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Goethe an Bettine.
Weimar, den 3. November 1809.
Wie könnte ich mich mit Dir, liebe Bettine, wollen in Wettstreit einlassen, Du übertriffst die Freunde mit Wort und Tat, mit Gefälligkeiten und Gaben, mit Liebe und Unterhaltung; das muß man sich denn also gefallen lassen und Dir dagegen so viel Liebe zusenden als möglich, und wenn es auch im Stillen wäre.
Deine Briefe sind mir sehr erfreulich, könntest Du ein heimlicher Beobachter sein, während ich sie studiere, Du würdest keineswegs zweifeln an der Macht, die sie über mich üben; sie erinnern mich an die Zeit, wo ich vielleicht so närrisch war wie Du, aber gewiß glücklicher und besser als jetzt.
Dein hinzugefügtes Bild ward gleich von deinen Freunden erkannt und gebührend begrüßt. Es ist sehr natürlich und kunstreich, dabei ernst und lieblich. Sage dem Künstler etwas Freundliches darüber und zugleich: er möge ja fortfahren, sich im Radieren nach der Natur zu üben, das Unmittelbare fühlt sich gleich, daß er seine Kunstmaximen dabei immer im Auge habe, versteht sich von selbst. Ein solches Talent müßte sogar lukrativ werden, es sei nun, daß der Künstler in einer großen Stadt wohnte oder darauf reiste. In Paris hatte man schon etwas Ähnliches. Veranlasse ihn doch, noch jemand vorzunehmen, den ich kenne, und schreibe seinen Namen, vielleicht gelingt ihm nicht alles wie das interessante Bettinchen, fürwahr, sie sitzt so treulich und herzlich da, daß man dem etwas korpulenten Buche, das übrigens im Bilde recht gut komponiert, seine Stelle beneiden muß. Das zerknillte Blättchen habe ich sogleich aufgezogen, mit einem braunen Rahmen umstrichen, und so steht es vor mir, indem ich dies schreibe, sende ja bald bessere Abdrücke.
Albrecht Dürer wäre ganz glücklich angekommen, wenn man nicht die unselige Vorsicht gehabt hätte, feines Papier obenauf zu packen, das denn im Kleide an einigen Stellen gerieben hat, die jetzt restauriert werden. Die Kopie verdient alle Achtung, sie ist mit großem Fleiß und mit einer ernsten, redlichen Absicht verfertigt, das Original möglichst wiederzugeben. Sage dem Künstler meinen Dank, Dir sag' ich ihn täglich, wenn ich das Bild erblicke; ich möchte von diesem Pinsel wohl einmal ein Porträt nach der Natur sehen.
Da ich das Wort Natur abermals niederschreiben so fühle ich mich gedrungen Dir zu sagen: daß Du doch Dein Naturevangelium, das Du den Künstlern predigst, in etwas bedingen möchtest; denn wer ließe sich nicht von so einer holden Pythonisse gern in jeden Irrtum führen. Schreibe mir, ob Dir der Geist sagt, was ich meine. Ich bin am Ende des Blatts und nehme dies zum Vorwand, daß ich verschweige, was ich zu sagen keinen Vorwand habe. Ich bitte Dich nur noch durch Übersendung Durantischer und Marcellischer Kompositionen abermals lieblich in meinem Hause zu spuken.
In diesen Tagen ließ sich eine Freundin melden, ich wollt' ihr zuvorkommen und glaubte wirklich Dir entgegenzugehen, da ich die zweite Treppe im Elefanten erstieg, aber es entwickelte sich ein ganz ander Gesicht aus der Reisekapuze, doch ist mir's seitdem angetan, daß ich mich oft nach der Tür wende, in der Meinung, Du kommst, meinen Irrtum zu berichtigen; durch eine baldige ersehnte Überraschung würde ich mich auch noch der in meiner Familie altherkömmlichen prophetischen Gabe versichert halten, und man würde sich mit Zuversicht auf ein so erfreuliches Ereignis vorbereiten, wenn der böse Dämon nicht gerade eingeübt wär', zuvörderst dem Herzen seine tückischsten Streiche zu spielen; und wie die zartesten Blüten oft noch mit Schnee gedeckt werden, so auch die lieblichste Neigung in Kälte zu verwandeln, auf so was muß man denn immer gefaßt sein, und es ist mir zum warnenden Merkzeichen, daß ich in dem launigen April, obschon im Scheiden begriffen, Deine erste Erscheinung verdanke.
