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Achtes Kapitel.
Österreicher in Deutschland

»In Wien zu wenig Bildung, in Berlin zu viel!«

(Selbstbiographie)

 

Unter diesen Voraussetzungen macht sich Grillparzer Ende August auf den Weg. Es war die im Österreich jener Tage übliche Reisezeit. Das Wetter war im Nachsommer beständiger und die herbstliche Kälte noch nicht zu fürchten. Erst später, als bei zunehmender Entwicklung des Bahnverkehrs der Schienenstrang vom Wetter unabhängig blieb, spielten die meteorologischen Verhältnisse keine Rolle mehr. Postkutsche und Regen vertrugen sich schlecht.

Von Prag, das ihn an Florenz erinnert, ist Grillparzer, wie billig, entzückt, obwohl er, als ein richtiger Wiener, die vornehme Schlichtheit der wohnlicheren Wiener Hofburg dem auf seinem Burghügel steil thronenden Hradschin vorzieht. Die böhmische Geschichte hat er nach jahrelanger Beschäftigung mit »Ottokar« im Blut. Aber auch andere Stoffe nahverwandter Herkunft gehen ihm »auffordernd« durch den Sinn: Drahomira, Libussa. Und war es nicht Rudolf II., der »stille« Kaiser, der, ein richtiger habsburgischer Sonderling, dort oben auf der Königsburg ein von einem Löwen bewachtes Alchimistenleben führte, während die auf eine Auseinandersetzung drängende Weltgeschichte vergeblich an die eigensinnig verschlossene Türe pochte? Er wird ihn in späteren Jahrzehnten zum Helden seines ebenso verschlossen gehaltenen Dramas »Ein Bruderzwist in Habsburg« machen. Aber vorläufig hat er Eile weiterzukommen. Nach drei Tagen hat er genug von Prag und fährt nach Dresden.

Unterwegs macht er in der Postkutsche die Bekanntschaft eines deutschsprechenden Prager Ehepaares. Die Frau ist hübsch, was Grillparzer in seinen flüchtigen Reisenotizen hervorzuheben niemals unterläßt, der Mann, der eine Anspielung macht, daß er sich zur Verjüngung in die böhmischen Bäder begäbe, gefällt ihm weniger. Er scheint ein böhmischer Patriot zu sein, der ihn gleich mit einer gewissen Gereiztheit fragt, ob er auch die Gemäldegalerie in Prag besucht habe. Der Wiener Grillparzer muß ihn in diesem Punkt enttäuschen, was der Prager sichtlich übelnimmt. »Da gibt's Bilder!« ruft er begeistert aus: »Also besonders eines darunter, von Raffael oder Gabriel – wie er heißt!« Es spricht für Grillparzers gleichmäßig gute Reiselaune, daß er diese unschuldige Äußerung eines sich kindlich regenden Nationalgefühls in seinem Merkbüchlein gewissenhaft festhält.

In Dresden macht er Besuche. Er sieht den neugierigen Herrn Hofrat Böttiger, dem er nach der »Sappho« einen überflüssig liebenswürdigen Brief geschrieben hat, weil er ihn, wie erst hinterher herauskam, mit dem Don-Quichote-Übersetzer Bertuch verwechselt hat. Ein Blick auf die Kunstschätze Dresdens und eine mitternächtige Vorlesung des seine Gäste mit seinen Übersetzungen bewirtenden Tieck krönen den Aufenthalt in der herrlich gelegenen Stadt. Nur die »abgeschmackte« sächsische Mundart geht dem Wiener Burgtheaterdichter auf die Nerven, obwohl der Wiener Dialekt dem Sachsen wahrscheinlich um nichts lieblicher klingt.

Ein paar Tage später ist er in Berlin, dessen gegensätzlichem Wesen voll Gerechtigkeit widerfahren zu lassen der Österreicher den redlichsten Willen hat. Was ihm auch gelingt – eine Zeitlang.

Fürs erste hält er sich an seine beiden Justizräte, mit denen er in Wien bekannt wurde, und von denen der eine zugleich Vormund der reizenden jungen Sängerin Henriette Sontag ist. In Prag geboren, also eine halbe Landsmännin Grillparzers, der sie immer nur »die Liebliche« nennt, tritt sie, eben von einem Pariser Gastspiel heimgekehrt, im Königstädtischen Theater auf, wo sie ein nationalistischer Pöbel mit dem Zuruf »Fort mit der Französin!« nicht eben ermutigend begrüßt. Unbekümmert singt und trillert sie weiter und erobert im Handumdrehen die widerspenstige Stadt. Ein paar Jahre später gibt sie die Bühnenlaufbahn auf, um den italienischen Gesandten, Grafen Rossi, zu heiraten; kehrt nach zwanzig Jahren als verwitwete Gräfin Rossi noch einmal zum Theater zurück, wird noch einmal in zwei Erdteilen weltberühmt und stirbt auf einer Gastspielreise in San Franzisko am Gelben Fieber. Eine von allen Grazien gesegnete Künstlerlaufbahn, wie sie sich gleich einer voll erblühten Rose im Laufe der Jahrzehnte unter den Augen der entzückten Zeitgenossen erschließt. Damals aber, in Berlin anno 1826, war alles noch in der Knospe. Das schöne Mädchen, das, siebzehnjährig, in der Erstaufführung von Beethovens »Neunter« mitgesungen hatte, stand lockend auch am Eingang von Grillparzers Berliner Aufenthalt. War er nicht vielleicht sogar ein bißchen verliebt in die singende Liebesgöttin? In jedem Falle zog er, wie sich später herausstellen wird, ihre naturhafte Einfachheit der komplizierten Hegel'schen Trias in Berlin bei weitem vor.

