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Sechstes Kapitel. Wie ein Dorfpfarrer zu Hof befohlen wird.

Die Pfarrerin stand schon lang am Fenster und schaute durch die Scheiben; nur von dem einen Eckfenster konnte man die Gegend überschauen; die andern Fenster waren durch eine vorgebaute, spitzgieblige Scheune verdeckt, die ein Bauer, dem früheren Pfarrer zum Possen, gerade hierhin gebaut und mit ungewöhnlich hohem Dach versehen hatte, um dem Pfarrer die Aussicht zu rauben. Jetzt, da man einen braven Pfarrer hatte, konnte man die Scheune nicht mehr abtragen. Die Pfarrerin konnte aber auch an dem freien Fenster nicht weit sehen, denn das war heute ein Tag, der eigentlich nur Dämmerung ist zwischen der einen Nacht und der andern: die Sonne schimmerte nur wie ein zerflossener gelber Fleck durch die dichte Wolke, die sich weit über die ganze Gegend gelagert hatte. Als die Pfarrerin den Schlitten schon ganz nahe herankommen sah, nickte sie nur, öffnete aber das Fenster nicht, sie blieb wie festgebannt am Fenster stehen. Sie wäre gern hinabgeeilt, um ihren Mann willkommen zu heißen, aber sie wußte, ihrem Mann waren alle heftigen und öffentlichen Gemütsäußerungen zuwider: er hatte etwas kindlich Verschämtes, und namentlich war ihm jede Empfangs- und Abschiedsfeierlichkeit zuwider.

Die Pfarrerin hatte die Magd schnell hinabgeschickt, und durch einen Tritt auf die Schnalle am Stubenboden öffnete sie die Hausthür. Um doch etwas thun zu können, stellte sie die Tasse und das Brot nochmals zurecht, obgleich es ganz in der Ordnung bereit stand; sie hob die gewärmten Pantoffeln auf, die am Ofen standen, und stellte sie verkehrt wieder hin; sie nahm den Kessel mit siedendem Wasser aus der Ofenröhre und goß noch frisch zu. Es war heimelig warm in der Stube; man wohnt nicht umsonst mitten in den Waldbergen.

»Guten Morgen, Lina!« sagte der Pfarrer, endlich eintretend. »Gottlob, gottlob, daß ich wieder daheim bin.« Er zog den Pelzmantel ab, es ging schwer, die Pfarrerin half nach.

»Schläft Eduard noch?«

»Nein, er ist auf die Jagd. Ich habe ihn dir entgegengeschickt. Hast du ihn nicht getroffen?«

»Nein.«

Die Stubenluft schien dem Pfarrer doch zu eng, er öffnete das Fenster, stand eine Weile vor demselben und sagte: »Es ist gut, daß du nicht daran dachtest, daß man in der ganzen Gegend nach dem Wolf fahndet, der sich untertreibt; du hättest dir gewiß eingeredet, das Ungeheuer verschlingt mich.«

»Komm, setz dich und erwärme dich,« entgegnete die Pfarrerin und schenkte den dampfenden Kaffee ein. »Komm, ich will dir die Tasse halten, deine Finger sind ja so steif, daß du sie nicht fassen kannst. Nimm nur ein paar Schluck. Was war's denn, daß du mitten in der Nacht zur wilden Röttmännin geholt wurdest? Nein, nein, trink nur, es hat Zeit, mir zu antworten. Ich kann warten.«

»Lina,« sagte der Pfarrer, und ein seltsames Lächeln stand auf seinem feinen Gesichte, »Lina, sei stolz! Ich muß einer der berühmtesten Unterhaltungsmenschen sein. Ah! der Kaffee thut gut. Denke nur, Lina! Es war gerade ein Uhr, es schlug eben drüben in Wengern, als ich auf dem Röttmannshof ankam. Der Empfang war sehr lärmend. Man drängte sich mit lautem Willkommsgruß um mich und wollte mich nicht absteigen lassen. Die guten Leute hatten in der Nacht alle Hofhunde losgelassen, es war ja nicht nötig, sie anzubinden, wenn der Pfarrer kam; die guten Leute sind des schönen Glaubens, daß das Wort Gottes auch bissige Hunde in der Nacht bannen könne. Es dauerte eine geraume Weile, ehe ich absteigen konnte, die Hunde mußten alle vorher an die Ketten gelegt werden. Schenk mir noch einmal ein, der Kaffee ist sehr gut.«

»Und wie ging's weiter?« fragte die Pfarrerin.

