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Neunzehntes Kapitel. Wie Reinhard die Zeit lebte.

»Hast du denn meinen Brief nicht erhalten?« begann Reinhard nach einer langen Pause.

»Dein Brief war so verzweifelt und müde und ich finde dich spannkräftiger, als ich erwarten durfte. Ich frage dich nun nicht mehr, wie du in einem geistig schwarzen Dorfe leben kannst. Aber so viel kenne ich dich doch noch, du kannst ohne Aufregung nicht leben, du bedarfst des beschleunigten Pulses.«

»Ich habe die Menschen nicht mehr nötig.«

»Man bedarf oft gerade das Unnötigste am meisten.«

»Lassen wir das Wortgefecht.«

»Ich frage nur, was willst du hier?«

»Leben, so lang ich atme, und dann sterben.«

»Sterben? Das Unnützeste, was man im Leben thun kann, ist, an den Tod zu denken,« entgegnete der Kollaborator. »Aber warum hast du all die Jahre nichts von dir hören lassen und bist nicht früher gekommen? Jetzt hast du keine Pflicht mehr. Du kannst beliebig Trauer anthun und ablegen. Und wem leistest du durch dein Hiersein etwas? Keinem Menschen, und dir selber auch nicht, du verschleuderst deine Lebenskraft, und dazu hast du kein Recht. Ja, schüttle nur den Kopf. Das ist unsre Religion der That. Deine Kraft gehört nicht dir, du bist eingereiht in den Dienst der Menschheit, so lang du atmest. Du leugnest das? So sage ich dir, du empörst nur aufs neue alle Welt durch dein Hiersein.«

Der Freund setzte nichts hinzu, und lange war ringsum Stille, nur in den Wipfeln der Fichten rauschte ein leiser Wind.

Reinhard mißhandelte mit beiden Händen seinen langen Bart und biß die Lippen, endlich, sich gewaltsam fassend, sagte er:

»Gut, ich nehme auch diese Buße auf mich. Ich gehe durchs Fegfeuer. Du hältst dich für einen Menschenfreund und du quälst deinen Nächsten, wie dich selbst.«

Es lag eine gewisse hochmütige Nachlässigkeit in Ton und Behaben Reinhards; der Kollaborator schien davon betroffen und er sagte:

»So lassen wir jedes weitere Wort und sagen uns Lebewohl.«

»Nein, das will ich nicht. Willst du mich ruhig anhören? Ich möchte von deinen Augen doch gerecht gesehen sein. Willst du es geduldig hören?«

Der Kollaborator nickte, und Reinhard begann:

»Ich weiß, was sie gelitten hat; ich weiß das jetzt erst ganz und voll. Ich lasse unentschieden, ob sich der verschuldete oder unverschuldete Schmerz leichter trägt. Und wer ist ganz ohne Schuld? Du kennst jenes höchste Gleichnis. Ihr könnt nicht wissen, was ich gelitten habe. Träumtest du schon einmal, du seiest blind geworden? Meine erste Empfindung, als sie mich damals allein gelassen, war tief gekränkter Stolz. Wie? Mit mir, mit einem Manne meiner Art nicht glücklich? Das kann nur eine bornierte Natur. Dann kam es anders. Ich schalt mich, weil ich die Folgen einer Unbesonnenheit nicht tragen wollte. Und doch kämpfte ich wieder dagegen, daß eine einzige That ein ganzes Leben zerstücken und zerstampfen soll. Meine Frau hatte einen großen Feind in der Welt, und das war mein Ruhm. Sie hatte keinen Sinn für meinen Ruhm, nach ihrer Denkart brauchte ich den nicht, ich war ja der Reinhard. Du sagst gewiß, das war ja alles lauter Liebe, was ging sie dein Ringen mit dir und der Welt an? Ich sage dir, es ist anders. Ich bin nur das in meinem Kunstberuf geworden, weil ich Wesen fand, um derentwillen es mich freute, Ruhm zu gewinnen. Ich gestehe dir aber noch mehr. Der Kunstberuf schließt ein glückliches bürgerliches Leben aus, man kann nicht in der Idealwelt und in der wirklichen zugleich daheim sein wollen. Du schüttelst den Kopf? Ich weiß, auch andre werden das leichthin verdammen. Laß mich erklären. Mein Hauptirrtum war, daß ich glaubte, eine Frau könne die Wetterlaunen einer Künstlernatur verstehen. Das kann keine Frau, keine naive und keine gelehrte. Kein andres kann die Welt mit unsern Augen sehen, aber es muß unsern Augen glauben. Die Art, wie die Lebensbegegnisse sich uns verwandeln, wie wir in jeglichem etwas anders sehen, als andre, das kann kein zweiter Mensch fassen, gewiß aber keine Frau. Wir sind stets im Werbezustande, im Brautzustande mit der Erscheinungswelt, wir sind nie verheiratet, oder auch mit jedem Begegnis. Du lächelst? Unterbrich mich nur, ich bin so alt, daß mich kein Widerspruch mehr stört.«

