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Ein Schneiderlein in Baden, das seine Kundschaft gern um ein Stückchen Tuch verkürzte und deshalb jede Hose und jeden Rock eher ein wenig zu kurz und zu klein als zu lang und zu groß machte, bemerkte seit einiger Zeit, daß sich die ersparten Reste auffällig verminderten. Kaum hatte er am Sonntagsrock des Bauern eine Elle erübrigt, um sie für des Nachbarn Weste zu verwenden, schrumpfte sie über Nacht ein und war dann als Fleck zu groß, für die Weste aber zu klein. Anfangs meinte der Schneider, er habe sich vielleicht verschnitten, aber als sich die Sache wiederholte, kam es ihm doch recht sonderbar vor, und er sann hin und her, wer ihm den Schabernack antun könnte, und wie er hinter das Geheimnis komme. Endlich faßte er einen Entschluß, der seinem Verstand alle Ehre machte: er spannte eine gut gemessene Elle seines Tuches, das er an des Pfarrers neuen Rock erspart hatte, mit vier Nägeln auf seinen Arbeitstisch und legte sich dann beruhigt zu Bett.
Als er am Morgen erwachte und seinen Tuchrest betrachtete, war er richtig wieder kleiner geworden, aber, o Wunder, der Tisch zeugte acht Nagellöcher. So mußte also jemand bei Nacht den Fleck abgenommen, beschnitten und dann wieder mit den Nägeln befestigt haben. Aber wer konnte der Täter sein, und wie war er hereingekommen? Das einzige Fenster der Werkstatt war vergittert, die einzige Tür fest versperrt; der kluge Schneider stand vor einem Rätsel.
Aber ein richtiger Schneider weiß sich zu raten und zu helfen. Und als er bei des Bürgermeisters neuer Hose wieder ein tüchtiges Stück Stoff erspart hatte, ließ er es gar nicht über Nacht liegen, sondern verwendete es gleich auf ein Leibchen für den Sohn des Metzgers und hörte nicht früher mit seiner Arbeit auf, als bis er die ganze Bestellung an seine Kundschaft abgeliefert hatte. Auf diese pfiffige Art wurde ihm auch über Nacht kein Fleck mehr kleiner.
Aber auf die Dauer konnte es nicht so fortgehen; denn wenn er mehr oder größere Arbeiten bekam, mußte er die abgesparten Reste doch wieder beiseitelegen, und sie schrumpften dann jedesmal über Nacht ein, ob er sie nun auf den Tisch nagelte oder weglegte. Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen. So beschloß denn der Schneider, einmal eine Nacht durchzumachen, um zu sehen, was sich tue. Bald ergab sich eine herrliche Gelegenheit dazu; denn er hatte für den Gutsherrn einen neuen Rock anzufertigen, und das restliche Stück Tuch, das auf eine prächtige Hose für den Schulmeister reichte, konnte er sich doch von dem rätselhaften Dieb nicht verschneiden lassen.
Gedacht, getan! Mit einem ordentlichen Knüttel bewaffnet, legte sich das mutige Schneiderlein zu Bett und stellte sich schlafend, um den seltsamen Dieb zu täuschen – bis er wirklich einschlief. Am Morgen war des Schulmeisters Hose beim Teufel; denn von dem prächtigen Tuchrest fehlte mehr als die Hälfte. Das war dem Schneider denn doch zu dumm. Ärgerlich saß er bei seiner Arbeit und verwünschte den Schlaf, den Dieb und das Tuch. Am Nachmittag hatte er sich aber wieder beruhigt. Der Jäger hatte ihm Stoff zu einem Mantel gebracht, und da blieb wieder so viel übrig, daß leicht auch noch die Hose herausgehen mußte. Doch je näher der Abend kam, desto unruhiger wurde er; denn beides, Mantel und Hose, konnte er heute nicht mehr fertigbringen, und über Nacht wollte er sich nicht wieder den Profit stehlen lassen.
Was blieb dem Armen anderes übrig, als wieder die Nacht zu durchwachen, aber diesmal besser als vorher. Das tat er denn auch; ein richtiger Schneider kann alles, was er nur ernstlich will.
Zuerst sah der Horcher nichts. Der Fleck lag ruhig auf dem Tisch. Als aber die Uhr zwölf schlug und ihm ob der Geisterstunde bange zu werden begann, da fing der Tuchfleck plötzlich zu tanzen an, und ein kleines nacktes Männlein hüpfte auf dem Tisch umher, hatte eine große Schere in der Hand und schnitt und schnitt, daß es eine Freude war, ihm zuzuschauen. Der Schneider, der regungslos in seinem Versteck verharrte, sah nun, wie sich der kleine Mann gemütlich eine Hose anmaß, sie sorgfältig zuschnitt, dann den Zwirn einfädelte und schließlich nach Schneiderart lustig darauf losnähte. Die Arbeit ging ihm flott von der Hand, und als die Uhr eins schlug, schnellte er kichernd von seinem Sitz in die Höhe, zeigte dem armen Schneider die lange Nase und war mit der Hose verschwunden, ehe der bestürzte Held sich zu faßen vermochte. Nun sprang er aus dem Bett und eilte zum Arbeitstisch, um zu sehen, daß er nicht geträumt hatte. Der Fleck war abermals kleiner, und aus der erhofften Hose für den Schulmeister war wieder nichts geworden.
Die Geschichte ging dem Schneider aber doch ins Gemüt, er legte seine üble Gewohnheit ab und gab fortan jeden Tuchrest seiner Kundschaft zurück. Seit dieser Zeit hatte er auch viel Glück und blieb von dem kleinen Dieb für immer verschont.