Auch die zwei Justizräte, aus denen bald vier werden, lassen sich nicht spotten. Es redet sich herum, daß Grillparzer in dem Gasthof »Zum König von Portugal« wohnt und die ersten Besuche kommen. Einer der allerersten ist der Dichter Fouqué – Baron de la Motte Fouqué heißt er außerhalb der Literaturgeschichte –, der eines Morgens in militärischer Paradeuniform mit breiter, ordensbesternter Brust anrückt, während Grillparzer eben daran ist, sich zu rasieren. Er hat kaum Zeit, das Rasierzeug mit einem Seidentuch zu bedecken – nachher beim Abdecken wird er sich an dem Rasiermesser den Zeigefinger spalten –, um den Verfasser der »Undine« würdig zu begrüßen, den die Zeitgenossen neben, wenn nicht über Goethe stellen. Ohne von seinem durch die Dekorationen auf seiner Brust bezeugten Dichterruhm allzu viel Gebrauch zu machen, kommt Fouqué dem jüngeren Kollegen aufs freundlichste entgegen. Er macht sich erbötig, ihn in seine literarische Mittwoch-Gesellschaft einzuführen, was denn auch geschieht. So lernt Grillparzer den durch seine Frau mehr als durch seine Schriften berühmten Legationsrat Varnhagen von Ense und den Dichter Chamisso kennen, gegen den er »bis auf die langen Haare« auch nichts einzuwenden hat. Der erste Eindruck von Berlin ist also der gefälligste.

Erst nach ein paar Tagen meldet sich bei dem aus Wien Zugereisten der erste Widerspruch gegen den mehr abstrakten Geist der Stadt, der alles Wirkliche immer geistig sublimieren will, während der Österreicher das Geistige versinnlicht. Fouqué bestimmt Grillparzer, ihn zu dem kranken Literarhistoriker Horn zu begleiten, und bei dieser Gelegenheit wird die aus der Gegensätzlichkeit des österreichischen und norddeutschen Wesens herrührende Ablehnung deutlich. Grillparzer findet, daß Herr Professor Horn aus seinem Kranksein eine Art Geschäft mache und spricht von ihm als dem ersten in einer langen Reihe von Shakespeare-Kommentatoren, die sich bemühen, »den verständlichsten aller Dichter unverständlich zu machen«. Wozu das? Während Goethe den Charakter des Hamlet mühsam deduziert, »versteht ihn der Schneider auf der vierten Galerie ganz ohne Kommentar«. Hier haben wir, in seiner schlagfertigen Verständigkeit, den ganzen Grillparzer. Und wir haben ihn in der reizenden Boshaftigkeit, deren er unter Umständen fähig war, in dem Satz, der uns das Zusammensein mit dem großen Berliner Literaturbonzen wiedergibt: »Über alles, was er sagte und dachte, war eine Mattigkeit gebreitet, die ich später auch in seinem Kommentar zu Shakespeare wiederfand.«

Der Fall Horn wiederholt sich im Falle Hegels, des großen Philosophen und Universitätslehrers im damaligen Berlin. Er ist der Begründer eines weltbeglückenden »Systems« der neuen Staatslehre, die ein Jahrhundert später den antiliberalen »Totalitarianism« dialektisch beglaubigen wird. Grillparzer hält noch bei Kant und weiß nichts von Hegel, was er bescheiden einwendet, als ihn der Berliner Dichter Stieglitz mit dem großen Mann zusammenbringen will. Aber Herr Stieglitz läßt nicht locker. Es ist derselbe Stieglitz, der ein paar Jahre später eine traurige Berühmtheit erlangen wird durch den Selbstmord seiner Frau Charlotte, die sich erdolchte, um das Talent ihres Gatten durch ein tiefgreifendes Erlebnis zu beflügeln. Was ihr nicht gelang.

In Berlin muß man sich umtun, wie sie's hier nennen, denkt der auf einer Ferienreise begriffene Dichter und geht, gefügiger als sonst, mit Herrn Stieglitz zu Hegel, dem er gleich freimütig gesteht, daß er so viel wie nichts von seinem System wisse. »Um so besser!« sagt Hegel wohlgelaunt und stellt den Wiener Gast seinen anderen Teegästen vor. Henriette Sontag verlieblicht die dialektisch durcheinanderredende Schar. Es ist ein angenehmer Nachmittag, an dem die Hegel'sche Trias freilich die geringste Rolle spielt.

Aber Hegel, der viel von den Griechen und sogar etwas von Grillparzers Griechendramen weiß, läßt es dabei nicht bewenden. Er lädt den Dichter der »Medea« für einen der nächsten Tage zum Mittagessen ein und bittet sich nur aus, einen österreichischen Landsmann zuziehen zu dürfen, was Grillparzer, ohne nach dem Namen des Landsmannes zu fragen, höflich zugesteht. Und wer ist dieser andere Gast, mit dem Herr und Frau Professor Hegel das intime Mittagessen zu viert geschmackvoll abrunden? Es ist der als Dichter wie als Theaterkritiker gleich übel beleumundete Wiener Witzbold Saphir, der gerade damals, wie Grillparzer sagt, »sein Unwesen in Berlin trieb« und dem er ein Leben lang im Bogen auswich. Unter dem, was wir sonst noch aus Grillparzers Mund von ihm wissen, figuriert ein sehr eindeutiges Epigramm, das er Saphir und seinem würdigen Seitenstück Bäuerle widmete, als die Bildnisse der beiden kritischen Totenrichter im Wiener Kunstverein ausgestellt waren. Es lautet:

Die Schächer wären's unbestritten –
Fehlt nur der Christus in der Mitten!

