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Eine Lügensaat.

Es war im Frühling, Ostern vorbei, noch kamen rauhe Winde gezogen und schüttelten und rüttelten die Bäume, weckten sie aus ihrem Dämmerschlafe und warfen Schloßen hernieder um die Knospen aufzusprengen, da war endlich ein heiterer Tag; die Lerchen in der Luft jubelten, und die Kinder auf dem Boden auch, denn sie hatten noch Osterferien.

In den Gärten des Städtchens Nürtingen war jetzt ein reges Leben. Man hackte den Boden um, man zog Wege, und die Kinder waren besonders glücklich, denn sie durften mithelfen bei der Arbeit. Der schönste Garten des Städtchens war aber der Amtsgarten, d. h. der Garten des Amtmanns, der nicht weit vom Thore war; zwei große stolze Pappeln standen wie zwei mächtige Schildwachen am Eingang. Der Amtmann stand eben mit der langen Pfeife und dem gestickten sammtnen Käppchen am Zaune, und sah hinab nach dem von Frühlingswassern angeschwollenen Neckar, und dann wieder zurück in den Garten, wo die Kinder dem Amtsdiener halfen in Hacken und Schaufeln, und dabei viel fröhlicher waren, als bei lateinischen und französischen Büchern. Da sah er des alten Amtmanns Adelgunde, die einzige hinterlassene Tochter seines Vorgängers, die nun schon bald dreißig Jahre drinnen am Marktplatze einsam wohnte, des Weges daher kommen. Sie schien zum Spaziergang angethan, und das hatte man noch nie an ihr gesehen, namentlich um diese Morgenstunde nicht; denn Adelgunde gehörte noch zur alten Zeit, da man sich wenig aus Spazierengehen machte. Sie trug sich auch in ihrer Kleidung noch nach der alten Mode, und hatte einen Hut wie ein Kutschendach, ein braunseidenes großes Umschlagetuch mit einer verblichenen Stickerei in der Ecke; dabei hielt sie die Hände mit den braunen baumwollenen Handschuhen ruhig ineinander gelegt. In ihrem Gang war etwas Scheues und Ehrfurchtgebietendes, dieses letztere aber besonders darum, weil sie als stille Wohlthäterin des ganzen Städtchens bekannt war, und jeden Spott über Altjungfernthum entwaffnete. Als sie in die Nähe des Gartenzaunes kam, rief der Amtmann schon von ferne: » Bon jour, Mademoiselle!« denn Adelgunde liebte die französische Anrede. Sie neigte sich ehrbar, und dankte, wobei über ihr starres altergraues Gesicht ein flüchtiges Lächeln zog. Sie war eben dem Zaune ganz nahe, da rief eines von des Amtmanns Kindern: »Papa! Papa! ein Schatz!«

»Wahrscheinlich ein Regenwurm.«

»Nein, eine silberne Kette mit zwei runden schönen Kapseln.«

»Es sind Strickrölle, wo man die Stricknadeln hinein thut,« rief eines der Mädchen, und der Pfau, der auf der Mauer saß, schrie laut und immer lauter, daß es weit wiederhallte.

Adelgunde hielt sich an einer Latte des Gartenzauns, und ein seltsamer Glanz drang aus ihren Augen, als sie auf die Hand des Amtmanns starrte, der das Ausgegrabene, das ihm die Kinder gebracht hatten, emporhielt.

»Das ist mein, wehe! das ist mein, mein!« schrie jetzt Adelgunde laut, und mit ihr schrie der Pfau seinen grellen Ton, und Adelgunde sank leblos am Gartenzaun nieder.