Goethe.
An Goethe.
München, den 9. November.
Ach, es ist so schauerlich mit sich allein sein, in mancher Stunde! Ach, so mancher Gedanke bedarf des Trostes, den man doch niemand sagen kann, so manche Stimmung, die geradezu ins Ungeheure, Gestaltlose hinzieht, will verwunden sein. Hinaus ins Kalte, Freie, auf die höchsten Schneealpen mitten in der Nacht, wo der Sturmwind einem anbliese, wo man dem einzigen einengenden Gefühl der Furcht hart und keck entgegenträte, da könnte einem wohl werden, bilde ich mir ein.
Wenn Dein Genius eine Sturmwolke an dem hohen, blauen Himmel hinträgt und sie endlich von den breiten, mächtigen Schwingen niederschmettern läßt in die volle Blüte der Rosenzeit, das erregt nicht allgemeines Mitleid; mancher genießt den Zauber der Verwirrung, mancher löst sein eignes Begehren drin auf, ein dritter (mit diesem ich) senkt sich neben die Rose hin, so wie sie vom Sturm gebrochen ist, und erblaßt mit ihr und stirbt mit ihr, und wenn er dann wieder auflebt, so ist er neu geboren in schönerer Jugend – durch Deinen Genius, Goethe. Dies sag' ich Dir von dem Eindruck jenes Buchs: die »Wahlverwandtschaften«.
Eine helle Mondnacht hab' ich durchwacht, um Dein Buch zu lesen, das mir erst vor wenig Tagen in die Hände kam. Du kannst Dir denken, daß in dieser Nacht eine ganze Welt sich durch meine Seele drängte. Ich fühle, daß man nur bei Dir Balsam für die Wunde holen kann, die Du schlägst; denn als am andern Morgen Dein Brief kam mit allen Zeichen Deiner Güte, da wußte ich ja, daß Du lebst und auch für mich; ich fühlte, daß mir der Sinn mehr geläutert war, mich Deiner Liebe zu würdigen. Dies Buch ist ein sturmerregtes Meer, da die Wellen drohend an mein Herz schlagen, mich zu zermalmen. Dein Brief ist das liebliche Ufer, wo ich lande und alle Gefahr mit Ruhe, ja sogar mit Wohlbehagen übersehe.
Du bist in sie verliebt, Goethe, es hat mir schon lange geahnt, jene Venus ist dem brausenden Meer deiner Leidenschaft entstiegen, und nachdem sie eine Saat von Tränenperlen ausgesäet, da verschwindet sie wieder in überirdischem Glanz. Du bist gewaltig, Du willst, die ganze Welt soll mit Dir trauern, und sie gehorcht weinend Deinem Wink. Aber ich, Goethe, hab' auch ein Gelübde getan; Du scheinst mich freizugeben in Deinem Verdruß, »lauf hin«, sagst Du zu mir, »und such' dir Blumen«, und dann verschließt Du Dich in die innerste Wehmut Deiner Empfindung, ja, das will ich, Goethe! – Das ist mein Gelübde, ich will Blumen suchen, heitere Gewinde sollen Deine Pforte schmücken und wenn Dein Fuß strauchelt, so sind es Kränze, die ich Dir auf die Schwelle gelegt, und wenn Du träumst, so ist es der Balsam magischer Blüten, der Dich betäubt; Blumen einer fernen fremden Welt, wo ich nicht fremd bin, wie hier in dem Buch, wo ein gieriger Tiger das feine Gebild geistiger Liebe verschlingt; ich verstehe es nicht, dieses grausame Rätsel, ich begreife nicht, warum sie alle sich unglücklich machen, warum sie alle einem tückischen Dämon mit stacheligem Zepter dienen; und Charlotte, die ihm täglich, ja stündlich Weihrauch streut, die mit mathematischer Konsequenz das Unglück für alle vorbereitet. Ist die Liebe nicht frei? – Sind jene beiden nicht verwandt? – Warum will sie es ihnen wehren, dies unschuldige Leben mit- und nebeneinander? Zwillinge sind sie; ineinander verschränkt reifen sie der Geburt ins Licht entgegen, und sie will diese Keime trennen, weil sie nicht glauben kann an eine Unschuld; das ungeheure Vorurteil der Sünde impft sie der Unschuld ein. O, welche unselige Vorsicht.