Der Pfarrer sah sie eine Weile lächelnd an, dann fuhr er fort: »Bis an die Kniee tief liegt oben der Schnee, er hat wenigstens das Gute, daß er sauber ist, er macht uns nur so heimtückisch naß. Ich komme glücklich über bescheiden verhüllte Sägklötze ins Haus, und es war sehr freundlich von den Pfützen, daß sie zugefroren waren. Wo ist der Röttmann? frage ich. Er liegt im Bett. – Ist er auch schwer krank? – Nein, er schläft. – So? Man läßt mich zu der sterbenskranken Frau rufen, und der Mann legt sich schlafen? Schöne, gemütliche Welt das! Gut, ich komme zur Kranken ins Zimmer. Gottlob, daß Ihr da seid, Herr Pfarrer. – Wie? Ist das die Stimme einer Sterbenden? Ich frage, warum man mich mitten in der Nacht habe rufen lassen. Ach, guter Herr Pfarrer, sagt die Röttmännin, Sie sind so gut, so seelengut, und können so getreu mit einem reden und berichten, daß einem ganz wohl dabei wird und man ganz vergißt, daß man so schwer krank. Ich liege jetzt schon die siebente Nacht und kann fast kein Auge zuthun, und die Langeweile plagt mich, ich kann's gar nicht sagen. Ich mein', die Stunden wollen gar nicht herumgehen, und da habe ich nach Euch geschickt. Herr Pfarrer, Ihr seid ja so gut, Ihr sollet auch ein bißle mit mir reden. Mein Mann darf gar nichts davon wissen, daß ich nach Euch geschickt habe, er gönnt mir nichts Gutes, er geht fort, so oft er kann, und wenn er daheim ist, redet er kaum ein paar Worte mit mir; es wäre ihm am liebsten, wenn ich vor langer Zeit sterben möcht', und mein Einziger, mein Adam, der thut gar, als ob ich schon nicht mehr da wäre. O, Herr Pfarrer! Wenn man so daliegen muß, Tag und Nacht auf dem einsamen Hof, und kann nichts schaffen, jeder Tag ist eine Ewigkeit lang und jede Nacht noch dreimal mehr. Wenn mein Vincenz noch lebte, der säße Tag und Nacht bei mir, der allein hat mit mir reden können, so kann's kein Mensch mehr. So, guter Herr Pfarrer, jetzt setzt Euch ein bißle her zu mir und redet auch was. Wollt Ihr nicht einen guten Schluck Wacholderbranntwein? Das erwärmt, das müsset Ihr nehmen, nein, das dürft Ihr mir nicht abschlagen. Kätherle, lang die grüne Flasche dort herunter, die hinterste, und schenk dem Herrn Pfarrer ein. – Wie meinst du, Lina, wie mir zu Mute war, als ich die Frau das alles in geläufigem Redefluß vorbringen hörte?«

»Ich hätte an mich halten müssen, den frechen Teufel nicht zu verfluchen. Entsetzlich! Zerrt dich in der kalten Dezembernacht aus dem Haus über schneeige Berge.«

»Und wo noch dazu ein Wolf umgeht,« schaltete der Pfarrer ein.

»Laß mich mit deinem Wolf,« fuhr die Pfarrerin heftig fort, »diese Röttmännin ist der schändlichste Wolf. Du hast ihr doch deine Meinung gesagt?«

