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Als der Rechtsanwalt Meinert vor etwa drei Jahren gestorben war, hatte ihn seine junge Witwe zwar aufrichtig, nicht nur mit Krepp betrauert, aber das Herz war ihr nicht gebrochen über seinen Verlust. Sie hatte den ältlichen, kränkelnden Mann ja nur geheiratet, weil ihr Vater es so gewünscht, und als der Rechtsanwalt die Augen geschlossen hatte, wollte es ihr zwar scheinen, daß sie einen guten und zuverlässigen Freund verloren hatte, daß aber das Leben für sie, das wirkliche, bunte Leben jetzt erst anging. In der Krankenstube, neben dem jahrelangen Siechtum des Mannes hatte sie es nur ganz von fern flimmern sehen. ...
Wie sie jetzt mit der weichen Anmut ihrer dreißig blonden Jahre im tadellos sitzenden dunkelgrünen Tailor-made über die Kurpromenade schritt, sahen ihr Gesunde und Kranke mit begehrlichen oder schmerzlichen Blicken nach, und manch einer dachte:
»Welch eine hübsche Frau!«
»Welch eine hübsche Frau!« dachte auch der schlanke Hauptmann, der ihr vom andern Ende der Promenade her langsam entgegengeschlendert kam. Er dachte es aber sonder Begehrlichkeit oder Schmerz, sondern mit einem deutlichen Anflug von Ärger. Er ärgerte sich, so oft er Frau Dora sah, daß sie ihn immer noch in der erwartungsvollen Distanz des Anbeters hielt, statt endlich ihre Hand in die seine zu legen und zu sagen: »Ich bin sehr glücklich.«
Zum Kuckuck, was wollte denn diese Frau eigentlich?! Er warb nun schon seit mehr als einem Jahre um sie und kam sich schon selbst wie ein Toggenburg vor. Er war doch wahrhaftig nicht zu verachten, jedes heiratsfähige Mädchen ringsum hätte sich glücklich geschätzt, seine Frau werden zu können. Von den Witwen und Geschiedenen gar nicht erst zu reden. ... Er hatte freilich keine Villa und kein Vermögen zu vererben, wie der verstorbene Rechtsanwalt, aber er galt als sehr tüchtiger Offizier und würde gar nicht mehr lange zu der kleinen Garnison gehören, auf die dieser österreichische Kurort sehr stolz war. Man munkelte von der Hauptstadt, ja sogar vom Generalstab. ... Außerdem sagten alle Leute, daß der k. k. Kaiserjägerhauptmann Viktor von Gartner ein reizender Mensch sei. Der Hauptmann gab zwar sonst nichts auf das Urteil der Menge, aber in diesem Falle stimmte er ihr bei. Er war groß und so gertenschlank, wie es nur die österreichischen Offiziere sind. In dem schmalen brünetten Gesicht saß über einem frischen Mund ein keck emporgezwirbeltes dunkles Schnurrbärtchen, zwei scharfe Augen blitzten drüber hin, von denen eines ein klein bißchen höher saß als das andere, was den Hauptmann unzweideutig spöttisch aussehen ließ, auch wenn er ganz ernsthaft war.
Er zog die hechtgraue Litewka stramm herunter, gab dem Tschako einen ermunternden kleinen Klaps, daß er noch flotter saß als vorher, richtete sich in seiner ganzen Höhe auf und so, mit allen Künsten männlicher und militärischer Verführung ausgerüstet, beschleunigte er seinen Schritt, um Frau Dora zu begegnen. Sie trafen sich fast jeden Tag zu dieser Stunde auf der Kurpromenade.
