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Siebentes Kapitel.
Vorgeschichte einer Reise

»Ein österreichischer Dichter sollte höher gehalten werden als jeder andere; wer unter solchen Umständen den Mut nicht ganz verliert, ist wahrlich eine Art Held.«

(Tagebuch)

 

»Wenn jemand eine Reise tut so kann er was erzählen«, versichert der deutsche Philister, der an einer Schnur von Sprichwörtern sich durchs Leben tastet, seinen Freunden am Stammtisch, wenn einer von ihnen, weil er auf Reisen ging, in der Runde fehlt. Diese sprichwörtliche Behauptung gilt freilich nur mit einigen Einschränkungen. Denn erstens ist, daß jemand etwas erzählen kann, noch keine Gewähr dafür, daß er erzählen kann; wie umgekehrt ein Erzähler im höheren Sinn nur derjenige ist, der es auch ohne Reise kann. Und dann: Was erzählt der Philister dem Philister am Stammtisch? Immer dasselbe im Grunde. Wie das Essen und wie das Wetter war, und daß man sich vor Taschendieben im Gedränge hüten müsse. Interessanter wäre es unter Umständen zu erfahren, was er nicht erzählt, nämlich, warum er auf Reisen ging, welche die Beweggründe seiner vorbedachten Platzveränderung waren. Gerade hierüber aber gibt Grillparzer in seinen gewissenhaft geführten Tagebüchern immerhin einige Andeutungen, die als Beiträge zu seiner Charakteristik nicht zu unterschätzen sind. Übrigens kann er auch erzählen; er wäre, wenn er es darauf anlegte, ebenso groß als Erzähler wie er als Dramatiker ist.

Es gibt Reisen und Reisen: solche, die einen Zweck haben, und solche, die einen Zweck vortäuschen, um abreisen zu können. Das war die Sache Grillparzers; er hatte in der Fremde nichts zu suchen; folglich suchte er es. Seine Reisen waren, wie es derartige Unternehmungen, einen Urlaub von sich selbst zu nehmen, meistens sind, immer eine Flucht. Eine Flucht wovor? Vor Österreich vor allem, mit dem er sich, ein unsterblicher Österreicher, immer schlecht vertrug; und vor sich selbst, mit dem er sich noch schlechter vertrug. Das wird er in späteren Jahren einmal erschütternd klar ausdrücken in einem Gedicht, das er in Konstantinopel, von Reise und Heimkehr gleich angewidert, »morgens im Bette« zu Papier bringt:

Schon bin müd' zu reisen,
Wär's doch damit am Rand.
Vor Hören und vor Sehen
Vergeht mir der Verstand.

So willst du denn nach Hause?
O nein! Nur nicht nach Haus'!
Dort stirbt des Lebens Leben
Im Einerlei mir aus.

Wo also willst du weilen?
Wo findest du die Statt?
O Mensch, der nur zwei Fremden
Und keine Heimat hat!

Er war über Fünfzig, als er das schrieb. 1826, als er nach Berlin fuhr, um über Weimar zurückzukehren, war er erst Mitte der Dreißig. Er kannte ein paar Berliner Justizräte, die er, wahrscheinlich amtlich, in Wien kennengelernt, und die ihn beim Abschied in üblicher Art aufgefordert haben mochten, doch auch mal nach Berlin zu kommen. Er wollte dem siebenundsiebzigjährigen Goethe persönlich einen Besuch machen. Und er wollte wohl auch ein bißchen nachsehen, wie es um seinen Ruhm in Deutschland stand. Aber all das waren nur oberflächliche Gründe, nicht der tiefere Grund für seinen Hunger nach neuen Horizonten. Der letzte Grund war sein zunehmendes Zerfallensein mit seiner Wiener Umgebung, über dessen Ursachen er recht wohl Bescheid wußte, obgleich er sie in der Vorgeschichte seiner Deutschlandreise eben nur andeutet.