»Allerdings. Und dir gegenüber darf ich doch eitel sein. Ich kann dir sagen, nie in meinem Leben war ich zufriedener mit mir. Ich mußte fast lachen über diese so überaus kindliche Rücksichtslosigkeit. Kinder sind ja auch so, sie denken nur an sich und durchaus nicht an die Opfer, die sie von andern verlangen. Sage, was du willst, es lag eine gewisse Unschuld in dem Thun der Röttmännin, sie denkt nur an sich und weiß nicht, was sie thut. Ich habe ihr natürlich nicht verhehlt, daß das etwas sehr willkürlich über die Nachtruhe andrer verfügen heißt, und wie ich nicht eben geschmeichelt bin, daß sie meine Unterhaltung so hoch anschlägt und mich zu Hof befiehlt und mir noch einen Hofwagen schickt. Indes, da ich einmal da war und der Schlaf einmal gebrochen, unterhielt ich sie, soweit meine Unterhaltungsgabe reicht, und sie selber that auch das Ihrige; sie erzählte gut oder eigentlich bös, denn das Liebste war ihr, recht schlimme Streiche der Menschen zu erzählen, und wie nichtsnutzig die jetzige Welt sei, und immer wieder sagte sie: wenn ich sterbe, bitte ich Gott um die einzige Gnade, er soll mir ein Zeichen geben lassen, wer meinen Vincenz umgebracht hat, daß man die Mörder, und wenn's das halbe Dorf ist, hängen und verbrennen kann. Du weißt, wenn sie auf dieses Thema kommt, ist sie im höchsten Grade erfinderisch. Ich habe aber die Beweise, daß sie auch den Vincenz nicht liebte, solange er am Leben war. Jetzt redet sie sich eine schwärmerische Liebe ein, als ob er alle ihre Liebe mit ins Grab genommen, denn es ist kein Herz so böse, daß es nicht nach einem Grunde seiner Bitterkeit sucht und etwas zu lieben glaubt, um derentwillen alles andre vernichtet werden soll. Ich redete ihr nun ins Gewissen, daß es wohl anstehe, einen Toten zu lieben, aber für einen Toten könne man nichts mehr thun, sondern nur für die Lebenden; sie solle nur endlich nachgiebig sein gegen Adam und Martina. Ich schilderte ihr die Freude, die sie an dem Enkelchen haben werde. Ich suchte ihr einzureden, daß sie mich nur deswegen habe kommen lassen, sie habe sich nur gescheut, mir das offen zu bekennen. Aber – ich glaube in der That, daß ein Wolf in der Gegend herumschwärmen muß, – dieses Heulen, in das jetzt die Röttmännin ausbrach, muß sie von einem Wolf gelernt haben; es schauderte mir durch Mark und Bein, und ich meinte, sie vergeht jetzt, sie kann keinen Atem mehr finden vor Wut; sie kratzte mit ihren Nägeln die Wand und sank zurück, schnell aber erhob sie sich und rief: Ich dank' dir, Gott, lieber Gott, ich dank' dir, laß mich nur noch leben, nur noch lang, meinetwegen so, daß ich nicht aufstehen kann, aber rufen kann ich, rufen, und bis zu meinem letzten Atem will ich rufen: Ich leid's nicht, ich leid's nicht, daß so eine Bettelmannstochter, die meinen Adam verführt hat, Röttmännin wird. Warum gibt's denn keine Menschen mehr, die so ein nichtsnutziges Wesen mitsamt ihrem Kind aus der Welt schaffen? So sind die Pfarrer, so sind sie jetzt, die Faulenzer, die Schwarzröcke; es ist keine Gottesfurcht mehr, die Pfarrer selber wollen, daß Schlechtigkeit und Verführung noch mit Gutem belohnt werde. Mit dem Strohkranz sollte sie vor der Kirche stehen und Buße thun. Aber da herauf soll sie nie, und wenn unser Herrgott vom Himmel herunterkommt, und wenn er tausend solche, solche . . . scheinheilige Pfarrer schickt, und wenn sie mir den Hals zudrehen, schreie ich noch: ich leid's nicht, und heute, heute noch muß es fertig werden. –

Von dem Geschrei der Röttmännin erweckt, war Vater und Sohn herbeigekommen, und der Alte that eigentlich so, als ob ich mich ins Haus gedrängt hätte, und gab mir deutlich zu verstehen, er lasse seiner Frau nichts geschehen, der Schilder-David könne schicken, wen er wolle. Der Adam stand still, faltete die Hände und sah flehend zu mir auf. Ich hätte es dem Gaul nie zugetraut, daß er so barmherzig dreinschauen könne. Ich kam mir vor wie ein Menschenkind, das in Märchenzeiten zu Dämonen geholt wurde, um ihnen Beistand zu leisten. Ist das eine Welt? Sind das die Menschen, denen ich jetzt bald zehn Jahre das Evangelium der Liebe predige? Jedes Wort, das ich reden wollte, erstarrte mir auf der Lippe. Ich befahl nur, daß man sogleich wieder einspanne, ich wolle heim. Man hörte mich nicht. Adam sagte endlich: Ich fahre Euch heim, Herr Pfarrer. Verzeiht allen.

Nein! schrie die Alte, er darf nicht mit. Halt ihn fest, Christoph. Er ist im stande und läßt sich gleich mit seiner Schilderdrechslerin trauen. – Der Vater befahl Adam, dazubleiben. Und nun schwur er seiner Frau und legte dabei die Hand auf die Bibel, die ich aufgeschlagen hatte – mir war's entsetzlich, daß dieser Mensch auf dieses Buch schwören durfte – er schwur hoch und heilig, daß er noch heute die Verlobung Adams mit des Heidenmüllers Toni abschließe.