Die monumentale Taktlosigkeit dieser unglücklichen Doppeleinladung, die einen so bedauerlichen Mangel an gesellschaftlichem Fingerspitzengefühl und, noch bedauerlicher, die Berliner Geneigtheit, alles österreichische in einen Topf zu werfen, verrät, wird einigermaßen wettgemacht, wenn auch nicht ausgelöscht, durch Grillparzers Bekanntschaft mit einem anderen Wahrzeichen der damaligen Berliner Gesellschaft. Sein Name war Rahel Varnhagen.

Grillparzer war mit dem in langstieligen Sätzen sich gelassen auslebenden Legationsrat Varnhagen in jener Mittwoch-Gesellschaft bekannt geworden, in der er auch dem Stieglitz begegnet war. Varnhagen, der seine Rahel über alles liebt, spürt gleich, daß dieser ortsfremde Wiener etwas wäre für Rahels Menschensammlung, die sich in diesen ihren letzten Lebensjahren geradezu zum Museum ausgestaltet hat. Er besteht darauf, daß Grillparzer Rahel kennenlernen müsse und klimmt in dieser Absicht mit ihm zusammen die vier Treppen zu seiner Wohnung empor. Grillparzer ist übermüdet von der Berliner Geselligkeit und im Grunde froh, so leichten Kaufs davonzukommen, als sie, oben angelangt, erfahren müssen, daß Rahel nicht zu Hause ist. Aber während er nun neben dem betrübten Gatten die Treppe wieder hinuntersteigt, kommt ihnen die kleine Frau, die etwas »wie eine Fee« und etwas »wie eine Hexe« aussieht, beweglich entgegen. Da bleibt nichts anderes übrig, als umzudrehen und den angebrochenen Abend, wie die Berliner sagen, bei ihr zu verbringen. Er tut es, und die Stunden verfliegen im Gespräch mit ihr so zauberhaft, daß er, seiner Müdigkeit völlig vergessend, bis um zwei Uhr nachts bei der häßlichen, verkrümmten alten Dame sitzenbleibt, von der er fürs Leben entzückt ist. Sie wäre die einzige Frau, verbrieft er als alter Herr in seinen Erinnerungen, die ihn hätte glücklichmachen können. Worin er freilich irrte. Die große Persönlichkeit der kleinen Frau brauchte einen farbloseren Hintergrund, wie ihn ihr der um dreizehn Jahre jüngere Varnhagen treuen Herzens bot. Immerhin, auch das war Berlin, und Grillparzer konnte es nicht in Abrede stellen bei all seiner zweifellos vorhandenen Voreingenommenheit gegen das Berliner Wesen, die man ihm nur zum Vorwurf machen dürfte, wäre sie nicht im gleichen Maße auch beim Gegenspieler vorhanden.

Rahel Varnhagen auf der einen Seite, Hegel auf der anderen: die Berliner Waage schwankt und ein endgültiges Urteil will sich nicht einstellen. Da kommt in den letzten Tagen seines Aufenthalts auch noch eine Einladung zum Teezirkel des Ministers Stägemann. Grillparzer, der »weder den Tee noch die Minister liebt«, lehnt dankend ab. Auch einen Wink des Fürsten Sayn-Wittgenstein, der die Oberaufsicht über das Berliner Theater führt, läßt er unbeachtet und macht sich lieber eine sich bietende Gelegenheit zunutze, auf bequeme Art nach Leipzig zu entkommen. Es war dieselbe Bequemlichkeit wie vor sieben Jahren, als er gegen einen entsprechenden Kostenbeitrag mit dem Grafen Deym im offenen Reisewagen durch das »gottgepflegte Toskana« und später mit dem Grafen Wurmbrand von Rom nach Neapel fuhr. Nur daß diesmal das Ziel weder Florenz noch Neapel, sondern Leipzig war, und der Graf ein sächsischer Standesherr, der, etwas ungenau in Geldsachen, übersehen hatte, das ihn belastende halbe Reisegeld auch seinerseits zu sich zu stecken. Er verließ sich, »echt edelmännisch«, wie sein Begleiter sagt, auf Grillparzer und dieser auf ihn; sein Kreditbrief erwartete ihn erst in Leipzig. Aber schließlich kamen sie, nach einigen unangenehmen Auseinandersetzungen mit den nicht immer sächsisch höflichen sächsischen Postknechten, im Leipziger »Hotel de Bavière« an, wo der sächsische Graf seinen Reisefreund dem Wirt als einen berühmten Wiener Dichter vorstellte. Worauf ihn der Wirt drei Tage lang mit der größten Hochachtung, ja geradezu mit Verehrung, als Herr von Castelli ansprach und behandelte, da dieser Wiener Witzonkel der einzige Wiener Dichter war, den er dem Namen nach kannte. Grillparzer, der nachgerade dahintergekommen war, daß der Österreicher in Deutschland und ganz besonders der Wiener immer wieder operettenhaften Verwechslungen ausgesetzt ist, ließ sich die Falschmeldung gefallen und steckte die aufmerksamere Behandlung, die er ihr verdankte, als eine Art Trinkgeld des Ruhmes ein.

Dann aber, am dritten Tage, fuhr er mit der Landkutsche, und diesmal allein, nach Weimar weiter. Denn dort, wo der größte Deutsche, und der deutscheste, die Gefilde der Literatur nach allen Richtungen weithin überblickte, mußte es sich entscheiden, ob der Österreicher in Deutschland auf Gnade oder vielleicht sogar auf Verständnis hoffen durfte.