»Ich dachte nur: es ist wunderbar, wie viel romantische Ueberschwenglichkeit in dir steckt. Du bist doch ein guter Deutscher.«

»Sei es. Und trotz dieses Denkens habe ich doch hundertmal Lorle schreiben und sie zu mir rufen wollen. Wären wir vom Dorfe aus gleich nach Rom gezogen, wer weiß, ob nicht das große Leben uns schön beisammen gehalten; die engbrüstige Verhocktheit der kleinstädtischen Residenz hat uns versäuert und voneinander gescheucht.«

»Wohl möglich.«

»Ich schrieb nicht und rief sie nicht, weil in meiner Seele ständig zwei Strömungen nebeneinander und übereinander gehen. Ich habe trotz unbeschränkter Freiheit doch in meinem ganzen Leben nie eine Arbeit ohne Störung, aus mir selber oder von außen, vollendet. Darum empfand ich's oft doppelt schmerzlich, daß ich die Störung durch die Fremdheit meiner Frau – wenn sie verblieb – nicht leichter und freier ertrug. Ich habe in der großen Welt gelebt und haßte doch alles Leben; das Dasein erschien mir als ein Fluch, als der Hohn eines unsichtbaren Tyrannen. Es gab Zeiten, wo mir mein Atelier zuwider war, wo ich in den Straßen umherschlenderte und nicht wußte wohin, weil nichts mich anmutete. Ich lernte die Verderbtheit der Welt kennen und es war mir erwünscht, daß sie verderbt ist. Ich suchte Ermunterung in der Betäubung. Ich wollte mich vergessen und stürzte mich in Gesellschaften, die ich verachtete, die mich anekelten. Das war eine Strafe für mich, wie sie nicht härter zu erdenken ist.«

»Eine Strafe? In welchem Gesetzbuche steht diese Strafe?« hatte der Kollaborator auf den Lippen, aber er hielt es zurück und Reinhard fuhr fort:

»Ich war in Rom, in Paris, London, in Aegypten und Amerika; ich habe Ehre, Ruhm, Reichtum erworben. Ich habe viel freundliche Gunst des Lebens erfahren, aber so hat mich doch nie jemand geliebt, wie Lorle, nie wurde ein Mann mehr geliebt, als ich von ihr.«

»Und du sie? Warum sprichst du nicht von deiner Liebe?« wollte der Kollaborator fragen, aber er schwieg und Reinhard erzählte nun, wie er ihren Tod erfahren, wie er alles von sich gethan, seine Skizzen und Studien, seine Sammlungen weggegeben, und seine Stimme zitterte, als er nach einer Pause erklärte, wie er an ihrem Grabe gestanden und den Fleck Erde betrachtet habe, den sie neben sich ihm zur Ruhestätte bestimmt hatte, dann fügte er hinzu:

»Ich habe das Gefühl, daß ein fremder Wille über mich verfügt und das thut mir wohl; ich habe stets nur mir selbst gefolgt und empfand meine Freiheit als Tyrannei. Ich hatte ein Leben, in dem es kein Gebot, keine Pflicht gab als nur selbstauferlegte. Dieser Ruf zu der von ihr mir bestimmten Grabstätte ist mir ein Befehl, und ich begrüße den Befehl als Glück. Sag' mir nichts dagegen. Ich freue mich, daß ich noch ein entschiedenes Gefühl habe. Laß mir's. Ich will keinen Willen mehr haben, ich folge einem unwiderruflichen Gebot. Ich habe der Medusa Wahnsinn ins Auge gesehen. Hier bin ich erlöst. Ich bin nicht so schlecht, als ich von mir dachte. Es ist nicht Sentimentalität, daß ich hier bleibe, ich kenne den Gräberkultus nicht, ich liebe ihn nicht, aber ich will da sein, wo ich jung und glücklich war, wie man es nur in der Jugend ist. Ich bin da, wo Mensch und Baum und Berg und Wald mich kennt von alters her und ich sie auch. Hier heiße ich des Lorles Reinhard und mit diesem Namen will ich sterben. Ich habe genug Leinwand mit Farben bedeckt, habe Natur und Mensch stets mit weitaufgerissenem Auge gesehen. Es ist genug. Ich schließe die Augen und will still hindämmern, bis das Auge geschlossen bleibt. Und nun sei wieder mein Bruder!«


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