Man brachte sie in das Amthaus, und erweckte sie bald wieder zum Leben. Ihr erstes Wort war: »Die Strickrölle!« Man gab sie ihr, und als sie dieselben in der Hand hielt, sank sie abermals zurück und schloß die Augen; bald aber erwachte sie wieder, und bat den Amtmann, alle Anwesenden fortzuschicken und allein bei ihr zu bleiben, bis der Stadtpfarrer gekommen sei, den er holen lassen solle. Sie richtete sich auf, ihre beiden Hände spielten mit den Strickröllen, sie schien jedes Glied an dem Kettchen, das beide Kapseln verband, zu zählen.

»Wunderbar!« sagte sie, »gerade drei und vierzig Glieder, und gerade so viele Jahre sind's, daß es geschehen ist.« Sie ließ sich zu keiner weiteren Erklärung herbei, und sagte, sie werde Alles erzählen, wenn der Stadtpfarrer gekommen sei. Dieser trat bald ein, und als ihn Adelgunde sah, weinte sie; schnell aber trocknete sie wieder die Thränen, und sagte in ihrer gewöhnlichen entschlossenen Art, bei der jede Bitte fast wie Befehl klang: »Setzen Sie sich, Sie beide sollen Zeugen sein. O, hier liege ich wieder in demselben Zimmer, in dem ich vor drei und vierzig Jahren gelegen habe als Tochter des Hauses, und ich war erst zwölf Jahre alt, und wollte mich tödten, wie ich andere getödtet, denn ich wußte, was ich gethan; ich hatte einen doppelten Mord begangen, aber ich redete mir's aus und vergaß es, und vergaß es doch nie.«

»Beruhigen Sie sich, Sie haben nichts als einen Fiebertraum,« sagte der Stadtpfarrer. »Und ich werde nach dem Arzt schicken,« ergänzte der Amtmann.

»Nein, nein, hören Sie mich,« entgegnete Adelgunde, »und Sie werden nicht mehr sagen, daß ich irre rede. Hören Sie mich an! Es war vor vielen, vielen Jahren, es war ein Tag wie heute, ich war im Garten – damals war noch eine ganze Mauer um denselben, nicht wie jetzt ein Stacketenzaun – und Valentin, der Sohn unseres Amtsdieners, war bei mir. Er war ein wilder Bub, der mir mancherlei Schabernack gespielt hatte, und als ihn einst mein Vater, weil ich einen solchen angezeigt, jämmerlich durchprügeln ließ, da nahm ich mir vor, keine Klage mehr über ihn vorzubringen. Jetzt aber neckte er mich wieder und warf mich mit kleinen Erdschollen, ich ging auf ihn los, und in diesem Augenblick kam mein Vater. »Hebe dein Strickzeug auf!« befahl er mir, »und wo sind die schönen kostbaren Strickrölle, die dir die Großmutter geschenkt hat?«

Himmel! wo waren die? Und ich wußte doch ganz sicher, ich hatte sie mitgenommen in den Garten. Ich weiß nicht mehr wie es kam, plötzlich hatte ich gesagt: der Valentin hat mir sie weggenommen.

»Gieb sie her,« herrschte mein Vater.

»Ich hab' sie nicht,« sagte Valentin, und stampfte mit dem Fuße auf, und machte eine Faust gegen mich.

»Wart', ich will dir aufstampfen und Faust machen,« rief mein Vater. »Dießmal sollst du mich selber spüren.« Er griff nach ihm, aber behend wie eine Katze kletterte Valentin die Mauer hinauf, und sprang hinab auf die Straße, und so wie jetzt, hören Sie, so wie jetzt, so grell und durchdringend, schrie auch damals unser Pfau.«

Adelgunde hielt eine Weile inne, dann fuhr sie wieder gesammelt fort:

»Der Amtsdiener war herbeigekommen, und mein Vater befahl ihm, seinen ungerathenen Sohn einzufangen und abzustrafen. Wir waren an das Gartenthor getreten, und sahen wie der Amtsdiener seinem Sohn nachsprang, aber dieser rannte immer weiter bis hinab an den Neckar, der so hoch von den Frühlingswässern war wie noch nie, und wir sahen, wie sich Valentin nochmals umwendete und etwas gegen seinen Vater rief, aber dieser drohte ihm mit der aufgehobenen Hand. Mit einem kecken Satz sprang Valentin in den Strom. Der Amtsdiener war niedergefallen, aber jetzt erhob er sich: »Mein Kind, mein Kind!« rief er. Wir waren ihm nachgeeilt. Am Ufer schwamm die Mütze Valentins, und jetzt zeigte sich sein Kopf und jetzt ein Arm mitten im Strom, und jetzt sah man nichts mehr. Da sprang der Amtsdiener mit einem lauten: »Vater im Himmel hilf!« ihm nach. Wir sahen ihn eine Weile mit den Wellen kämpfen, und dann verschwinden. Ich wurde heimgebracht, aber mein Vater stieg bald zu Roß, und eilte davon, und Viele aus der Stadt folgten ihm nach. Es wurde Abend, und Niemand kam. Die ganze Nacht blieb meine Mutter wach, ich selber schlummerte nur immer kurz ein, und wachte immer wieder auf; aber wie kann ein Kindersinn die Sünde und ihre Folgen fassen? Ich wußte nicht mehr, war es wirklich, oder hatte ich's nur gesagt, daß mir Valentin die Strickrölle weggenommen; diese waren allerdings verschwunden, und ich konnte nicht sagen, wohin sie gekommen waren. Oft war ich traurig, tief, schwer, und wollte mich auch tödten und in den Neckar springen; aber wenige Tage nachdem man die Leichen von Vater und Sohn in unsere Stadt zurückgebracht hatte, brachte mich meine Tante nach der Hauptstadt in die französische Erziehungsanstalt. Eine stille Schwermuth verließ mich lange nicht, und erwachte aufs Neue, als ich nach zwei Jahren wieder in das Elternhaus zurückgekehrt war. Und doch, war ich nicht vielleicht unschuldig? Hatte mir Valentin nicht in der That die Strickrölle entrissen? Hatte ich nicht die Wahrheit gesagt, und was konnte ich für die Folgen? Es giebt Dinge, die nachmals durch andere Ereignisse, die gleichsam darauf geschüttet werden, wie zugedeckt sind, und man kann nicht mehr sagen, was wirklich war und was nicht; es bleibt nichts als eine Vorstellung, die man sich selber gemacht, und es giebt nichts und Niemand, der Einen anders überzeugen kann. Aber nun, hier sehen Sie, hier ist ein Zeugniß, hier ist es, es legt sich wie eine Schlange um meine Hand, hier, hier, das erwürgt mich. An dem Kettchen hängen zwei Menschenleben, und ich, ich habe sie getödtet, und meine Schuld ist offenbar vor mir, vor euch, wie sie es vor Gott schon längst gewesen ist. Aber es ist gut, daß es so gekommen; ich soll nicht in Täuschung und Beschönigung dahingehen, ich soll mir nichts mehr vorlügen können, wie ich einst gelogen, ich soll büßen und ich büße. Ich kann nichts mehr ersetzen, aber mein bischen Habe, das ich besitze, soll an die Anverwandten des Amtsdieners vertheilt werden; Sie müssen seinen Namen noch finden, und dieses hier, ich bitte, legt es in meine Hand, wenn sie todt ist. Die Lügensaat ist aufgegangen, begrabt sie mit mir.«

Wenige Wochen darauf wurde Adelgunde aus demselben Zimmer, in dem sie als Kind einst zuerst ihre Schuld erkannt, und sich wieder ausgeredet hatte, hinausgetragen auf den Kirchhof, und die Strickrölle wurden in der Hand der Leiche mit ihr begraben.

In Einem hatte sich die Reuige doch geirrt: an dem Kettchen waren nicht drei und vierzig, sondern vier und dreißig Ringchen, ihr vorwurfsvoller Sinn oder was sonst mochte ihr diese Zahl dafür vorgespiegelt haben.


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