»Also fesch schaut die Frau wieder aus,« dachte er, »fesch, als wär' sie von Wien, nicht von diesem Nest hier! Zu blöd, daß wir noch nicht verlobt sind, und eigentlich weiß kein Mensch, warum wir's nicht sind!«
Hier schwindelte sich der Hauptmann ein wenig an. Er wußte schon ungefähr, warum die blonde Dora immer noch zögerte. Sie war romantisch, trotz ihrer dreißig Jahre immer noch romantisch. Aus einer harmlosen Mädchenzeit war sie in eine Ehe ohne Illusionen und ohne Enttäuschungen getreten. Nun hatte sie aus dieser Ehe noch einige unerlebte Träume in ihren Witwenstand mithinübergenommen, sie glaubte gern noch an schöne Backfischmärchen, die andre Frauen ihres Alters längst lachend als Humbug erkannt und überwunden hatten. Der hübsche Hauptmann war ihr keineswegs gleichgültig. Sie war ihm von Herzen gut und konnte sich einen Tag ohne ihn und seine treue Anbetung nicht recht vorstellen. Wenn er im Sommer ins Manöver zog, kam sie sich recht verlassen vor. ... Solche Empfindung schien jedoch der Frau mit den unerlebten Backfischträumen nicht zu genügen, um ihr Leben damit auszufüllen. Sie wollte nicht nur Frau Hauptmann, Frau Major und später allenfalls »Exzellenz« heißen, wie sie nun zehn Jahre lang »Frau Doktor« hieß. Sie wollte nicht bloß statt eines unschönen, kränklichen und verdrießlichen Gatten einen hübschen, gesunden und lebensfrohen. Sie wollte sich nicht einfach banal verloben und banal verheiraten. Sie wollte ein Erlebnis, eine romantische Sensation, etwas Unerhörtes, Unvergeßliches ... Sie träumte von einem Mann, dem sie nicht nur Frau sein würde, sondern Erlöserin von tausend dunklen Zweifeln, Befreierin aus Abgründen, von denen die robuste Seele eines künftigen Generalstäblers nichts wußte und nichts verstand. Der fliegende Holländer ..., ein Vampir ..., Lord Byron ..., irgendein dämonischer, bleicher Mann mit einer Stirnlocke, der bereit war, aus ihren Händen das Heil zu empfangen, das er in einem wirren, verwüsteten Leben bisher vergeblich gesucht hatte.
Der Hauptmann war zu Frau Dora herangetreten und salutierte militärisch. Nach den ersten Worten tat sie die Frage, die jeder auf der Kurpromenade tat, wenn er einen Bekannten traf:
»Was gibt's Neues?«
Der kleine Kurort war ja noch nicht weltberühmt, sondern stand erst als »aufblühend« in den Reisebüchern verzeichnet; der Neuigkeitenhunger war also hier ungleich brennender als in Weltbädern, wo fast jeder Tag sein besonderes Ereignis bringt. Der Hauptmann strahlte, denn er hatte wirklich eine große Neuigkeit mitzuteilen. Aber gerade, als er anfangen wollte zu sprechen, mußten sie beiseite treten, um einem Rollstuhle Platz zu machen, in dem eine schöne, wachsbleiche Frau mit roten Haaren saß. Jeder kannte sie – es war die Gräfin Auberville, die schon zum zweitenmal ganz allein, nur von zwei Pflegerinnen begleitet, Winter und Frühjahr in dem milden Klima Südtirols verbrachte. Im ersten Winter hatten Kurgäste und Einheimische versucht, sich der interessanten Frau zu nähern, sie hatte aber jede Bekanntschaft abgelehnt. Sie wußte, daß ihr Leiden unheilbar war, und wartete in der stolzen Einsamkeit ihres Reichtums auf den Tod. Umgeben von einer großen Dienerschaft, bewohnte sie die hübsche Villa Regina, die Dependance des Hotels gleichen Namens, und verbrachte fast den ganzen Tag unter den Bäumen des Gartens, wo keiner sie sehen oder sich ihr aufdrängen konnte. Nur um diese Stunde, wenn die Kurkapelle ihr Morgenkonzert beendet hatte, durfte der Diener den Rollstuhl auf die Promenade schieben. Die Pflegerinnen in ihren großen weißen Flügelhauben gingen schweigend zu beiden Seiten der Kranken einher.
»Ich finde, sie sieht noch blasser aus als in den letzten Tagen,« flüsterte Frau Dora voll Mitleid dem Hauptmann zu.
Er nickte ernsthaft.
»Ich glaube, sie kommt nächstes Jahr nicht wieder.«
»Ja, sie sieht aus, wie vom Tode gezeichnet!«
»Arme Frau!«
»Begreifen Sie eigentlich, daß sie immer so ganz allein ist, so gar keinen Menschen, gar keine Familie hat, die sich um sie kümmert, sie pflegt oder wenigstens besucht?«
Der Hauptmann zuckte die Achseln.
»Was kann man da sagen?! Die Familie ist auch nicht immer am Platze, wenn's einem Menschen schlecht geht. Die Gräfin ist aus Paris – na, weiß man denn, wie der Herr Graf ist?! Kinder hat sie wahrscheinlich auch nicht, und für die übrigen, für lachende Erben dankt sie wahrscheinlich. Da ist sie lieber allein; das kann ich ihr nachfühlen. ...«
Frau Dora aber schüttelte mißbilligend das Haupt.
