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Es war Abend. Roland ging durch das Dorf. In den Gassen schwebte ein Duft des jungen Weines, alle Menschen waren fröhlich und geschäftig; die Weinkeltern knarrten und troffen, auf den Straßen gingen Männer langsam, sie trugen schwere volle Bütten auf dem Rücken. Er sah Väter und Söhne mit einander arbeiten. Wer nur auch so leben könnte . . .
Roland sah die Menschen alle fragend an; er stand ihnen gegenüber wie ein Bettler, der um ein Almosen Liebe, Güte, Mitleid für sich und seinen Vater bittet.
Er sah die Häuser, wohin er an seinem Geburtstag beglückende Geschenke gebracht; die Menschen dankten seinem zuvorkommenden Gruße, aber sie waren nicht erfreut und geehrt wie sonst. Er verließ das Dorf.
Draußen am Ufer hinter einer Hecke saß er wie damals, bevor er zu Erich gewandert.
Das war eine andere Trauer wie damals, und damals gab's ein Ziel zur Befreiung.
Eine Wasseramsel flog neben ihm auf. In kindischem Selbstvergessen bog er die Zweige auseinander und sah ein Nest mit fünf Jungen, die die Schnäbel aufsperrten. Wie glücklich wäre er vor Zeiten mit solch einem Fund gewesen! Jetzt stand er da und in ihm klagte es:
Ach, ihr seid daheim!
Er hörte einen Wagen die Straße daher knarren und es fiel ihm jener arme Knecht ein in der Nacht, der lieber hungern und betteln als unrecht Gut besitzen wollte.
Nicht weit von ihm am Ufer wurde ein Kahn von der Kette gelöst, er hörte die Kette rasseln und es ging ihm durch das Herz: er hörte die Sklaven, wie sie in eine lange Kette eingereiht dahin wandelten . . . Dazwischen tauchte in seiner Vorstellung auf, wie das Erdmännchen und der Reitknecht gefesselt die Straße dahin gingen, und hinter ihnen der Landjäger mit geladenem Gewehr, das blinkte in der Sonne.
Er schaute auf.
Dort ging in der That ein Landjäger. Wenn er kam, um seinen Vater zu verhaften?
O nein, dafür gibt es kein Gericht.
Sein Blick war auf den Busch geheftet, hinter dem der Landjäger verschwand. Er dachte sich hin zu Clodwig, zum Doctor, zum Major, zum Krischer. Was sagen sie alle?
Hier unter den Weiden am Ufer ging es in dem belasteten zerrissenen jungen Herzen auf: der Mensch lebt nicht für sich allein. Es gibt eine unsichtbare und unzerreißbare Gemeinsamkeit: das Band der Achtung, der Ehre, ein treues Gedenken, eine thätige Liebe.
Roland erhob sich, er ging zum Krischer.
Bebenden Schrittes, mit Herzklopfen, als erwarte er dort etwas, was er nicht ahnen könne, wanderte er den Berg hinauf. Vor dem Dorfe begegnete ihm der zweite Sohn des Krischers, auch er ging langsam, er trug eine schwere Bütte mit jungem Wein. Der Bursche war von gleichem Alter mit Roland und schon von ferne rief er Roland zu:
»Der Vater hat's gesagt, daß Sie kommen. Gehen Sie nur hinein, er wartet auf Sie.«
Als Roland in das Haus des Krischers eintrat, rief ihm dieser entgegen:
»Hab's gewußt, daß Sie kommen! Brauchen nichts erzählen, weiß Alles, schon lang. Kann Ihnen etwas geben.«
»Was denn?«
»Es gibt zwei Dinge auf der Welt, die helfen: Beten und Trinken. Kannst Du nicht beten, so kaufe Dir einen Rausch, trinke, trinke bis genug, das ist das Beste, was man kaufen kann.«
»Schäme Dich,« entgegnete Roland, »schäme Dich! Es muß etwas Besseres geben.«
»Was denn? Was?«
»Man muß einander helfen auf der Welt, da ist Keiner zu gering, und Keiner zu hoch.«
»Juchhe!« rief der Krischer. »Ein Prachtbursch! Mögen Recht haben. Sie haben's gewonnen. Jetzt aber, hellauf! Grämen Sie sich Ihr junges Leben nicht ab. Ihr Vater ist zu bemitleiden, ist ein armer Mann mit seinen Millionen. Jetzt zeigen Sie, daß Sie ein Bursch sind, der es werth ist, daß ihn die Sonne bescheint. Horch! gib Acht!« unterbrach er sich plötzlich.
Die Schwarzamsel sang die Melodie: Freut Euch des Lebens. Roland und der Krischer sahen einander an und Roland lächelte.
