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Zweiunddreißigstes Kapitel. Ist die Schuld ein lebendiges Gespenst?

»Du brauchst deswegen nicht bereuen, daß du das Haus gekauft hast. So etwas kommt nicht mehr vor,« tröstete der Schwager. »Morgen am Tag oder heut noch – der verfluchte Wendelin hat ihn arg geschlagen, aber es thut ihm nichts – heut noch bringe ich den Fabian in eine Anstalt.«

»Warum hast du das nicht früher gethan?«

»Ich habe gemeint, du thust's und versorgst ihn überhaupt.«

»Ich? Warum ich?«

»Ich red' nicht gern darüber, ich mach' dir nicht gern ein schweres Herz. Du weißt doch, wie alt der Fabian ist?«

»Nein.«

»Das weißt du nicht? Er ist grad so lang auf der Welt, als das Lorle heimkommen ist.«

Der Schwager sah Reinhard so seltsam, bald so scheu, bald so vertraulich an, daß das Ungeheuerlichste Reinhard als möglich erschien.

»Was hat die Heimkehr Lorles mit Fabian zu thun?«

»Ich sag' dir's nicht gern, du bist heute ohnedies verstört, du siehst aus, wie wenn du aus dem Grab kämst.«

»Sprich, was ist?«

»Ja, bis jetzt hat's kein Mensch gewußt außer dem Bezirksarzt, und der ist gestorben.«

»Was ist denn? So sprich doch gradaus.«

»Du zwingst mich also? Ich sag's. Der Fabian ist von dir und vom Lorle . . .«

»Wie? Was? Bist du von Sinnen? Willst du mich verrückt machen?«

»Laß mich doch ausreden. Ich mein's ja nicht so. Er ist unser Kind, natürlich . . . Aber . . .«

»Was aber?«

»Also damals ist meine Frau mit dem Fabian gegangen und von dem Schreck über Lorle ist das Kind als blödsinniges zur Welt gekommen. Versprich mir,« fügte er hinzu, indem er die Hand Reinhards faßte, – sie war starr und kalt – »sag meiner Frau nichts, daß ich dir das gesagt habe. Du hast mir jetzt die Hand drauf gegeben. Jetzt sei ruhig . . . Schau, dort kommt meine Frau, sie bringt dir Kaffee. Ich geh, und du, du hältst dein Wort.«

Reinhard erwiderte nichts.

Hat sich die Schuld in ein lebendiges Ungeheuer verkörpert?

Vroni kam. Reinhard starrte sie stumm an, sie aber war voll beredter Zutraulichkeit und freute sich, daß jetzt wieder Tag sei, und am Tage ließe sich alles ordnen.

»Sag, was hast? Was siehst du mich so an, wie wenn du mich noch nie gesehen?« fragte sie.

»Wie geht es Fabian?« fragte er endlich.

»Er hat gegessen und getrunken und ist so wie immer. Der einfältige Wendelin hat seinen Zorn auf meinen Mann an dem armen Wesen ausgelassen, aber der Fabian ist hartschlägig, der spürt nichts, das ist so bei der Art.«

»Vroni! Verhehlst du mir nichts?«

»Ich wüßte nicht.«

»Wie alt ist der Fabian?«

»Dreißig Jahr. Und man versündigt sich, wenn man ihm den Tod wünscht. Er hat freilich nichts vom Leben . . .«

»Vroni! Dir glaub' ich. Sag offen. Haben wir . . . Habe ich an Fabian . . .«

»Hat dir mein Mann gesagt?« schrie Vroni laut auf, sie wurde flammrot und rasch schwand alle Farbe aus ihrem Gesichte.

»Vroni, du bist so gut gegen mich und ich, ich habe dir so Schweres . . .«

»Also, er hat dir's gesagt? Du hast schon schwer genug zu tragen, und wer weiß, ob's wahr ist. Der Doktor hat's freilich gesagt, aber alles wissen die Doktor doch nicht, und du kannst nichts dafür und das Lorle kann nichts dafür. Ich allein bin schuld. Warum bin ich so schreckhaft? Und jedes muß was haben, und Gott hat mir sonst lauter gesunde Kinder geschenkt.«

Lange herrschte Stille. Endlich fragte Reinhard:

»Wußte Lorle auch? . . .«

»Sie hat wenigstens nie ein Wort darüber gesprochen. Freilich, sie hat über Dinge, die sie nicht sagen wollte, schweigen können wie ein Beichtvater. Und Geduld hat sie mit dem Armen gehabt wie ein Engel und ihr hat er auf einen Wink gefolgt und er kann sonst nichts reden, aber du hast's ja gehört, ihren Namen kann er sagen.«

Vroni wußte mit großer Beredsamkeit das Ungeheuerliche Reinhard aus der Seele zu nehmen und sie schonte sogar ihren Mann nicht, der dem Doktor etwas eingeredet habe, um sich selber von einer bitteren Heftigkeit zu entlasten.

»Darf ich dir was raten? Darf ich dir alles sagen?« begann sie aufs neue.

»Gewiß. Du meinst es ja so getreu.«

»Es kann's niemand auf der Welt getreuer mit dir meinen. Also überleg dir, was ich dir sag'; ich sag' dir: Bleib nicht hier. Du passest nicht hierher. Es ist ganz recht, daß du neben dem Lorle begraben sein willst, aber deswegen brauchst du dich nicht hier lebendig begraben. Du kannst das Haus behalten, ich will dir's sauber halten und du kommst manchmal her. Aber bleib nicht für immer hier. Es ist nicht gut für dich, so allein zu sein. Du bist noch zu – fast hätte ich gesagt, zu jung und du machst dir auch zu viel Gedanken. Ich nehm' dir's nicht übel, daß du meinen Vater nicht mehr besuchst. Kann mir's denken, daß es dir schwer wird, von Lorle zu reden, wie wenn sie noch lebte, kann ich's ja kaum. Glaub mir, wenn das Lorle vom Himmel herunter reden könnte, es thäte dir auch sagen: Bleib nicht hier. Du brauchst mir jetzt kein' Antwort zu geben. Ich sag' nur, überleg dir's.«

Reinhard war nahe daran, Vroni seine Verlobung mit Malva zu bekennen, und er erschrak, da Vroni wieder aufnahm:

»Wenn du wieder heiraten könntest, thäte ich sagen: Bleib hier, laß dir's die paar Jahre noch wohl sein. Der alte Baron Hahnenkamm hat in deinen Jahren auch wieder geheiratet und hat zwei schöne Kinder. Aber freilich! wer das Lorle zur Frau gehabt hat, kann nicht wieder heiraten. Jetzt aber hab' ich genug geschwätzt. Jetzt behüt dich Gott! Leg dich noch hin und schlaf. Ich mach' die Laden zu.«

Sie ging und Reinhard schlief in der That bis zum Abend.


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