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Siebentes Kapitel.

Nächst der jungen Adlerwirtin war der Schuster Hirtz am meisten erfreut von der Arbeitsbethätigung des Jung Aloys, und dieser saß am liebsten bei dem alten treuen Genossen seines Vaters in der Werkstatt, die gar ruhig nach dem Grasgarten zu gelegen war.

Schuster Hirtz hatte, wie sich das fast von selbst versteht, auch einen Sohn in Amerika. Er hatte ihm einen Brief an seinen Jugendfreund Aloys mitgegeben, aber der Sohn hatte ihn nicht abgeliefert, war in New York hängen geblieben und hatte seit Jahren nichts von sich hören lassen. Hirtz meinte, daß er wohl im Kriege gefallen, aber Jung Aloys bestritt das, denn es sei in dieser Hinsicht große Ordnung gewesen und es wäre sicher Kunde davon gegeben worden.

Zwei andere Söhne von Hirtz hatten eine Schuhfabrik in der Hauptstadt, und der Vater sagte, es sei einmal so bei der neuen Freizügigkeit, es dränge und treibe alles nach den Städten hin, aber das werde sich schon einmal wieder umdrehen.

Während die Menschen übers Meer und in die Städte zogen, saß Hirtz vom frühen Morgen bis in die späte Nacht arbeitsam auf seinem Dreibein, und seine Aecker mehrten sich und im Hause war gutgeschmalztes Essen. Nur nach dem Mittagessen ruhte er, die nackten Arme auf der Brust übereinandergeschlagen, eine Weile, und da sprach er auch nicht gern, sonst aber war er gesprächsam und spendete gern von seiner still angesammelten Weisheit. Da er als Ehrenmann anerkannt war, hatte man ihm die Postablage übertragen, welche die eine Tochter besorgte, während die andere, als Telegraphistin angestellt, täglich morgens nach dem Bahnhofe hinabging und abends wieder heimkehrte.

Ja, Vater Aloys hatte seinem Sohne die beste Weisung gegeben, denn Hirtz sah Menschen und Dinge scharf und gut.

»Ich habe noch ein gutes Auge und nur zur Arbeit brauche ich die Brille,« sagte er bisweilen.

Jung Aloys sammelte viel ein, was er dem Vater zu berichten hatte, und ihm selber auch that es wohl, zu vernehmen, wieviel tüchtige Menschen im Dorfe seien; aber obgleich er seinen Sinn auf Ivos Tochter gerichtet hatte, fragte er doch nach dieser und jener Bauerntochter, auf die der junge Krappenzacher hingewiesen; auch die Tochter des Papierers von Egelsthal war durch einen Neffen von des Herzles Kobbel in Vorschlag gebracht. Hirtz aber ging nur mit kurzen Worten auf diese Nachforschungen ein, er mißbilligte die Art, wie die Muhme ihren Neffen zu Markt brachte und wie dieser sie gewähren ließ. Um so freigebiger aber war er mit seiner angesammelten Weltweisheit.

»Mich freut's,« sagte er, »daß du fleißig bist, es ist mir ein Zeichen, daß du auch wahrhaftig bist. Wer nicht fleißig ist, muß lügen; muß sich selbst belügen und andere belügen. Denk drüber nach. Ich hab lang gebraucht, bis ich das fertig gekriegt hab'. Und wenn's mit der Lüge nicht mehr geht, muß sich der Müßiggänger umbringen, stückweise, er muß sich betäuben durch Trunk und sonst allerlei. Und die Zigarre, das ist ein ganz neues Unglück. Da hat man kein' Pfeif' mehr zu stopfen und zu putzen und hat immer eine Spielerei in der Hand. Sieh dir den Ohlreit an, halbe Tage lang sitzt er da und bläst Nullen in die Luft und sieht zu, wie sie sich ringeln und wie sie zerfließen; der mit Rauch ausgefüllte Müßiggang ist ein großes Unglück. Das kannst deinem Vater auch berichten.«

»Vielleicht wär' dem Ohlreit zu helfen, wenn man ihm ein ander Geschäft gäbe.«

»Halt, das ist euer Amerika! Da werden die Menschen ungetreu.«

»Ungetreu? Mein Vater –«

»Ich mein's nicht so, ich mein's so: sie haben keine Treue zu ihrem Handwerk. Macht man mit einem andern mehr Geld, so werfen sie das gewohnte Handwerk weg. Ist's nicht so?«

»Aber ich mein', es kommt eben dadurch, daß die Leute ausgewandert sind von allem Angewohnten daheim, und in der Neuen Welt neu auf die Welt kommen.«

Hirtz schaute Aloys groß an. Er wollte sagen: Schau, schau, des Tolpatschen Sohn hat nicht unebene Gedanken. Er griff auf seinem Werktisch hin und her, als ob ihm jemand sein Handwerkszeug durcheinander gebracht und seine beste Ahle entwendet hätte.

