Berthold Auerbach
Das Landhaus am Rhein / Band IV
Berthold Auerbach

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Zehntes Capitel.

Roland und Manna saßen in der Bibliothek neben einander und hielten sich an der Hand; sie waren wie Kinder, die, vom Sturm verschlagen, sich in fremder Hütte geborgen finden. Lange konnten sie kein Wort sprechen. Manna faßte sich, und mit der Hand das Antlitz ihres Bruders streichelnd, suchte sie ihn in gewaltsam aufgewecktem Tone zu beruhigen.

»Ach, sprich nicht,« erwiderte Roland, »mir sticht jedes Wort ins Hirn, auch die Worte von Deiner Stimme. O Schwester! Da stehen die Bücher, hunderte und hunderte, glaubst Du, daß in all den Büchern ein Schicksal verzeichnet ist, das dem unsern gleich? Nein, gewiß nicht.«

Nach einer längeren Pause begann Manna:

»Nun kann ich Dir auch sagen, was ich damals meinte, daß ich die Iphigenie sein wollte; ich wollte mich opfern für Euch Alle, um die Sühne von Euch zu nehmen.«

»Ach, Orest . . . Iphigenia. Orest war glücklich, er konnte die Götter zu Delphi befragen, damals konnte man Götter versöhnen; sie mußten Antwort geben. Und jetzt? Wir? Wo ist noch ein Mund, der Antwort gibt im Namen der Götter? Die Griechen hatten auch Sklaven, und wir? Sie sagen, die Liebe sei in die Welt gekommen, alle Menschen seien Gottes Kinder! . . . Kinder Gottes als Sklaven! Die Priester tauften diese Kinder und ließen sie Sklaven bleiben! Weh, ich werde wahnsinnig! . . . Ach, ich muß noch ein langes Leben tragen . . . muß das tragen, Alles! Ich habe einen schwarzen Fleck vor dem Auge, er liegt auf Allem, was ich sehe . . . Alles ist schwarz . . . schwarz! Als der Krischer verhaftet wurde . . . Kinder theilen nicht das Vergehen des Vaters. Wo ist die Gerechtigkeit? . . . Hilf mir, Schwester! . . . hilf mir doch!«

»Ich kann nicht, ich fasse es nicht!«

Wieder saßen die Geschwister still, da plötzlich warf sich Roland an Manna's Brust und sprach, sein Gesicht verbergend:

»Manna, ich habe mich tödten wollen, ich konnte es nicht ertragen. Gestern noch Alles so schön . . . Aber hier in Dein Herz hinein rufe ich es: ich will leben; ich weiß nicht, was ich noch thun soll und muß, aber ich muß leben! Ich will den Jammer der Eltern nicht noch vermehren. Helfen, helfen . . . aber wie? wo?«

Wieder legte Roland sein Haupt auf die Lehne des Sopha's zurück und dumpf vor sich hin murmelte er:

»Er hat es nicht sofort ausgeführt und nun geschieht es nie.«

»Was denn?« fragte Manna.

Roland sah sie starren Blickes an, aber er drückte es in sich zurück, daß er den Vater ermahnt hatte, all das Besitzthum von sich zu werfen, und daß der Vater ihn vertröstet. Er schloß die Augen und öffnete sie wieder, stumpf wie in grausenhafte Leere hineinschauend; zertrümmert, zermalmt war Alles in ihm.

Manna erkannte das, sie kniete an dem Sopha nieder und rief:

»Roland, ich habe Dir etwas zu sagen, Erich und ich . . .«

»Was?« rief Roland, sich aufrichtend.

»Erich und ich, wir sind verlobt.«

»Du? Ihr?«

Er sprang auf, preßte sie in seine Arme und nochmals rief er:

»Du? Ihr?«

»Ja, Roland. Und er wußte Alles.«

»Er wußte Alles? Und er hat Dich nicht verschmäht . . . und mich . . . so treu! . . .«

Lange hielten sich Roland und Manna fest umschlungen. Es klopfte an die Thür, die Geschwister ließen einander los und schauten sich zitternd an. Ein Jedes wußte, daß es der Vater ist, der klopft, und Keines sagte es dem Andern. Es klopfte nochmals, noch immer schwiegen die Beiden. Schritte entfernten sich von der Thür, sie kannten den Schritt des Vaters; sie wußten, was es ist, daß der Vater klopft, und die Kinder öffneten ihm nicht, und Beide hielten sich zurück, das einander kund zu geben.