»Nein, ich glaube nicht, daß die Sache so einfach ist. Dahinter steckt sicher ein Geheimnis, irgendein Roman mit sehr traurigem Ende.«
Der Hauptmann lächelte und sah ironisch aus, was er gar nicht beabsichtigte. Frau Dora ärgerte sich und wurde etwas aggressiv.
»Nein, lieber Hauptmann, es gibt wirklich Dinge, von denen Ihre Militärweisheit sich nichts träumen läßt. Die Welt ist nicht so einfach und behaglich, wie Sie meinen ...«
»Gott bewahre! Sie ist angefüllt mit Schauerdramen und Komplikationen! Unkomplizierte, geheimnislose Leute haben überhaupt kein Recht zum Dasein.«
»Bitte, lieber Hauptmann, werden Sie nicht persönlich. Sie haben ein Recht, da zu sein, aber die Geheimnisse haben auch ein Recht, da zu sein! Ohne Geheimnisse und Romane wäre das Leben ja überhaupt unerträglich.«
»Das finde ich gar nicht! Also zum Beispiel ...«
Aber sie unterbrach ihn, denn sie wollte nicht, daß er noch persönlicher werden sollte, und darum wiederholte sie ihre Frage von vorhin:
»Was gibt's denn Neues?«
»Haben Sie es schon gehört, Gnädigste, der Kronprinz von X. kommt zur Kur hierher.«
»Ah!!«
»Sagen Sie doch nicht so teilnahmslos nur »Ah!« Einen Kronprinzen, einen echten, lebendigen europäischen Kronprinzen haben wir noch nicht hier gehabt.«
»Nun ja, das ist ja für die Kurverwaltung sehr angenehm und auch für die Hoteliers, aber was geht das schließlich mich an? Der Kronprinz ist sicher ein älterer, korpulenter Herr, jedenfalls lang und glücklich verheiratet, jedenfalls Vater von unzähligen Kindern ...«
»Ja, Gott sei Dank, das alles ist er.«
»Gott sei Dank?! Seit wann liegt Ihnen denn die Dynastie von so sehr am Herzen?«
»Die Dynastie? Absolut nicht. Aber wenn die Kronprinzen auch noch romantisch wären, könnte man ja die Konkurrenz überhaupt nicht mehr aushalten.«
»Müssen Sie denn immerfort an sich denken?«
»Wenn doch sonst niemand an mich denkt, muß ich es halt eigenhändig schon besorgen.«
Sie lachten beide, sprachen noch ein wenig über den Aufenthalt des Kronprinzen. Frau Dora fragte:
»Wo wird er denn eigentlich wohnen?«
Der Hauptmann zuckte die Achseln.
»Keine Ahnung! Unsre Barone und Grafen wohnen ja alle im Reginahotel, aber ich glaube nicht, daß da noch Platz genug ist für eine Hoheit mit Gefolge. Die Villa-Regina hat ja die Gräfin vollkommen in Beschlag genommen ... Wenn also der Herr Heidenmüller nicht über Nacht eine Flucht von Fürstenzimmern an seinen alten »Regina«-Kasten anbaut, wird er die Hoheit der Konkurrenz überlassen müssen.«
»Frau Heidenmüller stirbt lieber! Denken Sie doch, wenn ihr das entginge, einer Hoheit die Honneurs zu machen! Sie kennt sich ja jetzt schon nicht mehr vor Größenwahn. ...«
»Na, ich werd' mir nicht den Heidenmüllers ihre Köpf' zerbrechen. Meinetwegen kann die Heidenmüller heut' schon die große Brillantbrosche herrichten, die sie sich immer anpappt, wenn wer Besonderer kommt.«
»Und die große Tüllschleife, hinter der dann der Kropf verschwinden muß,« sagte Dora und ahmte die charakteristische Bewegung nach, mit der Frau Heidenmüller in feierlichen Momenten die sanfte Schwellung des Halses hinter der besagten Tüllschleife zu schütteln pflegte.
»Übrigens,« sagte der Hauptmann, »haben wir ja am Donnerstag unsern Tarockabend in der »Regina«, da werd' ich mich dann gleich liebevoll erkundigen.«
Allerlei nebensächliche und dennoch unabweisbare Gründe zwangen jedoch den Hauptmann, das Donnerstagstarock zu versäumen. Auch Frau Dora sah er einige Tage nicht. Als sie sich dann wieder trafen, gab es abermals eine große Neuigkeit und zwar eine, die den ganzen Kurort lebhaft bewegte.