»Ich lasse jedem seine Gedanken, ich behalte aber auch die meinen,« schloß er, indem er weit ausgreifend den Draht wichste, die Borste in den Mund nahm und den Knieriemen schärfer einlegte.

Aloys ging nun mit seinem Anliegen heraus, er sagte, daß er die Tochter Ivos freien wolle.

»Es ist nur noch eine da, die Ignazia.«

»Ebendie.«

Schuster Hirtz sah ihn über die Brille weg groß an. Was sich so ein Amerikaner nicht alles einbildet! Er glaubt, nur kommen und pfeifen zu dürfen und die feinste und beste lauft ihm zu. Mit schelmischem Lächeln erwiderte er:

»Allen Respekt! Ja, wenn du die kriegst, da kannst du froh sein; aber schad wär's, die nach Amerika zu geben.«

Aloys drückte es hinab, daß Hirtz einen Widerwillen gegen Amerika hatte; der Mann hat da einen verlorenen Sohn, und so gescheit er sonst ist, er läßt sein Unglück ganz Amerika entgelten. Er ging daher über den letzten Ausruf weg und fragte:

»Also Ihr kennet die Ignazia?«

»Sieh, dort oben, da steht ihr Leisten. Wenn du bis nächste Woche wartest, kannst du ihr ein Paar Doppelsohlenstiefele mitnehmen. Ja, die Ignazia, sie ist bei der Hochzeit ihrer Schwester hier gewesen und viel in meinem Haus. Ich habe als Soldat mitgespielt in der Jungfrau von Orleans, dein Vater ist auch dabei gewesen. Erinnere ihn nur dran. So eine, wie die Jungfrau von Orleans, könnte auch die Ignazia sein; aber sie hat keinen Aberglauben, sie ist freisinnig und hell wie der Tag. Jetzt sag, ist denn da schon was fertig gemacht?«

Aloys mußte verneinen, und je mehr Hirtz das Glück pries, eine solche Frau zu gewinnen, um so zaghafter wurde Aloys.

»Ich hab' eine Bitt',« sagte er endlich, »darf ich fragen, wieviel Ihr an einem Tag verdienet?«

»Darf ich fragen, warum du das fragst?«

»Weil ich Euch gern das bezahlen möcht'. Man sagt bei uns in Amerika, die Welt ist ein Markt, wo man für Geld alles haben kann. Die Freundschaft kann ich freilich nicht bezahlen, aber Euren Arbeitsertrag. Ihr thätet mir den größten Gefallen, wenn Ihr mich zum Ivo begleiten möchtet, oder vorausginget und mit der Ignazia von mir sprächet.«

Hirtz lehnte entschieden ab.

Aloys saß lange still verdrossen. Die Menschen sind hier doch nicht so, wie der Vater meint; sie lassen nicht alles stehen und liegen und helfen einer dem anderen.

»Ich habe noch was fragen wollen,« begann er endlich.

»Frag nur.«

»Ich versteh' nicht, was das ist mit dem Ohlreit. Keiner kann mir's ordentlich erzählen. Wollet Ihr?«

»Nicht gern.«

»Aber ich möcht' bitten.«

»Nun denn, die Sach' ist so:

Bis zum Tod des Schreiners Philipp hat man nicht gewußt, daß das so vermögliche Leute sind und so schönes Geld haben neben ihren Aeckern. Sie haben gar genau gelebt, und die Frau ist eine von den stillen Schafferinnen, die früheste am Morgen und die späteste am Abend. Ihre Freude waren natürlich die beiden Kinder. Der Trudpert ist damals sechzehn, siebenzehn Jahr alt gewesen, wie der Vater gestorben ist, und man sagt, der Bub sei nicht gut gegen seinen Vater gewesen, aber die Mutter hat alles vertuscht und den Trudpert verzogen. Ich muß das sagen, sie hat schwer gebüßt, aber eine Schuld hat sie auch gehabt, freilich nicht so, wie sie gestraft wurde.

Damals ist der Auswanderungsteufel bei uns umgegangen, und auf einmal heißt's, der Trudpert geht auch fort. Es weiß kein Mensch warum, er selber eigentlich auch nicht. Die Mutter kommt zu mir und bittet mich, ihm abzureden. Aber da hilft nichts. Fort will ich, war seine einzige Antwort und dabei ist es verblieben.

Man weiß jetzt, seitdem so viele zurückkehren, nicht mehr, wie es damals beim Auswandern gewesen ist. Das Weinen hat kein Ende genommen. Kannst dir denken, wie es der Mutter vom Trudpert war. Sie hat von da an nicht mehr ordentlich gearbeitet. Da draußen auf der Hochbur ist sie jedesmal gesessen, wenn der Briefbot' die Steig' herauf gekommen ist und hat ihm entgegen gerufen: Hast Brief' an mich von meinem Trudpert?