Weißt Du was? Keiner ist vertraut mit der idealischen Liebe, jeder glaubt an die gemeine, und so pflegt, so gönnt man kein Glück, das aus jener höheren entspringt oder durch sie zum Ziel geführt könnte werden. Was ich je zu gewinnen denke! es sei durch diese idealische Liebe; sie sprengt alle Riegel in neue Welten der Kunst, der Weissagung und der Poesie; ja, natürlich, so wie sie in einem erhabneren Sinn nur sich befriedigt fühlt, so kann sie auch nur in einem erhabneren Element leben.
Hier fällt mir Deine Mignon ein, wie sie mit verbundnen Augen zwischen Eiern tanzt. Meine Liebe ist geschickt, verlasse Dich ganz auf ihren Instinkt, sie wird auch blind dahintanzen und wird keinen Fehltritt tun.
Du nimmst teil an meinen Zöglingen der Kunst, das macht mir und ihnen viel Freude. Der junge Mensch, welcher mein Bildchen radiert hat, ist aus einer Familie, deren jedes einzelne Mitglied mit großer Aufmerksamkeit an Deinem Beginnen hängt; ich hörte den beiden älteren Brüdern oft zu, wie sie Pläne machten, Dich nur einmal von weitem zu sehen; der eine hatte Dich aus dem Schauspiel gehen sehen, in einen großen grauen Mantel gehüllt, er erzählte es mir immer wieder. – Wie mir das ein doppelter Genuß war! – Denn ich war ja selbst an jenem Regentag mit Dir im Schauspiel gewesen, und dieser Mantel schützte mich vor den Augen der Menge, wie ich in Deiner Loge war, und Du nanntest mich Mäuschen, weil ich so heimlich verborgen aus seinen weiten Falten hervorlauschte; ich saß im Dunkel, Du aber im Licht der Kerzen, Du mußtest meine Liebe ahnen, ich konnte Deine süße Freundlichkeit, die in allen Zügen, in jeder Bewegung verschmolzen war, deutlich erkennen; ja, ich bin reich, der goldne Pactolus fließt durch meine Adern und setzt seine Schätze in meinem Herzen ab. Nun sieh! – Solch süßer Genuß von Ewigkeit zu Ewigkeit, warum ist der den Liebenden in Deinem Roman nicht erlaubt? – Oder warum genügt er ihnen nicht? – Ja, es kann sein, daß ein ander Geschick noch zwischen uns tritt, ja, es muß sein; da doch alle Menschen handeln wollen, so werden sie einen solchen Spielraum nicht unbenutzt lassen; laß sie gewähren, laß sie säen und ernten, das ist es nicht; – die Schauer der Liebe, die tief empfundnen, werden einst wieder auftauchen; die Seele liebt ja; was ist es denn, was im keimenden Samen befruchtet wird? Die tief verschlossene, noch ungeborne Blüte, diese, ihre Zukunft, wird erzeugt durch solche Schauer; die Seele aber ist die verschlossene Blüte des Leibes, und wenn sie aus ihm hervorbricht, dann werden jene Liebesschauer in erhöhtem Gefühl mit hervorbrechen, ja, diese Liebe wird nichts anderes sein als der Atem jenes zukünftigen himmlischen Lebens, drum klopft uns auch das Herz, und der Atem regiert das unbegreifliche Wonnegefühl; bald schöpft er mit tiefem Seufzer aus dem Abgrund der Seligkeit, bald kann er mit Windesschnelle kaum alles erfassen, was ihn gewaltig durchströmt. Ja, so ist es, lieber Goethe, ich empfinde jede Minute, in der ich Deiner gedenke, daß sie die Grenze des irdischen Lebens überschreitet, und die tiefen Seufzer wechseln unversehen mit den raschen Pulsen der Begeisterung; ja, so ist es, diese Schauer der Liebe sind der Atem eines höheren Lebens, dem wir einst angehören werden, und das uns in diesen irdischen Beseligungen nur sanft anbläst.