Die Gräfin Auberville war über Nacht plötzlich gestorben.
Allerlei Gerüchte liefen über ihren Tod um. Obwohl die Gräfin seit langem schon schwer leidend gewesen, wollte doch niemand glauben, daß ihr Leben auf natürliche Weise geendet habe. Nur wenige sprachen von einem Gehirnschlag. ... Andere erzählten von aufgeschnittenen Pulsadern und wieder andere von Gift. Die Wahrheit erfuhr natürlich niemand. Die Pflegerinnen in den großen Flügelhauben reisten mit der Leiche ab, zu deren Geleit auch jetzt kein Familienmitglied eingetroffen war. Die Dienerschaft brachte in Eile die Verlassenschaft in Ordnung, soweit sie sich im Bereich der Villa befand. Nachdem Monsieur Charles, der Kammerdiener der verstorbenen Gräfin, alle Rechnungen beglichen hatte, folgte er samt dem übrigen Gesinde der toten Herrin nach Paris.
Etwa einen Tag nachher kam der Hauptmann endlich wieder zu einem gemütlichen Herrenabend ins Reginahotel. Er war früher zur Stelle als die Kollegen vom Stammtische und gedachte daher, Frau Heidenmüller aufzusuchen, die ein kleines Faible für ihn hatte, und mit ihr ein wenig über den seltsamen Fall der Gräfin und auch über den Kronprinzen zu plaudern. Die Kellnerin, die unten im Herrenstübel bediente, sagte ihm, daß Frau Heidenmüller oben im Speisesaal sei. Sie lächelte dazu etwas geheimnisvoll und sehr dumm, so daß der Hauptmann bei sich dachte:
»Die Pepi wird alle Tag' blöder! Die können s' demnächst für Geld sehen lassen, so dumm ist sie.«
Er ging über die Treppe hinauf in den Speisesaal, wo gerade die Abend-Table-d'hote stattfand. Frau Heidenmüller war nicht hier, auch nicht Jean, der tadellose Wiener Ober, der sonst hier bediente. An seiner Stelle versah der Frühstückskellner den Dienst.
»Ja, Leopold, was ist denn bei euch los?! Die Frau ist nicht da, der Jean ist nicht da ... sind die etwa miteinander durchgegangen?«
Leopold grinste über das ganze Gesicht. Er zeigte mit dem Kopf nach einem Nebenzimmer, wo die Familie Heidenmüller zuweilen ganz besonders erlesene Gäste empfing.
»Da drin ist die Frau, der Jean bedient; den neuen Frack hat er anziehen müssen. Sakrisch feine Herren san da; reden Französisch wie Wasser, wollen aber nicht mit andre Herrschaften beisammen sitzen.«
Der Hauptmann wurde neugierig. Er zögerte aber noch ein wenig, denn er wollte sich nicht Leuten aufdrängen, die sich von anderen zurückhielten. Doch während er noch zögerte, öffnete sich die Tür des Nebenzimmers und Frau Heidenmüller trat auf die Schwelle, festlich angetan mit Tüllschleife und Brillantbrosche. Sie wollte offenbar gerade Leopold für einen Augenblick sprechen. Als sie den Hauptmann erblickte, trat ein halb verlegenes, halb wohlwollendes Lächeln auf ihr rotes Gesicht.
»Ach, der Herr Hauptmann ... das freut mich aber ...«
»Nein, Frau Heidenmüller, es freut Sie gar nicht, das sieht man Ihnen an.«
»Aber, Herr Hauptmann, wie S' nur so was sagen können!«
»Doch, doch, Frau Heidenmüller, Sie haben ja schon die ganze Schatzkammer an. Ich weiß schon, Elitegäste. Harriman ... Rockefeller ... oder sonst so was, da paßt unsereins nicht hinein. Ich komme lieber wieder, wenn S' einen Armeleuttisch vom Militär beisammen haben.«
Ihre Verlegenheit wuchs zusehends bei seinen Worten. Sie fürchtete seinen Spott, fürchtete, ihn zu kränken, fürchtete auch, daß übergroße Geheimniskrämerei den Herren da drinnen schon deshalb nicht angenehm sein konnte, weil sie ja Neugier und Gerüchte nur verzehnfachte. Sie sagte also mit soviel Schelmerei, als ihr zu Gebote stand: »Aber Sie sind bös, Herr Hauptmann,« hing vertraulich ihre neunzig Kilogramm in seinen Arm und führte ihn so ins Nebenzimmer hinein.