Wie nun Monate vergangen sind ohne Brief, hat sie nimmer gefragt, sie hat nur die Hand ausgestreckt, und wenn sie nichts bekommen hat, hat sie die Hände wieder gefaltet und hat gebetet: Lieber Gott! Laß es ihn nicht entgelten, daß er seine Mutter tausendmal umbringt, und er hat doch so gut schreiben gelernt . . .

Schau, ich hab' nicht zu entscheiden, welche Religion die beste ist. Ich mein' fast, wie der Doktor gesagt hat, die beste Religion ist noch gar nicht da. Das aber muß man den Juden nachsagen, noch kein Jude aus dem Ort hat die Seinigen daheim vergessen, jeder schickt was, selbst die, wo drüben Dienstboten sein müssen, schicken was heim. Ich mein', das kann doch keine schlechte Religion sein.«

»Gewiß nicht. Aber wie ist es weiter mit der Frau geworden?«

»Einmal haben sie hier einen dummen Spaß gemacht oder eigentlich einen niederträchtigen. Ein Ausgewanderter aus Betra kommt die Steig' herauf und da rufen sie:

Der Trudpert kommt!

Die Mutter eilt die Straße hinab, und wie sie den fremden Menschen sieht, der sie anlacht, rennt sie ins Feld hinein, und erst spät in der Nacht hat man sie gefunden, drunten am Neckarufer im Wald, da wo der große Ameisenhaufen ist, sie war tropfnaß; man meint, sie hab' sich ertränken wollen. Gewisses aber weiß man nicht, und sie hat nichts davon bekannt. Von da an ist sie immer stiller geworden und mit einem Wort: sie hat sich hintersinnt.

Wie damals die Nachricht vom Untergang der Austria gekommen ist – es sind auch von hier und von Empfingen dabei gewesen – da war natürlich viel Wehgeschrei und Herzeleid, aber die Schreinerin ist fast lustig gewesen und hat gerufen: Jetzt ist er ertrunken. Es hat nichts genützt, daß man ihr gesagt hat, das Schiff sei ja nicht von Amerika gekommen, sondern dahin abgegangen; sie ist dabei geblieben, ihr Trudpert sei mit dem Schiff ertrunken.

Wenige Wochen drauf hat sie aber doch immer wieder den Briefträger abgewartet.

Ich habe zu erzählen vergessen, daß sie noch hei hellem Verstand – ich habe als Zeuge unterschrieben – ein Testament gemacht hat, worin sie dem Trudpert, statt des gesetzlichen Erbes, nur den landesrechtlichen Pflichtteil unter Abzug des Ueberfahrtsgeldes vermachte, das übrige der Tochter, die unterdies geheiratet hatte, und ihren Kindern.

Wir redeten ihr ab, aber sie sagte damals: Wenn er zu meinen Lebzeiten wiederkommt, gilt ja das Testament nichts, und kommt er nach meinem Tod, soll er spüren, was es heißt, der Mutter das Leben abkränken.

Sie ist vor einem Jahr gestorben, der Trudpert ist wieder gekommen, bevor er das Ausschreiben von der Testamentseröffnung hat zu Gesicht bekommen können, und das ist ein Zeichen, daß er in der Hauptsache die Wahrheit spricht: er ist von selber gekommen.

Er ist gut bei Geld gewesen und hat anfangs groß gethan und als ob er nichts von dem Erbe wollte. Mit der Zeit aber hat er den Prozeß angefangen und möchte den Beweis führen, daß seine Mutter damals schon irrsinnig gewesen. Das thut er, der sie durch seine Unkindlichkeit später dazu gebracht hat.«

»Entsetzlich!« rief Aloys.

»Jawohl,« bestätigte Hirtz, »und doch, sag' ich dir, ist noch etwas brav in dem Menschen und er wäre noch zu retten. Ich glaub's ihm, daß er aus Reue heimkommen ist und gern alles hätte wieder gut machen wollen. Freilich, die Jahre und den Verstand hätt' er seiner Mutter nicht mehr geben können.«

Hirtz stand auf und atmete schwer, er mochte auch seiner Söhne gedenken und halb vor sich hin schloß er: »Das Gesetz mit dem Pflichtteil der Ausgewanderten scheint hart, ist es aber nicht. Wer so davongeht und nicht daran denkt, für die Eltern was zu thun, wenigstens ihr Herz nicht verhungern zu lassen, der soll auch nichts von den Eltern haben . . .«

Aloys ging von Hirtz weg auf den Bauplatz. Er half das Haus richten, freilich ohne die Feierlichkeit, die er erwartet hatte, und nun bereitete er sich zur Reise zu Ivo. Er wollte nicht einmal mehr warten, bis er die Schuhe für Ignazia mitnehmen konnte. Nur eines, was er bisher von Tag zu Tag verschoben, hatte er noch zu erledigen: er mußte des Jörglis Marannele besuchen.


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