Dort entschied es sich.

*

Zwischen Leipzig und Weimar hat der jetzt allein unter völlig Unbekannten und durch eine reizlose Landschaft kutschierende Grillparzer Muße, über Berlin nachzudenken. Was war wohl der Grund, daß er trotz aller Bemühung von beiden Seiten am Ende doch sich kein Herz fassen konnte zu der flach ausgedehnten, rechtwinklig gegliederten und allenthalben nach Stiefelwichse riechenden Preußenstadt? Es fehlt ihr nicht an Geist und Tüchtigkeit, aber der Geist ist künstlich und die Tüchtigkeit geistlos; alles ist so geregelt, so bewußt, so selbstbewußt über einen Leisten gespannt. Was dem individualistischen Österreicher noch in der Rückschau überall zu mangeln schien – und was die Stunden bei Rahel Varnhagen so köstlich machte – ist Unbedingtheit des Wesens, jene nachtwandlerische Sicherheit einer gottgegebenen Persönlichkeit, die nichts mit Abrichtung zu tun hat und die kein Exerzierreglement der Welt auf die Dauer ersetzen kann. Daher auch die so weitgehende Gleichschaltung der Meinungen, die immer atemlos hinter dem Neuesten wie hinter einem Kommandoruf her ist, rechts oder links schwenkend, wie es eben verlangt wird – jene »Lenkbarkeit«, die Grillparzer Feigheit nennt, obwohl sie den soldatischen Mut keineswegs ausschließt. Er erblickt darin mit Recht eine europäische Kulturgefahr, obwohl sich seine Beobachtungen zunächst nur auf die ästhetischen Teezirkel – und allenfalls auf die angeräucherte Weinstube von Lutter und Wegener – beschränkten. Aber wer steht dafür, daß sie, wenn sie heute Fouqué in den Himmel heben, um ihn morgen ebenso ungerecht in einen Abgrund der Vergessenheit zu stürzen, dasselbe frevelhafte Spiel, von Irrmeinung zu Irrmeinung, von Übertreibung zu Übertreibung, einen Parademarsch hampelmännisch durchführend, nicht auch in der Politik spielen werden? Dann freilich: Weh dir, Europa! Und Grillparzer, als hätte er ein Jahrhundert länger gelebt, wirft prophetisch die Frage auf: Wie kann man »einer so wetterwendischen, in ihren Ansichten so unklaren, in ihren Überzeugungen so schwankenden Nation trauen« –, wie sollte man um die Zukunft eines Volkes nicht besorgt sein, das aus seinen Irrtümern jederzeit eine Wissenschaft, wenn nicht eine Religion zu machen bereit ist? Fortschritt?! Der Österreicher lobt sich den Mut, bei einer vorgefaßten Meinung, wenn sie die richtige ist, eigensinnig zu beharren.

Trotzdem muß der Österreicher in der Landkutsche, an schlechtere Straßen von zu Hause gewöhnt, anständigerweise zugeben, daß er sich bei Betreten des Berliner Bodens unleugbar erfrischt fühlte. Alles, erinnert er sich und wird es später schriftlich vermerken, hatte »einen Anstrich von Geistigkeit und Liberalität, der einem armen Teufel von Österreicher schon des Kontrastes wegen wohltut«. Man atmet freier und kann sich – 1826! – freier äußern in Berlin. Es gibt keine so quälende Zensur, der Hof kümmert sich nicht so aufpasserisch darum, was hinter seinem Rücken über ihn geredet oder geschrieben wird und, was die Hauptsache ist, die später von Bismarck gerügten »beichtväterlichen Einflüsse« spielen in dem protestantischen Lande keine Rolle. Hätte ich doch nicht lieber zum Fürsten Sayn-Wittgenstein gehen, ihm Durchlaucht sagen und eine Anstellung beim Berliner Theater anstreben sollen? fragt sich der in der schlechtgefederten Kutsche reichlich geschüttelte Fahrgast. Eine Frage, die er aufwirft und gleichzeitig kopfschüttelnd verneint. »Die Schaubühne«, gesteht er mit einer abwehrenden Handbewegung wienerisch lächelnd sich selber ein, »ist eine Schöne, der ich sehr gerne den Hof mache, die ich aber durchaus nicht heiraten will!« Bezeichnend, wie der eingefleischte Junggeselle Grillparzer in diesem Satze seiner Erinnerungen sein Liebesleben mit einer unverbindlichen Theaterliebhaberei schmunzelnd in Übereinstimmung bringt.

»So sehr mir Berlin gefiel, hätte es mir Wien nicht ersetzen können!« – mit diesem Satze gibt er, das bedrückend ebene Land durchquerend, Berlin auf. Aber Berlin aufgegeben, bleibt immer noch Deutschland, und Deutschland heißt ihm Weimar, heißt Goethe. Wie wird der Siebenundsiebzigjährige den unangesagten Gast aus Wien aufnehmen? Mit immer schwererem Herzen, immer zunehmender Verzagtheit über die Gefährlichkeit seines literarischen Abenteuers läßt sich der Österreicher auf der deutschen Straße weiterschütteln.