Wie ich aus dem Hause gekommen, ich weiß es kaum mehr, ich rief dem Knecht, der mich geholt hatte, ich gehe ein Stück voraus, er solle mit dem Fuhrwerk bald nachkommen. Ich ging im beginnenden Morgendämmern den Bergwald hinab, mir war's, als entflöhe ich einer Höhle, drin Dämonen hausen. Ich glaube nicht, daß ich mich geirrt habe, mir begegnete der Wolf, das Tier blieb eine Weile stehen, schaute nach mir um, wie sich besinnend, und ging dann ruhig waldein. Ich kann nicht leugnen, ich stand zitternd da, und nie in meinem Leben fühlte ich eine solche Kälte als in diesem Augenblick; es war auch entsetzlich kalt, und es war unklug von mir, vorauszugehen. Der Knecht mit dem Fuhrwerk kommt lange nicht. Die Schelme sind es wohl im stande und schicken mir gar keins und lassen mich zu Fuß heimgehen. Ich kehrte nochmals um, und Zorn und Bitterkeit machten mir heiß. Nicht weit von dem Hofe begegnete mir der Knecht, der gemächlich daherfuhr, und glücklicherweise fand ich jetzt den Kirschengeist, den du mir mitgegeben. Die Stunde, die ich in halbwachem Zustande hierherfuhr, ich kann dir nicht sagen, was mir da alles durch die Seele ging. König Salomo und Jesus Sirach haben viel berichtet, was ein böses Weib ist; ich kann ihnen jetzt noch mit einem guten Posten aushelfen. Aber, liebes Herz, was wäre die Güte, die Menschenliebe, die sich nie an bösen Menschen erprobte? Dennoch bin ich froh, daß ich mich von hier abgemeldet habe; die Fünfziger Jahre, in die ich nun bald trete, bedürfen einer ruhigeren Arbeit, ich habe in meiner Jugend hartes Holz genug gebohrt; und wenn ich meine Stelle darüber verliere, dabei bleibe ich fest: ich traue den Adam nur mit der Martina.«

Aufatmend und sich eine Thräne aus dem Auge wischend, sagte die Pfarrerin: »Ja, es wird gut sein, wenn wir in eine andre Gegend kommen, zu Menschen milderer Sitten, die auch mehr erkennen, was du bist.«

»Vergiß nicht,« entgegnete der Pfarrer, »daß, wenn wir auch hier viel mit Roheit kämpfen müssen, wir auch gute Menschen haben. In unserm neuen Bestimmungsorte wird es auch gute und böse Menschen geben und Arbeit genug. Jetzt aber, ich bin entsetzlich müde. Vor elf Uhr bin ich für niemand da. Ich will jetzt schlafen, halte Ruhe. Gute Nacht oder guten Morgen! Wenn ich wieder aufstehe, ist ein Jahr vorüber seit dieser Röttmännischen Nacht.«

Der Pfarrer ging nach der Kammer, die geschickterweise durch denselben Stubenofen geheizt wurde, denn der Ofen stand in der Wand. Bald war's stille wie um Mitternacht im Hause. Die Pfarrerin ging immer auf den Zehen umher, und über das Vogelbauer hing sie ein Tuch, damit der Vogel schweige. Den lärmend zudringlichen Bettlern draußen, den Sperlingen und Goldammern, gab sie heute zum zweitenmal ihr Frühstück. Der Wind nahm schnell die Brotstückchen mit fort, die sie auf das Fenstersims legte; die Hungrigen schienen aber doch ihre Nahrung zu finden, denn sie flogen still davon, als wüßten sie's, daß der Pfarrer nicht geweckt werden dürfe. Die Pfarrerin saß mit ihrer Stickerei am Fenster und ermahnte jeden Daherkommenden mit bedeutsamem Winken zur Ruhe und Stille; sie sah die willkommenste Erscheinung auf dem Lande, den Postboten, gegen das Haus kommen und ging ihm, damit er nicht klingle, rasch vors Haus entgegen, empfing mehrere Pakete aus der Residenz von Eltern und Geschwistern; sie öffnete die Pakete nicht, ihr Mann sollte auch dabei sein und die Freude der Ueberraschung haben. Von den Briefen war keiner an sie selbst gerichtet, einer trug das Siegel des Dekanatamtes.


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