Nun will ich wieder zu meinem jungen Künstler zurückkehren, der einer der liebenswürdigsten Familien angehört, deren alle sehr hoch begabten Mitglieder so jung schon jetzt weit über ihre Zeit hinausragen. Ludwig Grimm, der Zeichner, machte schon vor zwei Jahren, da er noch gar wenig Übung hatte, aber viel stillen vergrabenen Sinn, ein Bildchen von mir; für mich hat es Bedeutung, es hat Wahrheit, aber kein Geschick fürs Äußere, wenig Menschen finden es daher ähnlich; auch hat mich noch niemand über der Bibel eingeschlafen gesehen, im roten Kleide in der kleinen gotischen Kapelle, mit den Grabsteinen und Inschriften rund umher, ich eingeschlafen über der Weisheit Salomonis. Lasse es einrahmen als Lichtschirm und denke dabei, daß, während er Dein Abendlicht in stille Dämmerung verwandelt, ich träumend einer Hellung nachspähe, die den feurigliebendsten der Könige erleuchtet.
Des jungen Künstlers Charakter ist übrigens so, daß das übrige Gute, was Du für ihn sagst, nicht anwendbar ist; er ist furchtsam, ich habe ihn mit List erst nach und nach zahm gemacht, ich gewann ihn dadurch, daß ich mit Lust ebenso Kind war wie er; wir hatten eine Katze, mit der wir um die Wette spielten, in einer unbewohnten Küche kochte ich selbst das Nachtessen; während alles beim Feuer stand, saß ich daneben auf einem Schemel und las; wie es der Zufall wollte war ich gekleidet, gelagert, drapiert. – Mit großem Enthusiasmus für den günstigen Zufall machte er Skizzen nach der Natur und litt nicht, daß ich auch nur eine Falte änderte, so brachten wir eine interessante kleine Sammlung zusammen, wie ich gehe und stehe und liege; in die umliegende Gegend ist er gereist, wo schöne anziehende Gesichter sind, er brachte allemal einen Schatz von radierten Blättchen mit, mit schöner Treue, für das Gemütliche, nachgeahmt; das einfache Evangelium, was ich ihm predige, ist nichts anderes, als was dem Veilchen der laue Westwind zuflüstert. Dadurch wird's nicht in Irrtümer geführt werden. Beiliegende radierte Blättchen nach der Natur werden Dich erfreuen.
Der Musiker ist mein Liebling, und bei diesem könnte ich schon eher in meinen Kunstpredigten über die Schnur gehauen haben; denn da hole ich weiter aus, und hier schenke ich Dir nichts; es geht nächstens wieder über Dich her, Du mußt das überströmende unbegriffne Ahnungsgefühl wunderbarer Kräfte und ihrer mystischen Wirkungen in Dich aufnehmen, nächstens werde ich tiefer Atem holen und alles vor Dir aussprechen. Sehr sonderbar ist es, auch einen Architekten lernte ich früher schon kennen, der in Deinen »Wahlverwandtschaften« unverkennbar erscheint; er verdient es durch frühere enthusiastische Liebe zu Dir. Er machte damals einen Plan zu einem sehr wunderbaren Haus für Dich, das auf einem Felsen stand und mit vielen erznen Figuren, Springbrunnen und Säulen geziert war.