Die Gedanken Rolands mußten von Haus zu Haus gegangen sein, denn er sagte jetzt:

»Herr von Prancken hat mir gerathen, ins päpstliche Heer einzutreten. O, wüßte ich ein Kampfesfeld für das, was alle Menschen zu Brüdern macht . . . o, wüßte ich es, wie gern wollte ich sterben. Aber das wird nicht auf dem Schlachtfeld gewonnen.. Ach, Schwester! Ich weiß nicht mehr, was ich denke, was ich rede . . .«

»Laß uns heimkehren!« sagte Manna endlich.

»Heim! Heim! Was ist denn noch unser? Was darf denn noch unser sein?«

Dennoch richtete sich Roland auf und Hand in Hand ging er mit Manna durch die Wiese nach der Villa.

Die Sonne schien so hell, das Heu duftete so würzig, auf dem Strome rauschten die Schiffe auf und ab, und eben bewegte sich ein lustiger Zug die Straße dahin; es war ein sogenannter Herbstmuck. Auf einem Fasse saß der zweite Sohn der Krischers als Bacchus mit Weinlaub bekränzt; um ihn auf dem Wagen standen Mädchen, weiß gekleidet, mit aufgelösten Haaren; sie schwangen Krüge, jauchzten und jubelten. Auf den Pferden saßen mit Moos vermummte Gestalten. Alles jauchzte und schrie und Pistolenschüsse knallten.

Die Geschwister standen und sahen dem fröhlichen Zuge nach, der hinter den Bäumen verschwand.

Einsam ist der Trauernde, wie in einen Kerker eingeschlossen der von einer Seelenpein Belastete . . . da draußen leben die Freudigen und Freien.

Still gingen die Geschwister weiter und Roland sagte endlich:

»Ich weiß nicht, wie mir ist, ich meine, ich träume nur und sähe Alles wie ein abgeschiedener Geist. Es ist Alles so fern, so unerreichbar, so trüb, so schattenhaft. Wenn ich Dich sehe, so meine ich immer, es läge eine entsetzliche Weite zwischen uns. Und der Vater! . . . die Mutter!«

Wirr sah er um sich her, als sähe er überall Gespenster.

Manna faßte seine Hand fester, er ward ruhiger, ja er lächelte sogar.

Greif kam jetzt herangesprungen, er zeigte die Freude, seinen jungen Herrn wiederzusehen, und sprang immer an ihm empor. Roland streichelte ihn und sagte:

»Ja, lieber Greif, damals, als ich dich verlor und vergessen hatte, da fandest du den Heimweg. Ach, lieber Greif, könnte ich jetzt nur auch einen Heimweg finden! . . . Ich bin nicht dein Herr, ich bin gar nichts.«

Der Hund schien die traurigen Mienen und Worte Rolands zu verstehen, er sah ihn so treuherzig an, senkte den Kopf, dann bellte er. Wer weiß, was er sagen wollte?

Die beiden Geschwister standen am Ufer des Rheines. Roland rief:

»Ich sehe mein Bild im Wasser, o Schwester, es ist kein Brandmal auf meiner Stirn . . . kein Brandmal . . . und doch . . .«

Er weinte bitterlich.

»Komm, laß uns weiter gehen,« beruhigte Manna.

»Weiter . . . weiter! Ja, unser Weg ist weit, unendlich weit,« wiederholte Roland und ließ sich von der Schwester geleiten.

Sie kamen in den Hof der Villa. Da wurden die Pferde mit den Decken langsam vorübergeführt.

Roland sagte dumpf vor sich hin: Nehmt die Decken ab und deckt die Schande damit zu! Laßt die Pferde alle ins Freie springen, wir haben keine Macht mehr über sie, sie sind nicht unser! . . .

Er bat Manna, mit in den Stall zu gehen.