Da war vor allem sein Meisterwerk, der »Ottokar«, der im Winter 1825 nach langem, zähem Ringen mit dem Oktopus der österreichischen Zensur im Burgtheater in denkwürdiger Besetzung zur Aufführung gelangt, zugleich bejubelt und beschimpft worden war. Mit der Zeit überwog das aus nationalen Empfindlichkeiten der Ungarn und Böhmen entspringende Geschimpfe den Jubel der Kenner, und es kam so weit, daß er, wie er seinem Tagebuch und der Nachwelt gesteht, seine Speisestunde im Gasthaus verlegte – er war zeitlebens ein Gasthausesser – und alle Einladungen in ihm befreundete Häuser ablehnte, um den Vorwürfen und dem törichten Gefrage zu entgehen. Auch das Mißtrauen der klerikalen Hofpartei war nur gewachsen, das auf seine Verse über den Campo Vaccino zurückging und unausrottbar weiterwucherte. Das ging schließlich so weit, daß ihn die Polizei frühmorgens aus dem Bette holte, ihn für verhaftet erklärte und eine Hausdurchsuchung bei ihm anstellte. Der vorgeschützte Grund war, daß er seit einigen Wochen einem allerdings liberalen Geselligkeitsverein, der sogenannten Ludlamshöhle, angehörte, als deren eingetragenes Mitglied er den Spaßnamen »Saphocles der Istrianer« führte, den zu verstehen man wissen muß, daß die Donau auf Lateinisch Ister hieß. Jedenfalls war dieser Handstreich der Reaktion ein Grund mehr, die Donau für einige Zeit zu fliehen und bei Abfassung eines wohlüberlegten Urlaubsgesuches und den nötigen Reisevorbereitungen »auf« etwas anderes zu denken, wie er mit einem eigensinnig festgehaltenen Sprachfehler gerne sagt. Diese Vorbereitungen zumal, um aus einem eingesperrten Lande in ein versperrtes zu gelangen, waren mühsam genug. Es gab im damaligen Österreich wie auch in Deutschland noch keinen Dampfwagenverkehr; sogar in England wurde die erste kurze Bahnstrecke eben erst gebaut. In der übrigen Welt reiste man mit der Post, wobei in Mitteleuropa die zahllosen Schlagbäume, von einer immer argwöhnischen Polizei strenge überwacht, eine weitere Erschwerung des Reiseverkehrs bedeuteten. Die Paßschwierigkeiten waren beträchtlich und ihre Bewältigung setzte einen im voraus sorgfältig bedachten und ausgearbeiteten Reiseplan voraus. Man brauchte Kreditbriefe, Empfehlungen und Bürgen, von Stadt zu Stadt, von einem Ländchen ins andere. Um so besser, wenn man all das brauchte. So begann die ablenkende Reise wenigstens schon vor der Reise.

»König Ottokars Glück und Ende«, das geschmähte österreichische Trauerspiel, dessen Held ein böhmischer König ist, bescheinigt die Konversion Grillparzers zum Österreicher. Schon Jahre vorher hatte er in seinem Merkbuch notiert: »Ich bin ein dorischer Dichter. Ich kümmere mich den Henker um die Sprache der Leipziger Magister und des Dresdner Liederkreises. Ich rede die Sprache meines Vaterlandes.« Das bezog sich zunächst nur auf die Sprache. Jetzt aber entwickelt sich daraus eine auch politische Überzeugung. Er stellt dem deutschen Nationalismus bewußt den österreichisch-habsburgischen Übernationalismus gegenüber. Schließlich wird diese seine Haltung sich zu dem mißbilligend prophetischen Kernsatz verdichten: »Von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität«, der warnend ins zwanzigste Jahrhundert hinüberweist und Grillparzer zu einem Bekämpfer der Nazipest avant la lettre macht.