Wieviel hätte ich Dir noch zu sagen auf ein herrlich Wort aus Deinem Brief, es wird sich aber von selbst beantworten, oder ich bin nicht wert, daß Du so viel Herablassung an mich vergeudest. Oft möcht' ich Dich ansehen, um Dir Glück in die Augen zu tragen und wieder auch Glück daraus zu saugen, darum höre ich auch jetzt auf zu schreiben.
Bettine.
An Goethe.
Die Welt wird mir manchmal zu eng. Was mich drückt? Es ist der Waffenstillstand, der Friede mit allen schauerlichen Folgen, mit aller verruchten Verräterei der Politik. Die Gänse, die mit ihrem Geschrei das Kapitol einst retteten, lassen sich ihr Recht nicht streitig machen, sie allein führen das Wort.
Aber Du, freundlicher Goethe! Sonnenschein! Der auch mitten im Winter auf den beschneiten Höhen liegt und in mein Zimmer guckt. – Ich hab' mir des Nachbars Dach, das morgens von der Sonne beschienen ist, als ein Zeichen von Dir gesetzt.
Ohne Dich wär' ich vielleicht so traurig geworden als ein Blindgeborner, der von den Himmelslichtern keinen Begriff hat. Du klarer Brunnen, in dem der Mond sich spiegelt, da man die Sterne mit hohler Hand zum Trinken schöpft; Du Dichter, Freier der Natur, der, ihr Bild in der Brust, uns arme Sklavenkinder es anbeten lehrt.
Daß ich Dir schreibe, ist so sonderbar, als wenn eine Lippe zur andern spräche. Höre, ich habe Dir was zu sagen, ja ich hole zu weit aus, da sich doch alles von selbst versteht, und was sollte die andere Lippe darauf antworten? Im Bewußtsein meiner Liebe, meiner innigsten Verwandtschaft zu Dir schweigst Du. – Ach, wie konnte doch Ottilie früher sterben wollen? – O, ich frage Dich: ist es nicht auch Buße, Glück zu tragen, Glück zu genießen? – O Goethe, konntest Du keinen erschaffen, der sie gerettet hätte? – Du bist herrlich, aber grausam, daß Du dies Leben sich selbst vernichten läßt; nachdem nun einmal das Unglück hereingebrochen war, da mußtest Du decken, wie die Erde deckt, und wie sie neu über den Gräbern erblüht, so mußten höhere Gefühle und Gesinnungen aus dem Erlebten erblühen, und nicht durfte der unreife jünglinghafte Mann so entwurzelt weggeschleudert werden, und was hilft mich aller Geist und alles Gefühl in Ottiliens Tagebuch? Nicht kindlich ist's, daß sie den Geliebten verläßt und nicht von ihm die Entfaltung ihres Geschicks erwartet, nicht weiblich ist's, daß sie nicht bloß sein Geschick beratet; und nicht mütterlich, da sie ahnen muß die jungen Keime alle, deren Wurzeln mit den ihrigen verweht sind, daß sie ihrer nicht achtet und alles mit sich zugrunde richtet.