Wie um Ehre bettelnd schaute er den Dienern ins Antlitz, und war dankbar, daß sie ihn grüßten, ihn fragten, was er befehle. Die Menschen begrüßten ihn noch, gehorchten ihm noch!

Er streichelte sein Pony und weinte an seinem Halse.

»O Puck! Wann wirst du mich je wieder in Lust tragen?«

Die Hunde sprangen um ihn her, er nickte ihnen zu und schmerzlich sagte er zu Manna:

»Die Thiere sind doch die glücklichsten Geschöpfe auf der Welt. Ach, mein guter Puck, was hast du eine schöne lange Mähne!«

Es lag etwas wie zum Wahnwitz Verschärftes im Denken Rolands, und die lange Mähne des Thieres zerrend, rief er:

»Wenn die Sklaven nicht reden könnten, nicht beten, wären sie auch glücklich wie du und wie ihr da, getreuen Hunde!«

Manna ängstigte sich vor diesem Alles verkehrenden Denken Rolands. Sie sagte:

»Du solltest Dich jetzt immer an Erich halten, ihn keine Minute verlassen.«

»Nein, bin kein Knabe mehr, die Pfeile Apollo's lassen sich nicht abhalten.«

Manna begriff nicht, was Roland sagte, sein Geist schien ihr verwirrt und er erklärte nicht, wie ihm plötzlich die Niobiden-Gruppe vor Augen stand.

Erst nach einer Weile sagte er:

»Das Mädchen verbirgt sich im Schooß der Mutter, der Knabe aber hält die Hand empor, schützt sich selbst vor dem tödtlichen Pfeil. In der Nacht, als ich zu Erich wanderte, habe ich die Geschichte vom Lachgeist gehört. Es dauert lang, bis aus der Eichel ein Baum erwächst und aus dem Baum eine Wiege gezimmert wird, und das Kind, das in der Wiege liegt, macht die Thür auf. Hörst Du nicht auch? Er lacht, er muß umwandeln.«

Manna bat ihn, ruhig zu sein, und sagte:

»Ich muß zum Vater.«

»Und ich zur Mutter.«

Auf der Treppe begegnete ihnen Prancken, er streckte Manna die Hand entgegen und sie sagte:

»Ich bin Ihnen unsäglich dankbar für die große Treue, die Sie meinem Vater beweisen.«

»Bitte, verweilen Sie noch.«

»Nein, ich kann jetzt nicht . . . mehr nicht.«

Die Geschwister ließen von einander los und als Roland bei der Mutter eintrat, sagte diese:

»Kümmere Dich nicht um diese ganze alte Welt, wir ziehen wieder in die neue, nach Deiner wirklichen Heimat.«

Roland hörte diese Worte, als kämen sie aus der Ferne. Aus dem Chaos tauchte etwas auf, aber es versank schnell wieder.

»Warte einen Augenblick, es ist Zeit, zur Tafel zu gehen,« sagte die Mutter.

Sie nahm einen Shawl über und ging mit Roland nach dem Speisesaal.

Hier war auch Prancken und Fräulein Perini; Beide standen in leisem Gespräch.

Erich kam, Roland stellte sich zu ihm.

Man mußte lange warten, bis Sonnenkamp kam, und erst geraume Zeit nach ihm kam auch Manna.

Ihre Wangen glühten.

Man saß bei Tische hier so nahe beisammen und weit – weit entfernt waren Viele von einander. Nur einmal sahen Erich und Manna einander an; es lag ein verständnißvoller Ausdruck in ihrem Blicke. Leise sagte Roland zu Erich:

»Als der Krischer vom Gericht heimkam, standen Kartoffeln auf seinem Tisch.«

Erich legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter, er wußte, was Alles bei dieser Erinnerung in der Seele des Jünglings vorging. Der Krischer war unschuldig gewesen, und hier? . . .

Roland versuchte keinen Bissen.

Prancken zeigte seine ganze Gewandtheit, indem er allerlei Unverfängliches vorzubringen wußte; der Bau der Burg bot ihm reichlichen Stoff.

Man stand vom Tische auf und wieder zerstreute sich Alles. Roland bat Erich, ihn heute allein zu lassen.


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