Dieser biographische Zusammenhang wird um so deutbarer und aufschlußreicher, wenn man sich vor Augen hält, daß der mittelalterliche Ottokar der erste mitteleuropäische Diktator im zeitgemäßen Sinne war; er war es trotz Tshingis Khan, der nur ein großmäulig asiatischer Weltteilverschlinger war. Ottokar hingegen ist geradezu ein Vorläufer Napoleons, dessen ungeheure Erscheinung Grillparzer bei Formung der Gestalt Modell steht, getreu seiner Maxime, sich an die Wirklichkeit zu halten, aber sie zur Überwirklichkeit zu erhöhen. Grillparzers Stück ist ohne das Vorbild Napoleons ebensowenig denkbar wie das zeitgenössische Romanwerk Balzacs, der in seiner Comédie Humaine alle Charaktere vereinigen wollte, wie der Korse alle Länder. Doch während Balzac bei aller Genialität in der Vielfalt der Erscheinung befangen bleibt, dringt Grillparzer zur Idee vor, indem er den Gewaltmenschen an dem Sittengesetz, das Chaos an der Ordnung scheitern läßt – ein sehr zeitgemäßer Vorwurf. Daß schließlich diese höhere Ordnung sich am Ende des dreizehnten Jahrhunderts in der Gestalt des ersten Habsburgers verkörperte, machte kurz nach der Besiegung Napoleons diesen Stoff in der Hand eines österreichischen Dramatikers um so empfehlenswerter. Nur ein österreichischer Zensor dieser verschreckten Zeit konnte dieses für die Dynastie so glückliche Zusammentreffen verkennen.

Wie die Figur des an der Menschheit frevelnden Usurpators, gehen auch der deutsche und sein Gegenspiel, der österreichische Nationalismus, ja der Nationalismus überhaupt, auf die napoleonische Epoche des nachrevolutionären Frankreich zurück. Der Nationalismus entspringt, figürlich ausgedrückt, aus einer Ehe, deren weiblicher Teil die Französische Revolution und deren männlicher Partner Napoleon war; er ist beider Kind.

In Frankreich zur Welt gebracht und von dem peuple en armes, dem »Volk in Waffen« siegreich propagiert, ruft dann der mannbar gewordene französische Nationalismus überall in den Nachbarländern seinesgleichen hervor, zuerst in einem zu Boden getretenen Deutschland, später in Italien, in Griechenland, in Ungarn, in Böhmen und so fort. Auch das Erwachen des österreichischen Nationalgefühls, das auf die Tiroler Erhebung von 1809 zurückgeht, und dessen Wortführer folgerichtig der Tiroler Hormayr wurde, ist eine seiner Auswirkungen. Aber freilich war dieser österreichische Nationalismus ein nationales Bekenntnis ganz eigener Art. In Wien im Salon der feurigen Patriotin Karoline Pichler, der Tochter einer Hofdame der Kaiserin Maria Theresia, höfisch zugestutzt und dynastisch gefärbt, war er von Haus aus ein schwarzgelber Nationalismus und als solcher ein habsburgischer Übernationalismus, der in einem halben Jahrtausend immerhin geglückte Versuch, aus mehreren Nationalismen einen einzigen zu machen. Das »Gott erhalte!« war ihm angeboren, mit oder ohne die völkerversöhnende Haydn'sche Melodie. Musikalisch geredet war es ein Nationalismus mit einem Kontrapunkt, kein preußisch linearer, dessen Gefährlichkeit Grillparzer ebenso wie der ihm sonst nicht maßgebende Metternich auf den ersten Blick erkannte. Sein »Ottokar« wollte kein Beitrag sein zu jener »neudeutschen Literatur« eines ihm verhaßten Teutonentums, »die nicht die Deutschen zur Wahrung ihres Nationalcharakters ermuntern, sondern ihnen einen neuen Charakter anbilden, sie aus einem ruhigen, verständigen, bescheidenen und pflichttreuen Volke zu Feuerfressern und Weltverschlingern machen wollte …« Nie ist der verbrecherische Nazismus besser gekennzeichnet worden als in diesen, ein Jahrhundert vor seiner unglückseligen Heraufkunft zu Papier gebrachten, wahrhaft seherischen Worten Franz Grillparzers.