Da war ein kleiner Tisch sehr schön gedeckt, und Jean trug erlesene Gerichte auf. Herr Heidenmüller, ein kleiner blonder Mann, dessen Lebensaufgabe darin bestand, von dem körperlichen und geistigen Übergewicht seiner Frau erdrückt zu werden, saß im schwarzen Bratenrock ängstlich und ungemütlich da, als wäre er bei sich selbst zu Besuch, und lächelte die zwei Herren am Tisch fast ebenso dumm an wie vorhin die Pepi den Hauptmann. Die Herren waren würdevoll, tiefernst, ein wenig steif. Ihre Kleidung war sehr einfach, ganz schwarz, verriet aber den ersten Schneider. Sie waren beide schon über die erste Jugend hinaus und konnten dem Äußeren nach wohl Brüder sein. Vielleicht glichen sie sich aber auch nur, weil beide einen forschenden, wachsamen Ausdruck in den Augen hatten und weil sie beide die modern englisch rasierten Gesichter trugen.
Frau Heidenmüller stellte mit blendender Liebenswürdigkeit den Hauptmann als »ein alter Freund unsres Hauses« vor. Die Herren erhoben sich halb von ihren Sitzen, murmelten Namen, die niemand verstand. Der jüngere von ihnen warf einen fragenden Blick auf den älteren und fragte dann den Hauptmann, ob er ihm ein Glas Wein einschenken dürfe. Herr Heidenmüller lächelte immerfort entgeistert, Frau Heidenmüller setzte sich neben den Hauptmann und behandelte ihn teils leutselig, teils familiär. Offenbar wollte sie den Fremden dartun, daß sie nicht Wirtsleute waren wie andre, sondern mit dem Militär gleichsam auf »du und du«. Einmal versuchte sie sogar, das »Herr« zu verschlucken und nur »Hauptmann« zu sagen, aber da sah er sie starr an und nahm sich vor, sich bei Gelegenheit solche Intimität zu verbitten. Die Stimmung in dem kleinen Zimmer war zuerst recht merkwürdig. Heidenmüllers kamen aus der Verlegenheit nicht heraus und die Herren nicht aus ihrer langweiligen Zurückhaltung. Unter anderen Verhältnissen hätte sich der Hauptmann nach zwei Minuten wieder empfohlen, aber er merkte gleich, daß hier irgend etwas los war, und beschloß daher, indiskret zu sein und ein Weilchen zu bleiben. Er unterhielt sich also scheinbar recht harmlos mit den beiden Herren und versuchte dabei, unversehens ein wenig ihr Inkognito zu lüften.
Franzosen waren es sicher nicht, obschon Leopold behauptet hatte, daß sie Französisch »wie Wasser« sprächen. Ihrem Deutsch fehlte jeder fremdländische Akzent, und niemals verriet eine Satzwendung, ein buchdeutsches Wort ausländische Herkunft. Auch lag in ihrer ganzen Art eine gewisse, an Drill gemahnende Gemessenheit, die völlig unromanisch ist. Sie schienen viel in der Welt herumgekommen zu sein, hatten offenbar immer nur in ersten Hotels gewohnt und in allerersten Kreisen verkehrt, das merkte man an der ruhigen Selbstverständlichkeit, mit der sie von hochgestellten Persönlichkeiten, von märchenhaft teuren und eleganten Weltplätzen redeten. Aber immer blieb in ihren Blicken etwas Forschendes, als ob sie gewohnt wären, in den Zügen anderer zu lesen, darin zu spähen. Und zuweilen hatten sie, trotz aller Reserve, eine geduckte Bewegung, eine gewisse schmeichlerische Verbindlichkeit, die dem Hauptmann mißfiel. Besonders bei dem Jüngeren, der ein hübsches, intelligentes Gesicht hatte, war ihm diese vorübergehende Servilität, die so jäh gegen das sonstige Wesen abstach, unangenehm.