*

In Weißenfels ist Mittagsstation. Dort haust der alte Schicksalsdramatiker und maßgebende deutsche Theaterkritiker Müllner, mit dem Grillparzer in Briefwechsel stand. Er hat dem Dichter der »Ahnfrau«, ein Schicksalsdramatiker dem anderen, vor Jahren den unsäglich dummen Rat gegeben, den ersten Akt der »Sappho« bei der Aufführung einfach wegzulassen, was Grillparzer wohlweislich nicht getan hat. Denn wie konnte er, nach kontrapunktischen Gesetzen des Dramas, den Sturz der Sappho von ihrer Höhe anders malen als gegen den Hintergrund ihres atemraubenden Triumphs. Müllner hat das nicht einsehen wollen und zürnt seither dem österreichischen Dichter wegen seiner offensichtlichen Unfolgsamkeit. Trotzdem, da er von seinem Herannahen Wind bekommen hat, erwartet er jetzt gereizt seinen Besuch. Aber Grillparzer läßt ihn zürnen und warten und fährt schleunigst nach Weimar weiter, wo ihn niemand erwartet, denn Goethe hat keine Ahnung von seinem Kommen. Noch wissen andere davon. Welch ein Abenteuer!

Abenteuer, mag sein. Aber nach akademischen und gesellschaftlichen Grundbegriffen, die hier voranzustellen am Platze war, muß man sagen, daß man sich, bei Goethe Besuch machend, nicht ungeschickter anstellen kann, als es der große österreichische Klassiker tat. Er hat Goethe nie geschrieben, was er von Berlin aus immerhin hätte tun können. Noch hat er ihn mittelbar wissen lassen, daß er im Herannahen war, was gleichfalls möglich gewesen wäre. Grillparzer hatte Bekannte in Weimar. Kapellmeister Hummel, früherer Musiklehrer der Anna Fröhlich, einer Schwester Kathis, und mit einer Wienerin verheiratet, war ein Jugendfreund. Auch mit dem Weimarer Hoftheater ist er gut bekannt, hatte es ihm doch, wie wir uns erinnern, durch den Schauspieler Lemm sechs »leichte Dukaten« zukommen lassen, als Entgelt für die »Sappho«. Aber Grillparzer macht sich keine dieser Möglichkeiten zunutze. Als Dramatiker ein Meister im Motivieren, glaubt er, es im Leben unterlassen zu können. Er kommt in Weimar an; er steigt im »Elefanten« ab; er setzt sich zu Tisch und schreibt, nach dem Essen, sich den Mund abwischend, flugs ein paar Zeilen an den Abgott des Zeitalters, die er mit dem Kellner in das Haus am Frauenplan hinüberschickt. Nach einer Weile kommt die Antwort: der Herr Geheimrat habe augenblicklich Gäste, er erwarte Herrn Grillparzer abends zum Tee. Gut ausgegangen. Vielleicht hat der Diener Stadelman dem Herrn Geheimrat ins Ohr geflüstert, es käme ihm so vor, als wäre von einem gewissen Grillparzer ein Stück vor ein paar Jahren am hiesigen Theater aufgeführt worden. Nun ja, denkt sich der olympische Alte, dann ist er ja wohl ein Schriftsteller, er soll zum Tee kommen.

Grillparzer, der ja an diesem Nachmittag weiß Gott nichts anderes zu tun hat, wartet seine Zeit ab. Dann, gegen Abend, klingelt er an dem Haus am Frauenplan, steigt hinter dem Bedienten die aristokratische Innentreppe hinan und betritt den ihm wohl schon aus der Schilderung bekannten blauen Salon mit seinen museal geordneten Bildungsschätzen, den vielen, blitzblank unter Glas versicherten Kupfern und Zeichnungen, den gestickten Wandbordüren, dem blauen Teppich und dem weißen Riesenhaupt der Ludovisischen Juno in der Ecke. Unmöglich in dieser Umgebung ein anderes als ein gebildetes Gespräch zu führen, was denn auch der Wiener Gast inmitten der gedämpft plaudernden Gästeschar alsbald tut, aber nicht mit dem Hausherrn, der noch gar nicht zu sehen ist, sondern mit einem entzückenden Frauenwesen, der Tochter eines Philosophieprofessors, der ihn eben mit ihr bekannt gemacht hat. Sie ist »ebenso jung wie schön und ebenso schön wie gebildet«. Es paßt zu Grillparzer, daß er über der Unterhaltung, die ihm das liebreizende Wesen gewährt, im Salon Goethes ganz vergißt, daß er bei Goethe ist. Erst als dieser durch eine schmale Seitentür unversehens eintritt, im schwarzen Rock, mit Ordensstern, und »wie ein audienzgebender Monarch« in steifer Geradhaltung die Schar seiner Gäste abschreitet, erinnert er sich, was er in Weimar vorhat. Glücklicherweise steht er am anderen Ende des Raumes, so daß er noch eine ganze Weile mit dem schönen, damals schon der Literatur beflissenen Mädchen, aus dem in späteren Jahren eine bekannte Schriftstellerin namens Talvj wurde, schwatzen kann. Dann aber tritt Seine Exzellenz, der Dichter des »Faust«, auf den Neuling zu und fragt ihn ohne weitere Einleitung – ja was fragt ein audienzgebender Monarch, der gleichzeitig ein Dichterkönig ist, in einem solchen Falle? Er fragt den aus Österreich zugewanderten Grillparzer wie bei einem Rigorosum etwas, worauf der Prüfling unmöglich gefaßt sein konnte, nämlich, »ob die italienische Literatur in Österreich sehr betrieben werde?« »Die Sprache wohl«, antwortet der Gefragte, seine auseinanderlaufenden Gedanken zusammentrommelnd, »sie wäre im Staatsdienst obligat, aber leider nicht auch die italienische Literatur, was viel wünschenswerter wäre, um dem verrohenden Einfluß der neueren englischen Literatur zu begegnen.« Schulfall dessen, was man auf französisch eine »gaffe« nennt, denn die Bemerkung zielt sichtlich auf Byron, mit dem einen Briefwechsel unterhalten zu haben der Altersstolz Goethes ist. Er hat seine Briefe und Widmungen, in seidene Tücher eingeschlagen, in einem Reliquienschrein liegen und zeigt sie jedem seiner aus der Ferne zugereisten Gäste. Er wird sie drei Tage später auch Grillparzer zeigen, nicht ohne Absicht vermutlich. Vorläufig läßt er seine Auskunft, die italienische Sprache in Österreich betreffend, unbeantwortet und tritt gravitätisch zum nächsten Gast hinüber.