»So recht!« rief der Krischer. »Lernen Sie das auch ein! Freut Euch des Lebens – alles Andere ist dummes Zeug. Das Thier ist gescheidt. Hast Deine Sache gut gemacht,« nickte er der Schwarzamsel zu, die den Mann und den Jüngling mit klugen Augen ansah, als wüßte sie, was sie gethan, und sei des Beifalls sicher. Und zu Roland gewendet, fuhr der Krischer fröhlich fort:
»So . . . so ist's recht! . . . Kopf in die Höh'! Und wenn Sie einen Menschen brauchen, rufen Sie mich. Sie haben mich aus dem Gefängniß heimgeführt, das vergesse ich nicht. Jetzt seien Sie lustig, Ihre Hunde sind es auch.«
Er nahm einen Laib Brod, den Roland den Hunden zum Verspeisen geben sollte, aber kaum hatte Roland den Hunden einige Stücke gegeben, als er selbst aß und mit wahrem Heißhunger.
»Gewonnen! gewonnen!« schrie der Krischer. »Du hast Hunger. Jetzt laß nur ruhig das Wasser den Rhein hinunter laufen, morgen ist auch ein Tag, und mit dem Sterben wollen wir warten bis zuletzt.«
Erich hatte geahnt, daß Roland beim Krischer sein werde, und war ihm nachgegangen und auf den ersten Blick sah er, daß ein Umschlag in der Stimmung Rolands eingetreten war. Sie gingen mit einander heim und Roland sagte:
»Beim Krischer ist es über mich gekommen: was würde jetzt Benjamin Franklin zu mir sagen? Weißt Du es?«
»Nicht ganz, aber ich glaube, er würde sagen: ein Mensch, der nur leidet, steht auf der Stufe des Thieres, das aus einem Unfall nichts schaffen kann. Die Menschenkraft beginnt da, wo Du erfassest, begreifst und beherrschest, was Du leidest, und aus Dir selbst etwas machst. Wenn Du schlaff Dich im Leide versinken lässest, so bist Du selbst an Deinem Unheil schuld. Raffe Dich auf. Hast Du etwas und bist Du etwas, um dessentwillen Du Dich selbst lieben darfst, so kannst Du auch Liebe von Deinen Nächsten erwarten.«
Roland erwiderte: »Auch ich habe mir gedacht, was Benjamin Franklin sagen würde. Ich sah ihn vor mir mit seinem milden Gesicht, seinen langen, schneeweißen Haaren, und er sagte: Merke Dir, das Aergste ist nicht das, was Schande vor der Welt bringt, sondern, daß Schande Dich zwingen will, verkehrt zu denken und alle Menschen schlecht anzusehen.«
Sonnenkamp und Prancken hatten ihn zur Menschenverachtung anleiten wollen, aber gerade dadurch hatte sich ihm eine Gedankenbildung erweckt, die sicheren Halt gab. Der Jüngling war zu einem männlichen Entschlusse gekommen.
Erich sprach kein Wort; er hütete sich, das anzurufen, was sich in der Seele der Jünglings so sicher und fest gestaltete.
Mit einer aus tiefstem Schmerz gewonnenen Beruhigung kehrten Beide in die Villa zurück.
Sie kamen an die Gartenmauer, wo der Castellan etwas von den Wänden kratzte.
»Dort steht's! dort steht's!« rief Roland. »Ich habe es gelesen!«
Der Castellan kratzte mit einem scharfen Eisen den Mörtel ab, und dieses Kratzen ging Roland an das Herz, als ob etwas unmittelbar daran nage. Alle Besinnung und Fassung, die er gewonnen hatte, schien verschwunden.
»Da steht's!« rief er. »Morgen wird man es wieder abkratzen müssen, und übermorgen wieder und alle Zeit. Ach, Erich, warum sind die Menschen so böse? Was hilft es ihnen, daß sie uns beschimpfen?«
Erich tröstete, daß die Menschen nicht eigentlich böse seien, sie neckten und spotteten nur gern.
Er geleitete Roland auf sein Zimmer und hier saß der Jüngling still, die Faust an die Lippe gepreßt.
Er trat ans Fenster und schaute hinab in den Park, hinauf zum Himmel, wo sich die Schwalben in großen Rotten versammelten, um übers Meer nach warmen Ländern zu ziehen . . . Alles hat seine Heimat; die Pflanze, die sich nicht bewegen kann, wird in sichere Obhut gebracht, und die Schwalbe zieht dahin, wo es ihr wohlig ist. Wer uns nur sagen könnte, wo es uns wohlig ist! . . .
Er zuckte plötzlich vom Fenster zurück, denn er sah den Fürsten Valerian in den Hof einreiten; hinter dem Fürsten drein kam der Doctor in seinem Wagen. Roland bat Erich, ihn allein zu lassen und Niemand zu ihm zu bringen.
Erich ging und Roland verschloß seine Stube.