Eine Auseinandersetzung zwischen einem zeitgemäßen Nationalismus und Habsburgs geschichtlich bedingter Sendung, die von Haus aus eine völkerversöhnende und somit eine europäische war, verdankte das Trauerspiel von Ottokars Glück und Ende seine dichterische Gelungenheit noch einem anderen Umstand, auf den schon der balladeske Titel deutet. Man weiß von dem Böhmenkönig, geschichtlich verbürgt, daß er Glück hatte und daß es endete. Er hat, ein Hitler des dreizehnten Jahrhunderts, ein großes Reich zusammenerobert, das vom Belt bis zur Adria, von Königsberg bis Triest reichte, bis zu dem Augenblick, da sein unsittlicher Bestand unter den Toren Wiens vor der sittlichen Überlegenheit einer Ordnung gebietenden Gewalt kapitulieren mußte. Das ist in großen Zügen das geschichtskundige Wissen, das dem Dichter zur Verfügung stand. Aber was hat Grillparzer aus diesem Wenigen gemacht; buchstäblich alles, unter anderm auch eine von ihm ziemlich frei ausgestaltete Ehetragödie, die ihn uns wieder einmal als den immer noch viel zu wenig gewürdigten Spezialisten des ehelichen Verhältnisses zeigt. Wie Zawisch, der slawische Verführer, der ›vilain‹ der Tragödie, in die zweite Ehe des erfolgberauschten Ottokar eindringt; wie sich in dieser zweiten Ehe mit einem herrischen Ungarmädchen rächt, was Ottokar an ihrer Vorgängerin, der alternden Margarete, gesündigt hat – genau wie es sich in Napoleons zweiter Ehe mit der österreichischen Kaiserstochter rächte –; wie es sich schließlich auch politisch rächt und den Untergang Ottokars nach sich zieht: das ist hier in fünf hochgebauten Akten von einem Meister des Trauerspiels, und nicht nur des geschichtlichen, gezeigt. Und wie der reiche Inhalt des auch in seinem Bauplan bewundernswerten Werkes, so die Form. Grillparzers dramatischer Vers hat, wie sein Urheber, in schlechtgelaunten Augenblicken etwas Harthöriges und weist dann zuweilen eine gewisse metrische Unverbindlichkeit auf, die sein Ottokar-Drama durchaus aufs glücklichste vermeidet. Wenn er es hin und wieder scheinbar nicht tut und etwas schroffer sich auslebt, dient diese scheinbare Härte nur dem höheren Zweck dramatischer und schauspielerischer Charakterisierung. So, wenn Ottokar die Gründe seiner Ehetrennung von Margarete in einer Art Thronrede bekanntgebend, ihre Aufzählung ungeduldig unterbricht:

Allein wozu noch lange eins und zwei,
Denn erstens, zweitens, drittens, bleibt's dabei!

Das ist napoleonisches Raisonnement, »wachstubenmäßig« ausgedrückt, was gleichfalls beabsichtigt ist, das dem Charakter seine Eigenfarbe gibt, wie auch gleich darauf, wenn er der ein Gespräch unter vier Augen beantragenden verstoßenen Frau angesichts des versammelten Hofes bedeutet:

Sprecht immer hier; nur unter Königen
Ist Ottokar der König nicht allein!

Ebenso parvenuhaft klingt es im Munde des Emporkömmlings, wenn er, im ersten Akt von glücklichen Nachrichten geradezu verfolgt, den Boten des Reiches, die ihm die Kaiserkrone antragen sollen, mit den Worten entgegenblickt:

Nun, Erde, steh mir fest!
Du hast noch keinen Größeren getragen!

Und, im Gegensatz, zwei Akte später, die mahnende Stimme der Menschlichkeit:

Die Welt ist da, damit wir alle leben.
Und groß ist nur der ein' allein'ge Gott!
Der Jugendtraum der Erde ist geträumt,
Und mit den Riesen, mit den Drachen ist
Der Helden, der Gewalt'gen Zeit dahin.

Es ist Rudolf von Habsburg, der friedliebende Ahnherr des in späteren Jahrhunderten nicht immer ganz so friedliebenden Hauses, dem Grillparzer mit gutem Gewissen diese versöhnliche Rede in den Mund legt. Dies geschieht in der sogenannten »Zelt-Szene«, einer der größten Theaterszenen nicht nur der deutschen dramatischen Literatur. Da tritt auch ein geschichtlich beglaubigter »Reimchronist« Ottokar von Horneck, »Dienstmann des edlen Ritters Ott von Lichtenstein«, auf, der etwas über den »Österreicher« zu sagen weiß, weil er einer ist. Sein Ländchen, das er dem Kaiser ans Herz legt, war damals im dreizehnten Jahrhundert freilich noch kleiner als es im zwanzigsten wurde, aber auf den Umfang kommt es in solchem Falle nicht an. War nicht auch England ein kleines Land, »a little breed of men«, als Shakespeare es »a precious stone set in the silversea« nannte in ein paar unvergänglichen Versen, deren Gegenstück ist, was Grillparzer zum Lobe Österreichs liebend vorzubringen weiß:

Es ist ein gutes Land,
Wohl wert, daß sich ein Fürst sein unterwinde!
Wo habt Ihr dessengleichen schon gesehn?
Schaut rings umher, wohin der Blick sich wendet,
Lacht's wie dem Bräutigam die Braut entgegen.
Mit hellem Wiesengrün und Saatengold,
Von Lein und Safran gelb und blau gestickt,
Von Blumen süß durchwürzt und edlem Kraut,
Schweift es in breitgestreckten Tälern hin –
Ein voller Blumenstrauß, soweit es reicht,
Vom Silberband der Donau rings umwunden –
Hebt sich's empor zu Hügeln voller Wein,
Wo auf und auf die goldne Traube hängt
Und schwellend reift in Gottes Sonnenglanze;
Der dunkle Wald voll Jagdlust krönt das Ganze
Und Gottes lauer Hauch schwebt drüber hin
Und wärmt und reift und macht die Pulse schlagen,
Wie nie ein Puls auf kalten Steppen schlägt …

Und hier tritt der Österreicher aus der Landschaft hervor:

Drum ist der Österreicher froh und frank,
Trägt seinen Fehl, trägt offen seine Freuden,
Beneidet nicht, läßt lieber sich beneiden!
Und was er tut, ist frohen Muts getan.
's ist möglich, daß in Sachsen und beim Rhein
Es Leute gibt, die mehr in Büchern lasen;
Allein, was not tut und was Gott gefällt,
Der klare Blick, der offne richt'ge Sinn,
Da tritt der Österreicher hin vor jeden,
Denkt sich sein Teil und läßt die andern reden.

Das ist kein lyrisches Porträt in zerfließenden Farben, vielmehr eines, dessen Wesenszüge sich in Jahrhunderten unverändert erhalten haben, der Verleumdung wie der Zerstörung Trotz bietend. Und von gleicher Beschaffenheit ist auch das Bildnis des ersten Habsburgers, das, aus überlieferten realistischen Zügen meisterhaft zusammengesetzt, der große Charaktermaler in der Zeltszene vor uns hinstellt. Freilich macht er dabei von dem schönen Vorrecht des großen Dichters Gebrauch, die Wirklichkeit zwar nicht zu verleugnen, aber zu erhöhen. Auch Shakespeare, der Meister aller Meister, tut dies in seinem »Richard II.«, der in der Geschichte nicht ganz so liebenswürdig und leidensbereit war. So auch der Habsburger, wie ihn Grillparzer in seinem realistischen Idealporträt des Kaisers Rudolf verewigt. Der Habsburger war nicht immer ganz so, wie ihn der österreichische Dichter malte, aber er malte ihn, wie das österreichische Volk gewünscht hätte, daß er immer gewesen wäre; eine mythische Gestalt, aus Zeit und Ewigkeit gemischt, läßt er, am Eingang stehend, ihren großen Blick auf uns ruhen. Und so hat ihn auch sein erster Darsteller auf dem Wiener Burgtheater gespielt, worüber Grillparzer, der als ein Theatermann die Theateranekdoten liebte, in seinen Erinnerungen ein hübsches Geschichtchen zu erzählen weiß. Der für die Rolle in Aussicht genommene Schauspieler, ein Herr Heurteur, macht sich ein persönliches Zusammentreffen mit dem Dichter zunutze und fragt ihn, wie es die Art der Schauspieler in solchen Fällen ist, wie er, Grillparzer, sich den Rudolf von Habsburg gedacht habe. Grillparzer, ein kundiger Thebaner, der sich beim Theater auskennt und mit Theaterleuten umzugehen versteht, antwortet bescheiden mit der Gegenfrage, wie er, Heurteur, ihn spielen werde. Worauf Herr Heurteur, der sich mit Vorliebe bildlich ausdrückt, entschlossen erwidert: »Halb Kaiser Franz und halb Heiliger Florian!« Grillparzer war ganz einverstanden. Das Publikum war es gleichfalls.