Grillparzer kehrt vernichtet in seinen Gasthof zurück; nicht einmal die Erinnerung an das schöne Mädchen kann ihn davon abhalten, sich selbst zu gestehen, daß er fast bereue, nach Weimar gekommen zu sein. Am liebsten würde er gleich wieder abreisen. Wenn Goethe ihn doch lieber hinausgeworfen hätte! Um wie viel wünschenswerter erschien es ihm, als »das Ideal seiner Jugend als steifen Minister, der seinen Gästen den Tee gesegnete« erleben zu müssen.

Allein, mittlerweile hat es sich in der kleinen Stadt herumgesprochen, daß der Wiener Dichter als »Mauernweiler«, wie die Schauspieler sagen, sich in Weimar aufhält, und die ersten Besucher, der Kanzler Müller und der Landsmann Hummel, melden sich an. Grillparzer bringt dies damit in Zusammenhang, daß er »damals eine Zelebrität« war. Das wäre wahrscheinlich in Weimar kein genügender Grund gewesen. Aber die Tatsache, daß er gleich am ersten Abend bei Goethe zum Tee geladen war, was der schwatzhafte Kellner nicht für sich behielt, machte ihn zu einer Augenblicksberühmtheit. Auch mochten die hochaufgespannten schwarzen Seheraugen des weißhaarigen Alten am Frauenplan wohl bemerkt haben, daß sich sein Gast enttäuscht entfernt hatte, weshalb er ihm den Kanzler Müller schickte, der Goethes »Frostigkeit« nicht allzu glaubhaft mit einer gewissen »Befangenheit« Seiner Exzellenz neuen Besuchern gegenüber entschuldigt. Hummel freilich ist aus eigenem Antrieb gekommen. Seit Jahren an dem ein gespanntes Hochdeutsch sprechenden geistigen Gnadenort lebend und Musik machend, hat er sich wie ein Schulkind darauf gefreut, endlich wieder einmal mit jemandem ein ordinäres Wienerisch reden zu können, wovon er jetzt den ausgiebigsten Gebrauch macht. Grillparzer nimmt's nicht übel und scheint mit seinem Schicksal versöhnt. Wozu er um so mehr Veranlassung hat, als, das Gespräch unterbrechend, ein Diener erscheint, der ihm eine Einladung Goethes zum Mittagessen überbringt.

Hat der wachsame alte »Türmer« – »zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt« – sich mittlerweile vielleicht das Regiebuch der »Sappho« aus dem Theater herüberschicken lassen und ein paar Verszeilen kennerisch beschnuppert? Es ist nicht abzusehen, wie sonst er sich eine, wenn auch sehr beiläufige Kenntnis von dieser Dichtung hätte verschaffen können. Im Theater hat er sie sicher nicht gesehen, da sie erst 1819 aufgeführt wurde, und Goethe seit seinem 1817 auf unschöne Art erzwungenen Rücktritt von der Leitung der Weimarer Hofbühne diese nachweisbar nicht mehr betreten hatte.

Das Essen bei Goethe ist für übermorgen anberaumt und für den dazwischenliegenden nächsten Vormittag hat der Herr Geheimrat den Weimarer Maler Schmeller beauftragt, Grillparzer für seine Gästegalerie zu zeichnen. Eine andere kuriale Höflichkeit, wie sie nur der Elite der Besucher des Hauses am Frauenplan zuteil wird. Abgesehen von der Ehre bietet sie dem auf den Maler wartenden Wiener Dichter auch den Vorteil, Goethe in gemütlicherer Haltung und nicht wie beim Empfang so denkmalhaft aufgerichtet im Hausgärtchen auf und ab wandeln zu sehen. Die eingesunkene Brust des alten Mannes verunglimpft jetzt kein Ordensstern, er ist bequem gekleidet, ein Schirmkäppchen ruht auf den weißen Haaren, die darunter hervorquellen. »Halb ein Vater und halb ein König«, stellt der gerührte Blick des aufmerksamen Beobachters hinter der sie trennenden Glasscheibe der Verbindungstüre fest. Aber schon hat ihn der Alte erspäht, die Tür tut sich auf, ein Gespräch spinnt sich an, sie kommen einander etwas näher. Goethe, möglicherweise in frischer Erinnerung an das Regiebuch, »erwähnt auch der ›Sappho‹, die er zu billigen schien.« Grillparzer ist klug genug, diese Freundlichkeit nicht zu überschätzen. Er ist sich bewußt, daß er in »Sappho« »mit Goethes Kalb gepflügt hat« – Iphigenie war das Kalb – und daß der Alte, wenn er ihn lobt, eigentlich sich und die von ihm gebahnte Richtung lobt. Trotzdem findet er ihn, so nah dem Grabe, so fern der Welt, unendlich rührend. Und am nächsten Tag, da ihn Goethe an der Hand nimmt und zu Tische führt, um ihn »mit einem herzlichen Druck an seiner Seite« hinzusetzen, kommt »der Knabe« in Grillparzer »zum Vorschein« und er bricht in Tränen aus. Goethe, nur noch ein Stratosphärengast dieser Erde, hat für solche atmosphärische Störungen wie Tränenerguß nichts mehr übrig. In seinem Alter lädt man sich nicht Gäste ein, um mit ihnen zu weinen. Aber er weiß die Huldigung zu schätzen, was freilich, wie sich herausstellen wird, auch wieder zum Nachteil des Österreichers in Deutschland sich auswirken wird.

