Sagen aus Mecklenburg-Vorpommern
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Oh, um Gott, Bernstein frei!

Der Hochmeister des Deutschen Ritterordens schickte einmal einen neuen Vogt ins Samland, den Bruder Anselmus von Rosenberg. Dieser verkündete, daß von Stund an niemand mehr ohne Erlaubnis Bernstein sammeln und verkaufen dürfe, weder den Bernstein, den das Meer an den Strand wirft, noch jenen, den man in der blauen Erde an Samlands Steilküste findet, denn der Bernstein sei in Zukunft Eigentum des Deutschen Ritterordens. Wer sich an ihm bereichere, stürbe am Galgen. Ein furchtbares Wehklagen entstand. Seit urdenklichen Zeiten gehörte Bernstein dem Finder. Die Fischer kamen zum neuen Vogt gelaufen und baten. »Wenn Ihr, Herr Vogt, nun den Bernstein allein für die Ordensritter zu Geld machen wollt, dann bedenkt, daß er kein gewöhnlicher Edelstein ist, sondern ein Wunderstoff. Ihr wißt es noch besser als wir, daß Blut in einer Schale aus Bernstein nicht gerinnt, und das Blut vieler heiliger Märtyrer uns in Bernsteingefäßen erhalten geblieben ist. Versündigt Euch nicht am Bernstein! Oh, um Gott, Bernstein frei!«

Der Vogt erwiderte ungerührt: »Was sich im Meer tummelt, ist euer, das Land aber ist des Deutschen Ordens, und was das Meer an Land wirft, ist sein.«

Da kamen die Handelsherren zu Bruder Anselmus und sagten: »Ihr wißt es noch besser als wir, daß Bernstein ein geheimnisvoller Stoff ist. Als der große Philosoph Thales von Milet die Urkraft der Erde suchte, die alles in Bewegung hält, da stieß er auch auf den Bernstein und entdeckte, daß er mit einem Tuch gerieben die Fähigkeit besitzt, andere Stoffe anzuziehen und abzustoßen. Er nannte es Elektron. Die Urkraft ist Jedes Menschen Eigentum. Oh, um Gott, Bernstein frei!«

»Nicht jedes Menschen!« widersprach der Vogt. »Einer muß sein, der weisen Gebrauch von ihr macht, der lenkt und regiert. Die Urkraft gehört dem Orden! «

Es kam eine alte verschleierte Frau zu Bruder Anselmus und rief: »Ich komme als Botin uralter, verklungener Tage und künde Dir, daß Bernstein die Träne versunkener Bäume ist ... Tränen in der Stunde des Todes geweint und in der Tiefe des Meeres, das die Wälder verschlang, versteint. Bernstein bringt dir kein Glück, Deutschritter ... Oh, um Gott, Bernstein frei!«

Doch der Vogt blieb hart: »Wo Kampf ist, gibt es Leid und Unglück. Das muß ein Deutschritter tragen. Mich schreckt deine Weissagung nicht.«

Da sprach denn die verschleierte Frau den Fluch aus, daß die Seele des Bruders Anselmus unerlöst bleibe, wenn er sein Bernsteingesetz nicht zurückziehe. Doch der dachte nicht daran nachzugeben und ließ jeden Fischer, der einen Bernsteinfund verheimlichte und jeden Händler, der Bernstein in Samland aufzukaufen suchte, erbarmungslos dem Henker überliefern. Die Knechte des Vogts kehrten in den Hütten der Fischer das Unterste zuoberst, um dem Bernstein nachzujagen, viele haben damals dessen Besitz mit dem Leben bezahlt.

Der über Bruder Anselmus von der geheimnisvollen Frau verhängte Fluch ging in Erfüllung. Seine Seele fand im Grabe keine Ruhe. In Sturmnächten irrt sie noch heute an Samlands Küsten umher und klagt: »oh, um Gott, Bernstein frei!«

 


 


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