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Sechzehntes Kapitel. Steinalt.

Endlich am dritten Sonntag erhielt Reinhard einen Brief. Schon die Aufschrift war seltsam anfremdend: »Seiner Hochwohlgeboren, Herrn Woldemar von Reinhard, Professor a. D., Ritter hoher Orden in Weißenbach.« Der Brief aber lautete:

 

»Vom schwarzen See. Aus der Pfahlbaute.

Wenn mir der prähistorische Pfahlbauer erschienen wäre, er hätte mich nicht mehr überraschen können als Dein Brief. Ueberraschungen, das könntest Du noch wissen, machen mich fast krank. Da saß ich auf einem jener halbvermorschten Stämme, drauf unsre vorgeschichtlichen Ahnen ihre Wohnstätten errichtet hatten. Wir haben bald die ganze Puppenstube beisammen, in der das Menschheitskind sich tummelte. Um mich her lagen plumpe Speerspitzen, Hämmer und Sägen, aus Feuerstein bearbeitet, Knochen von Höhlenbären und vom Renntier der Polarzone, die einstmals bei uns daheim gewesen und – da kam Dein Brief. Ich muß Dir sagen, er ist mir rätselhafter als die Artefakte der ältesten Steinzeit. Dich aber kann ich fragen und werde es thun, sobald ich mit der neuentdeckten Fundstätte vom Hausrat meines anonymen Urahnen etwas in Ordnung bin. Ich glaube, daß unser Familienname schon in der ältesten Steinzeit sich irgendwo eingegraben finden sollte, einstweilen bin ich der alte und heiße sogar Direktor des historischen Museums

Adalbert Reihenmeyer.

(Auch eine Nachschrift.) Ich lasse Dir von meinem Verleger meine letzte Schrift »Die Reliquien der Menschwerdung« schicken. Man hat mir den Titel sehr übelgenommen. Sieh einmal in einer leeren Stunde Dich nach Deinem Urahn um. Vor dreißig Jahren habe ich die Versteinerungen im Moralienkabinett zu ordnen gesucht, ich hatte einen Schuß ins Schwarze gewagt; es war ein Flintenschuß gegen die wohlbewehrte Festung der Theologie. Wir ackern jetzt mit dem weltgeschichtlichen Untergrundspflug. Die alten und die neuen Propheten und Gottesgelehrten wußten nichts von unsern Urahnen, und es ist unser demokratischer Ahnenstolz, daß wir von Viertelsmenschen abstammen und immer mehr werden als unsre Vorfahren. Die Entwickelungsfähigkeit des Menschengeistes ist unbegrenzt und läßt sich nicht in ein Dogma verkapseln. Die Menschheitsgeschichte ist die Geschichte der Arbeit oder vielmehr die Geschichte der Werkzeuge, von Steinart und Kieselmesser bis zur Dampfmaschine. Nach Millennien wird man über unsre einfachen elektrischen Telegraphen lächeln. Und wie erst, wenn einmal unser Planet neu geknetet wird. Was thut's? Wir haben das große Gesetz von der Erhaltung der Kraft. Laß Dir das vorläufig auch gesagt sein.

Ich sehe indes, Du bist noch jung und stark, denn Du wütest gegen Dich selber, und das thut nur die Jugend. Schreib' aber nie mehr im Zorn solche Gotteslästerung gegen die Kunst, die das erste und letzte Göttliche im Menschen ist; denn mit den ersten Finger- und Nagelmalen, mit den ersten Linien, die der Pfahlbauer seinem Thongefäß eindrückte, begann das Werden von Phidias und Raphael und aller, die jetzt und nach jetzt.

Ich schreibe Dir aus einer andern Welt, aber ich kann nicht anders.«

 

Allerdings schien Reinhard dieser Brief wie aus einer andern Welt zu kommen, er sah nachdenklich drein, als er gelesen hatte. Ist der alte Kamerad in der That so befangen von seinen Studien, daß er nichts andres kennen will, oder ist das nur Maske, um neue freundschaftliche Annäherung abzulehnen?

Er hatte nicht Zeit, lange darüber zu denken, denn der Schwager fragte:

»Ist der Brief nicht vom Herrn Reihenmeyer?«

»Jawohl. Wie ist er denn geworden?«

»Er ist geblieben wie immer, er ist freilich grimmzornig auf unser Dorf, weil sein guter Freund in der Reichstagswahl bei uns durchgefallen ist; er hat geglaubt, durch die Schullehrer Meister über uns zu werden. Wir haben ihm aber den Meister gezeigt. Sonst aber ist er seelensgut, dem thut's leid, daß die Fliege, die ihm ins Aug' geflogen ist, hat sterben müssen.«

Stephan lachte selbst über seinen Vergleich.

Nach einer Weile fragte Reinhard:

»Warum hast du allen Leuten von meinem Geld erzählt?«

»Warum?« lachte Stephan. »Nimm mir's nicht übel. In solchen Sachen bin ich gescheiter. Von dem Augenblick an hast du keinen Feind im Dorf mehr gehabt, im Gegenteil, sie haben Respekt vor dir.«

Am Mittag las Reinhard die Schrift Reihenmeyers über die Pfahlbautenzeit, er wollte sich mit den Gedanken des Freundes und der Sphäre, in der er lebte, vertraut machen; aber in die Zeilen hinein, die von vorgeschichtlichen Zuständen erzählten, sprang eine lebendige Figur mit rötlichem Haar und hellen, warmblickenden Augen und ließ sich nicht verscheuchen.

Da kam der Schwager und rief:

»Komm nur wieder mit! Der Pfarrer ist da und eine ganze Wallfahrt; mit dem nächsten Zug kommt der Kaspar aus Jerusalem. Er ist auch in Rom gewesen.«

Reinhard erinnerte sich dessen wohl, hatte er ja durch die Wallfahrer den Tod Lorles erfahren.

Er ging aber nicht mit, er saß auf seinem Zimmer und hielt das Buch des Kollaborators in der Hand, während vor dem Hause eine große Schar Menschen vorüberzog, die eine Litanei beteten.

Am Abend war der heimgekehrte Kaspar selbstverständlich allgemeines Gespräch im Wirtshause; ein hier übernachtender Lokomotivführer hielt der Lobpreisung Widerstand. Seine Aeußerung stimmte mit einem Worte des Kollaborators zusammen, denn er sagte; »Was, nach Jerusalem! Wenn ich so viel Geld aufzuwenden hätte, ich ginge nächstes Jahr zur Weltausstellung nach Philadelphia. In der Neuen Welt kann man Neues kennen lernen. Ich glaube, alle Apostel miteinander haben nichts von Amerika gewußt.«


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