Und der Habsburger? Wie verhielt sich das Erzhaus zu einem patriotisch gesehenen Familienbildnis, das, mit Grillparzers eigenen Worten geredet, »kein bezahlter Schmeichler« würdiger entwerfen, schöner hätte ausführen können? Es verhielt sich in der Hauptsache ablehnend, wenn auch mit einigen Unterschieden. Grillparzer hat unter vier habsburgischen Kaisern gelebt. Volle Gerechtigkeit, nicht zu reden von Dank, hat ihm keiner zuteil werden lassen trotz der Berufung ins Herrenhaus, durch die Kaiser Franz Josef, als letzter in der Reihe, sich und sein Oberhaus ehrte.

Zwei Jahre nach der »Medea« beim Burgtheater eingereicht, wurde das vaterländische Trauerspiel zunächst von der Zensur verboten. Was hätte der Kaiser Franz gegen ein Stück einwenden können, das ihm und dem Vaterland bewegten Herzens huldigte? Nicht mehr und nicht weniger, als was der übereifrige Zensor glaubte, daß der Kaiser dagegen haben könnte. »Ich habe gar nichts gegen Ihr Stück gehabt«, gestand einer dieser übervorsichtigen Herren nach Jahr und Tag dem Dichter ganz offenherzig ein: »Aber ich dachte mir – man kann nicht wissen!«

Natürlich war auch das eine halbe Lüge. Man wußte genau, was man nicht wissen konnte und weshalb die Historie vielleicht Anstoß erregen konnte. Da war vor allem die Ehe Ottokars, der in dem Stücke an seiner zweiten Ehe scheiterte, genau wie Napoleon, dessen zweite Frau Marie Luise die Tochter des Kaisers Franz war. Und da war ferner das österreichische Nationalitätenproblem, das Grillparzer in doppelter Gestalt in sein Werk einbezogen hatte. Zawisch, der Ottokars Frau Kunigunde, des Königs Sturz beschleunigend, zu sich herüberzieht – Marie Luise hatte in ähnlicher Lage an Graf Neipperg einen Tröster gefunden – war Böhme; Kunigunde Ungarin. Sie ist stolz und herrschsüchtig; auch die Art, wie sie sich in der großen Hofszene des ersten Aktes beim König mit einem coup de théâtre einführt, ist ganz ungarisch. Im langen Mantel bis zu den Fersen verhüllt, tritt sie an der Hand des Vaters vor Ottokar hin, um, den Mantel abstreifend, als »schöner Krieger« im Soldatenkostüm vor ihm stehend, den auf eine so artige Überraschung nicht Gefaßten sogleich zum Gefangenen ihrer Reize zu machen. Wird Böhmen, wird Ungarn nicht beleidigt sein? fragte sich nicht nur der beflissene Zensor, sondern auch Metternich, der seine Ungarn, seine Böhmen kannte. So verbot man zunächst Aufführung und Drucklegung des Stückes. Alle Bemühungen des Autors, die in einem von ihm höchst ergötzlich geschilderten Besuch bei dem sybaritischen Hofrat Gentz gipfeln, blieben erfolglos. Es blieb ihm nichts andres übrig, als sich in der Hofkammer als Hofkonzipist, der er nachgerade geworden war, unwillig weiter zu betätigen. Daß der verhinderte Dichter in dieser Lage nur immer tiefer in einen ihn immer bedrohenden Mißmut versank, ist nur allzu begreiflich.

