbrüderlichen und gesellschaftlichen Veranstaltungen zu entziehen. Während sie ihn beispielsweise in dem neu erbauten prächtigen, allzu prächtigen Musikvereinssaal feierten und Dr. Laube eine schöne Rede hielt, saß er unbemerkt in seiner Studierstube und las in seinem geliebten Lope, solcherart den von Schopenhauer zuhöchst gepriesenen Zustand des »Ungehudeltseins« genießend.