Es gibt eine Grenze zwischen einem Reich, was aus der Notwendigkeit entsteht, und jenem höheren, was der freie Geist anbaut; in die Notwendigkeit sind wir geboren, wir finden uns zuerst in ihr, aber zu jenem freien werden wir erhoben. Wie die Flügel den Vogel in die Lüfte tragen, der unbefiedert vorher ins Nest gebannt war, so trägt jener Geist unser Glück stolz und unabhängig in die Freiheit; hart an diese Grenze führst Du Deine Lieben, kein Wunder! Wir alle, die wir denken und lieben, harren an dieser Grenze unserer Erlösung; ja die ganze Welt kommt mir vor wie am Strand versammelt und einer Überfahrt harrend durch alle Vorurteile, böse Begierden und Laster hindurch zum Land, da einer himmlischen Freiheit gepflegt werde. Wir tun unrecht zu glauben, dazu müsse der Leib abgelegt werden, um in den Himmel zu kommen. Wahrhaftig! Wie die ganze Natur von Ewigkeit zu Ewigkeit sich vorbereitet, ebenso bereitet sich der Himmel vor, in sich selbsten, in der Erkenntnis eines keimenden geistigen Lebens, dem man alle seine Kräfte widmet, bis es sich von selbst in die Freiheit gebäre, dies ist unsere Aufgabe, unsere geistige Organisation, es kommt drauf an, daß sie sich belebe, daß der Geist Natur werde, damit dann wieder ein Geist, ein weissagender sich aus dieser entfalte. Der Dichter (Du, Goethe) muß zuerst dies neue Leben entfalten, er hebt die Schwingen und schwebt über den Sehnenden und lockt sie und zeigt ihnen, wie man über dem Boden der Vorurteile sich erhalten könne; aber ach! Deine Muse ist eine Sappho, statt dem Genius zu folgen, hat sie sich hinabgestürzt.
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Am 29. November.
Gestern hab' ich so weit geschrieben, da hab' ich mich ins Bett gelegt aus lauter Furcht, und wie ich alle Abend tue, daß ich im Denken an Dich zu Deinen Füßen einschlafe, so wollte es mir gestern nicht gelingen; ich mußte mich schämen, daß ich so hoffärtig geschwätzt habe, und alles ist vielleicht doch nicht, wie ich's meine. Am End' ist es die Eifersucht, die mich so aufbringt, daß ich einen Weg suche, wie ich Dich wieder an mich reiße und ihrer vergessen mache; nun! Prüfe mich, und wie es auch sei, so vergesse nur meiner Liebe nicht und verzeihe mir auch, daß ich Dir mein Tagebuch zuschicke; am Rhein hab' ich's geschrieben, ich habe darin das Leben meiner Kinderjahre vor Dir ausgebreitet und Dir gezeigt, wie unser beider Wahlverwandtschaft mich trieb, wie ein Bächlein eilend dahinzurauschen über Klippen und Felsen zwischen Dornen und Moosen bis dahin, wo Du gewaltiger Strom mich verschlingst. Ja, ich wollte dies Buch behalten, bis ich endlich wieder bei Dir sein würde, da wollte ich morgens in Deinen Augen sehen, was Du abends darin gelesen hattest; nun aber quält mich's, daß Du mein Tagebuch an die Stelle von Ottilien ihrem legest, und die Lebende liebst, die bei Dir bleibt, mehr wie jene, die von Dir gegangen ist.
Verbrenne meine Briefe nicht, zerreiße sie nicht, es möchte Dir sonst selber weh tun, so fest, so wahrhaft lebendig häng' ich mit Dir zusammen, aber zeige sie auch niemanden, halt's verborgen wie eine geheime Schönheit, meine Liebe steht Dir schön, Du bist schön, weil Du Dich geliebt fühlst.
Am Morgen.
Über Nacht blüht oft ein Glück empor wie die türkische Bohne, die, am Abend gepflanzt, bis zum Morgen hinaufwuchs und sich in die Mondsichel einrankte; aber beim ersten Sonnenstrahl verwelkt alles bis zur Wurzel, so hat sich heute nacht mein Traum blühend zu Dir hinaufgerankt, und eben war's am schönsten, Du nanntest mich »Dein alles«, da dämmerte der Morgen, und der schöne Traum war verwelkt wie die türkische Bohne, an der man nachts so bequem das Mondland erstieg.
Ach, schreibe mir bald, ich bin unruhig über alles, was ich gewagt habe in diesem Brief, ich schließe ihn, um einen neuen anzufangen, ich könnte zwar zurückhalten, was ich Dir über die Wahlverwandtschaften sagte, aber wär' es recht, dem Freund zu verschweigen, was im Labyrinth der Brust wandelt in der Nacht? –
Bettine.