Zunächst läuft das vom Hausherrn bewegte Gespräch heiter um den Tisch herum, der nur sechs Herren vereinigte. Das weibliche Element fehlte völlig, von dem Frauenliebling und Frauenfreund Grillparzer sicher schmerzlich vermißt. Nicht einmal Goethes Schwiegertochter Ottilie, die Weltdame im Hause und außer Hause, war anwesend, mit der Grillparzer später in Wien sich ganz gut verstand. Auch der gute Eckermann fehlte; er hatte einen längeren Urlaub und seine Eintragungen in den »Gesprächen mit Goethe« beginnen erst wieder einen vollen Monat später. Die Literatur um den Tisch herum war außer dem Wiener Gast nur noch durch Herrn Schütze vertreten, eine Weimarer Lokalberühmtheit, die von Goethe bei minderen Gelegenheiten gern herangezogen wurde. Grillparzer mochte sich durch Schützes wie ein Druckfehler in einer Verszeile wirkende Anwesenheit lebhaft an den von Hegel zugezogenen Saphir erinnert fühlen. Es war dasselbe Mißverständnis hier wie dort.

So ergibt sich noch einmal, in letzter Instanz diesmal, die schmerzlich offen gebliebene Frage: kann der österreichische Dichter in Deutschland auf mehr als eine im besten Falle nachsichtige Beurteilung, kann er auf wirkliches Verständnis hoffen? Er kann dies, so scheint's, in Weimar so wenig wie in Berlin. Doch war es, wenn die Antwort verneinend ausfiel, ausfallen mußte, zum geringeren Teile Goethes, zum größeren Deutschlands Schuld. Persönlich gab sich der erhabene Kenner aller Höhen und Tiefen des literarischen wie des wirklichen Lebens alle Mühe, das Phänomen Grillparzer, von dem er bisher, zugegeben, nur recht wenig gewußt hatte, mit gebotener Gründlichkeit zu studieren. Zu diesem Zwecke ließ er ihm, von seinen Tränen gerührt, an dem Tage, an dem er vormittags gezeichnet worden war, durch den Kanzler Müller »bedeuten«, daß er, Goethe, den ganzen Abend allein zu Hause sein würde. Das heißt, er lud ihn ein, ohne ihn einzuladen. Grillparzer aber, um eine seiner Lieblingswendungen zu gebrauchen, »ging nicht hin«. Er saß schmollend in seinem Gasthof oder aber – wir wissen es nicht genau – er nahm geschwind eine andere Einladung an. Und warum? Der Grund, den er für sein Verhalten angibt, ist in seiner Einfachheit erschütternd, aber zugleich entwaffnend. Er »fürchtete sich«, einen ganzen, langen Abend lang mit dem großen Mann allein zu sein. Wovon sollten sie stundenlang reden, da der andere, wie er wohl gemerkt hatte, ihn doch eigentlich gar nicht kannte? Mit einem Wort, er benahm sich wie der beleidigte Tasso am Hofe des Herzogs von Ferrara. Goethe aber hatte für Tasso-Launen nichts mehr übrig, seitdem er vor vierzig Jahren den »Tasso« geschrieben und – überwunden hatte. Als Grillparzer tags darauf zur Abschiedsaudienz erschien, sah er sich kühl empfangen. Goethe wunderte sich (mit Recht), daß er solche Eile hatte, Weimar zu verlassen und drückte nur ganz obenhin den Wunsch aus, der Gast aus Österreich werde gelegentlich etwas von sich hören lassen; es werde sie alle freuen. Grillparzer verstand die Feinheit, daß er »uns« sagte und nicht »mich«, und ersparte sich den Brief. Er wollte ihm lieber eine schöne Widmung in sein nächstes Buch schreiben. Aber ein Jahr später unterließ er auch dies. Wie es geht in solchen Fällen, das Mißverständnis war nicht mehr gutzumachen.

Und die Nachwirkung dieser weltgeschichtlichen Begegnung zwischen Grillparzer und Goethe, die etwas Gleichnishaftes hat wie die Begegnung Ottokars und Rudolfs von Habsburg im Zelt? Eine Nachwirkung war kaum vorhanden. Grillparzer schreibt zwei Tage, nachdem er Weimar verlassen hat, mit kaum ausgeheilter Fingerspitze – daß er sich in Berlin verletzt hatte, mag immerhin die unterlassene Anmeldung seines Besuches in Weimar entschuldigen –, an seine exgeliebte, aber treu verbundene Kathi ein paar Zeilen, in denen er das Geschehene verbrieft. Er sei freundlichst aufgenommen und zum Essen eingeladen worden von Goethe: »leider habe ich ihn zum Dank für all die Güte tüchtig ennuyiert, denn mich befiel jedesmal eine solche Rührung, wenn ich ihn sah, daß ich beinahe meiner nicht mächtig war …« Goethe seinerseits richtet ein paar Tage später ein paar offizielle Zeilen an seinen Freund Zelter. Grillparzer sei ein angenehmer, wohlgefälliger Mann. Ein angeborenes poetisches Talent dürfe man ihm wohl zuschreiben. »Wohin es langt und wohin es ausreicht, will ich nicht sagen.« Zelter, von dem schönen Vorrecht des Musikers, von Literatur nichts zu verstehen, Gebrauch machend, hat sich gelegentlich weniger gezwungen ausgedrückt, indem er in einem brieflichen Bericht über Grillparzers »Medea«, die er im Theater gesehen hat, kein Hehl daraus machte, daß er die »Pfefferrösel« der Birch Pfeifer vorzöge. Übrigens fügt Goethe vom Literarischen abzweigend noch hinzu: »Daß er (Grillparzer) in unserem freien Leben etwas gedrückt erschien, ist natürlich.« Und da haben wir sie wieder, die liebevolle Nachsicht, mit der man dem Österreicher im Reich bestenfalls begegnet. Nationalistischer Dünkel, der sich, lang bevor der Nationalismus in Deutschland politisches Programm wurde, in der geflissentlichen Unterschätzung der Nachbarländer gefällt, kann sich schlechthin nicht vorstellen, daß aus Österreich etwas Großes kommt. Goethe freilich war alles nur kein Nationalist; aber auch er, wie jedes Lebewesen, konnte sich dem Einfluß der ihn umgebenden Atmosphäre nicht ganz entziehen. Er machte Milderungsgründe geltend statt mit einem unbedingten Freispruch vorzugehen einem gleichrangigen Genie – alle Genies sind von gleichem Rang – gegenüber, das, während es gedrückt an seinem Tische saß, vielleicht schon den erst viel später zu Papier gebrachten hartmäuligen Vers formte:

Doch, Meister, schaut! Ein Maler bin ich auch!

Das literarische Abenteuer des Österreichers in Deutschland ging aus, wie es nach klimatischen und atmosphärischen Gesetzen ausgehen mußte. Wenn es als »partie remise«, milde ausgedrückt, endete, so war äußerlich der Eröffnungsfehler der unterlassenen Voranmeldung schuld, der später nicht mehr gutzumachen ist, wie jeder Schachmeister weiß. Aber da das Leben, auch das literarische Leben, keine Schachpartie, eher eine Wette mit dem Schicksal ist, muß man dem wahren Grund dieser verfehlten Annäherung in einer tieferen Schicht nachspüren, dort, wo Erlebnisse zu Gleichnissen erwachsen. Nicht Grillparzer und Goethe, Österreich und Deutschland entfernten sich in Weimar voneinander, indem sie, scheinbar, zusammenkamen. Zumindest von deutscher Seite gesehen, blieb Österreich eben doch nur eine »nodding acquaintance«, wie die Engländer eine oberflächliche gesellschaftliche Beziehung nennen, die sich auf ein gelegentliches Nicken und Grüßen beschränkt; sie redeten und schrieben und lebten aneinander vorüber, wie es der Österreicher und Deutsche seit dem Ausscheiden Österreichs aus dem deutschen Länderverband im Jahre 1806 über ein Jahrhundert lang getan hatten, mit einer Hartnäckigkeit, die sich nur aus ihrer Blutsverwandtschaft erklärt. Denn ihre Verschiedenheit vorausgesetzt, kann nichts verschiedener sein als Verwandte.

Viele haben dieser Verschiedenheit nachgespürt, zuletzt in unserem Jahrhundert Hofmannsthal in einem leider unausgeführt gebliebenen Essay, von dem wir nur das in Schlagworten aufgezeichnete, aber gerade darum endgültige »Schema« besitzen. Die beiderseitigen Eigenschaften und einander aufhebenden Gegensätzlichkeiten sind da wie auf einem Soll-und-Haben-Blatt untereinandergeschrieben, in der einen Rubrik steht, was der eine, in der anderen, was der andre ist und nicht ist. Deutschland, sagt Hofmannsthal, und meint im Grunde Norddeutschland, denn gegen Süden verwischt sich der Gegensatz: Deutschland ist geschaffen; Österreich ist gewachsen. Dort gibt es (oder gab es) »mehr Tugend«, hier »mehr Frömmigkeit«; dort eine bessere Organisation, hier eine raschere Auffassung. Dort herrscht Stärke der Dialektik, hier, in Österreich, Ablehnung der Dialektik. Dort ist man schulmeisterlich, hier witzig; dort scheinbar männlich, hier scheinbar unmännlich – und so fort. Das ist die analytische Methode, den Gegensatz zu erörtern; aber als Goethe und Grillparzer am Weimarer Tisch nebeneinander saßen, nahm er, zwischen den beiden Gestaltern, unversehens einen Augenblick lang selbst Gestalt an und eine unvergeßliche. Goethe sprach und Grillparzer lauschte seinen druckreifen Worten. Doch während er lauschte, dachte er sich sein Teil, Brotkügelchen formend, die er um sein Gedeck häufte. Goethe, der »das Gespräch bewegend« es beherrschte, dachte sich auch sein Teil; vielleicht war es so etwas wie: diese Österreicher sind doch alle verspielte Kinder! Jedenfalls, als der andere genug Brotkügelchen beisammen hatte, langte der gesprächige Alte, zur erwünschten Erheiterung nun auch noch das »Mitternachtsblatt« des Herrn Müllner in Weißenfels gastfreundlich durch die Zähne ziehend, sanft hinüber und wischte den ganzen Plunder von Brotkügelchen zu sich herüber, um während des Folgenden – was zu tun? Um sie in Form einer kleinen Pyramide methodisch aufzuschlichten. Der ganze Gegensatz zwischen österreichischem und deutschem Wesen und das, was ein Jahrhundert später der sogenannte Anschluß daraus machen wollte, offenbart sich in diesen unstatthaften Kügelchen und dieser hoffnungslosen Pyramide, obwohl ja, in Weimar zumindest, das beiderseits verwendete Material noch ganz das gleiche war: das duftende Brot der deutschen Sprache.


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