Da aber sorgte die Vorsehung, die beim Theater oft eine größere Rolle spielt als der in diesem Falle völlig machtlose Direktor, für einen lustspielmäßigen Ausweg. Die Kaiserin, die an Zahnschmerzen leidet, beauftragt ihren Vorleser, den Herrn von Collin, ihr was zum Lesen zu verschaffen. Dieser aber zählt zu der patriotisch-österreichischen Gruppe, die Grillparzers Stück kennt und sich dafür einsetzt, und er vermag es, das im Papierverlies der Zensur schlummernde Werk vor die Allerhöchsten Augen und Ohren zu zaubern. Sie läßt es sich von ihm vorlesen, erkennt sofort den patriotischen, wenn nicht seinen poetischen Wert, spricht darüber mit dem Kaiser und damit kommt der Stein ins Rollen. Die einander widersprechenden Beurteilungen der Kaiserin einerseits und der Zensurstelle anderseits werden von dem gleichfalls übervorsichtigen Monarchen zunächst einem Schiedsrichter vorgelegt, jenem Vertrauensmann, der nach dem Beichtvater an erster Stelle steht, dem Leibarzt Dr. Stift. Er muß sich als literarischer und politischer Experte betätigen und tut es mit einer Begeisterung, daß sein Ende März 1824 erstattetes Gutachten zunächst die Druckerlaubnis herbeiführt, die nach einem letzten hartnäckigen, aber vergeblichen Widerstand des Grafen Sedlnitzky doch anfangs Juni erteilt wurde. Mit der Aufführung aber hatte es noch immer seine Weile, denn der Polizeipräsident gab sich nicht so rasch geschlagen. Da es aber die Kaiserin war, die er in diesem Intrigenstück als Gegenspielerin hatte, fiel die Entscheidung sogar über seinen Kopf weg und ohne sein Wissen durch einen Befehl des Kaisers im Dezember zu Grillparzers Gunsten und das Burgtheater hätte nun das Stück sogar aufführen müssen, selbst wenn Schreyvogel nicht gewollt hätte. Verzögern hatte man es können, verhindern nicht.

Daß der Druck schon vorher erlaubt und erfolgt war, verwandelte sich freilich in eine empfindliche Buße, die das Schicksal dem Dichter auferlegte. Denn ein im Druck vorliegendes Stück war nach dem damaligen Theaterrecht vogelfrei, jede Bühne konnte es ohne weitere Entschädigung aufführen. Graf Palffy, der frühere Burgtheaterdirektor, will es sich nicht entgehen lassen und spielt es gleichzeitig mit dem Burgtheater in dem nur einen Büchsenschuß entfernten Theater an der Wien, wo es ebenso unzweideutig versagt, wie es im Burgtheater den größten Eindruck macht. Beides lag an der Darstellung, zumal der Hauptrolle. In der »Burg« spielt den Ottokar Herr Anschütz, ein großer Schauspieler, im Theater an der Wien ein Herr Rott, der am Tage der Erstaufführung im Burgtheater sich bei einem Freund erkundigt, wie der Herr Anschütz den Ottokar gespielt habe? »Streng, heftig, hart!« lautet die sachgemäße Auskunft. »Ich werde ihn mild geben!« sagt der entschlossene Herr Rott, ohne mit dieser originellen Auffassung eine andere Wirkung zu erzielen, als daß das von ihm bediente Theater an der Wien nach wenigen Aufführungen Bankrott machte.

Aber auch im Burgtheater, wo Anschütz den Ottokar und die große Schröder die alternde Königin Margarete spielte, überwog bald genug das Gebelfer der Nationalen den stillen, wenngleich währenden Eindruck der Dichtung. Ungarn und Böhmen machten Grillparzer die Hölle gehörig heiß, was schließlich so weit ging, daß ein böhmischer Heißsporn ihm die ewige Verdammnis für sein Verbrechen an der nationalen Sache in sichere Aussicht stellte. Grillparzer sammelte alle diese Beschimpfungen und las sie in seiner Ludlamshöhle wohlgelaunt seinen Vereinsbrüdern vor, was, zusammen mit dem gleichfalls vorgelesenen Gedicht »Vision«, in dem zwei Frauen am Krankenbette des Kaisers sitzen, zu seiner unvermuteten Verhaftung führte. Nicht einmal die vorübergehenden Zahnschmerzen der bigotten Kaiserin konnten an dem dauernden Mißtrauen des Hofes etwas ändern, und dies war ein Grund mehr, an eine erfrischende Luftveränderung und Auslandsreise zu denken.

*

Noch ein anderes verschwiegenes Kapitel gehört in den Vorbericht dieser Reise. Es umfaßt, was der Dichter selbst im Lebensbericht, reizend schülerhaft, seine »Herzensangelegenheiten« nennt, worunter, wie wir aus seinen Tagebuchseufzern wissen, in der Hauptsache das Glück und der Kummer jener »drei Frauenzimmer« zu verstehen ist, deren »Unglück gemacht zu haben« er sich im geheimen anklagt. Immerhin, es waren ihrer drei, bei dem schottischen Dean Jonathan Swift, mit dem er in diesem Punkte eine unheimliche Ähnlichkeit aufweist, waren es nur zwei gewesen: Stella und Vanessa. Dort wie hier war es eine Tragödie der Unentschlossenheit, die ihn zu einem Don Juan wider Willen machte.

Da war vor allem die Geschichte mit seiner Tragischen Muse, der unglücklichen Charlotte, die aus war ohne aus zu sein, obwohl sie in der Hauptsache, seit Jahren schon, nur noch aus quälenden Selbstvorwürfen und meistens unterlassenen Besuchen bestand. War sie Stella, so war Kathi Fröhlich eine auf die Dauer nicht minder unerfreuliche Vanessa. Er hatte ihr im »Ottokar« als dem »Bürgerkind aus Wien« ein reizendes Denkmälchen gesetzt, aber das Bürgerkind zu heiraten konnte er sich doch nicht entschließen, und wenn sie einen anderen heiraten wollte, nannte er ihn einen »Elenden«. Ihre Geschichte bestand genau genommen aus lauter Brüchen, die am Ende ein Ganzes bilden sollten, einem biedermeierischen »Fleckerlteppich« vergleichbar, der, aus Tuchrestchen zusammengesetzt, am Ende einen wärmenden Bodenbelag ergibt, auf dem man noch bequem herumtreten kann. Und da war schließlich die unerlaubt schöne Marie Daffinger, wie sie bald genug heißen wird, obwohl sie vorläufig noch anders heißt. Einstweilen hatte der »rohe Maler« eine ordinäre Wachebeleidigung begangen, war eingesperrt worden und Grillparzer hatte dem Nebenbuhler aus dem Arrest heraushelfen müssen; Marie zuliebe, die ihm wohl auch hin und wieder was zuliebe tut. Trotzdem wird sich die Geschichte nicht halten. Denn sie ist unberechenbar und unergründlich, einmal das »Höchst-Einfache«, dann wieder das »Unerhört-Künstliche«. Das spürt er deutlich. Wenn sie im Wagen zu dritt aus Döbling vom Heurigen zurückfahren, da kann es passieren, daß die himmlisch schöne Frau, die den beiden Männern gegenübersitzt, »dem Körperlichwerden seiner Empfindung rücksichtslos entgegen-, ja zuvorkommt«, dann aber wieder muß er es erleben, daß dieselbe Marie, an einen anderen – es ist wirklich wieder ein anderer, der Dritte in diesem seltsamen Bunde – denkend, den »gewohnten Druck« seines Knies nicht zurückgibt. Kein ganz würdiger Zustand für den Dichter der »Medea«, obwohl er in der Tagebuchnotiz das Wort »Druck« durchgestrichen und durch »Gruß« ersetzt hat – ein Unterschied wie zwischen Prosa und Vers. Auch hier reift ein Bruch heran, wenn auch in diesem Fall ein heilbarer. »Nachmittags bei M. D.« wird er später einmal, da sie längst schon Daffinger heißt, dem Gewissensspiegel vertrauen: »Die Frau schön, schön, schön …«, um in der nächsten Zeile hinzuzufügen: »Habe mich aber doch gelangweilt!« Ein Mann, der so aufrichtig mit sich selber spricht, muß notgedrungen auf Reisen gehen, zumal wenn ihn, wie dies bei Grillparzer der Fall, die Reise kaum mehr kostet als den Entschluß.

Denn das kam noch dazu: Grillparzer war Staatsbeamter und die Staatsangestellten waren im alten Österreich zwar elend bezahlt, hatten aber dafür gewisse Begünstigungen auf der Kaiserlichen Post und später auf den Bahnen. Sie zahlten entweder die Hälfte oder gar nichts, wofür sie dann natürlich in einer höheren Wagenklasse reisten. Es ist anzunehmen, daß der Dichter des »Ottokar«, sparsam veranlagt und erzogen wie er war, sich auch diesen Umstand zunutze machte. Die Reise, die zum größeren Teil über österreichisches Gebiet ging, kostete ihn so wenig, daß es fast Verschwendung gewesen wäre, zu Hause zu bleiben.


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