»Also Franzosen sind das nicht,« dachte er, »eher Russen oder sonst was Slawisches.«
Und da er die Gewißheit zu haben glaubte, daß die beiden in keinerlei Beziehung zur Gräfin Auberville gestanden hatten und er doch nur heraufgekommen war, um Frau Heidenmüller über den mysteriösen Todesfall zu interviewen, wollte er keine Zeit mehr verlieren und fragte harmlos: »Sag'n S' einmal, Frau Heidenmüller, was ist denn nun eigentlich mit der Gräfin los gewesen?« Niemand antwortete auf diese Frage, aber sie tat eine seltsame Wirkung, die allerdings dem Hauptmann entging, weil er auf Antwort wartete. Die beiden Fremden horchten auf, wechselten blitzschnell einen Blick und sahen zu Heidenmüller hin. Frau Heidenmüller tat unbefangen heiter, aber ihr Gesicht war noch um einige Schattierungen röter geworden und Herr Heidenmüller lächelte noch stupider als vorher.
Der Hauptmann wiederholte seine Frage, fühlte aber mit Befremden, daß man ihm in diesem Augenblicke auf den Fuß trat. Er dachte an ein Versehen oder an eine erneute Intimität der Frau Heidenmüller, rückte daher beiseite, sagte halblaut »Pardon« und wartete, was Frau Heidenmüller nun berichten würde. Sie sah ihn mit gequältem Lächeln an und stotterte:
»Welche ... welche Gräfin? ...«
»Ihre Gräfin, Frau Heidenmüller, wer denn sonst?!«
»Meine ... meine ..., ich weiß gar nicht, wen Sie meinen, Herr Hauptmann! Wir haben so viele Gräfinnen hier im Hause. ...«
»Selbstverständlich, selbstverständlich, wo sollten denn die Gräfinnen hier wohnen, wenn nicht bei Ihnen?! Aber jetzt meine ich die Gräfin, die in der Villa gewohnt hat, die Auberville. ... Alle Leute erzählen, daß sie sich umgebracht hat.«
Diesen Worten folgte eine fürchterliche Stille. Die Fremden hatten Messer und Gabel beiseite gelegt, sahen fragend, fast drohend auf das unglückselige Ehepaar hin. Auf Frau Heidenmüllers Gesicht lag ein gezerrtes Grinsen, krampfhaft schüttelte sie ihren Kropf hinter der Tüllschleife, obgleich der Ärmste gar nicht vorgelugt hatte. Herr Heidenmüller lächelte so blödsinnig, daß er als Plakette für eine Idiotenanstalt hätte verwendet werden können.
In diesem furchtbaren Schweigen dämmerte dem Hauptmann die Erkenntnis, daß er irgendeine ihm noch unklare Dummheit gemacht habe. In dieser Erkenntnis bestärkte ihn ein neuerlicher Fußtritt, der so heftig war, daß er weder als Zufall noch als zärtliche Annäherung gedeutet werden konnte, sondern als pantomimisch ausgedrückter Fluch aufgefaßt werden mußte. Natürlich versuchte der Hauptmann nun die peinliche Situation zu erhellen und stammelte etliche zusammenhanglose, ungeschickte Redensarten: »Mein Gott, die Leut' reden ja soviel. ... Wenn man das alles glauben wollt', nicht wahr, Frau Heidenmüller?! Es ist doch auch zu dumm, warum soll sich denn die Gräfin durchaus vergiftet haben, lächerlich! ... Kein vernünftiger Mensch wird so was glauben. Sie war ja doch immer ganz wohlauf, ein bisserl leidend halt, ja freilich deswegen war sie ja hier. Aber darum bringt sich der Mensch doch nicht gleich um. ...«
Noch eine Weile sprudelte er in dieser Weise Worte hervor, bei denen er selbst fühlte, daß sie nichts verbessern konnten. Schließlich machte er der unerträglichen Situation ein Ende, indem er sein Tarock vorschützte. Er verbeugte sich vor den beiden Herren, sagte den Heidenmüllers, die einen völlig niedergeschmetterten Eindruck machten, sehr freundlich »Gute Nacht« und begab sich hinunter zu seinen Freunden, die ihn schon ungeduldig erwarteten.
Die seltsame Geschichte mit den beiden Fremden ging ihm aber doch nach; als er am nächsten Tag bei Frau Dora Tee trank, erzählte er sofort alle Einzelheiten und schilderte getreu die schwüle Stimmung, die seine Frage nach der Gräfin hervorgerufen hatte. Frau Dora war nun in ihrem Element. Unermüdlich stellte sie neue, romantische Mutmaßungen auf, fand sie absonderliche Zusammenhänge zwischen dem Tod der Gräfin und den Fremden.
»Das müssen Sie doch zugeben, irgendwelche Beziehungen sind oder waren vielmehr zwischen diesen Menschen vorhanden.«
»Ja, schon ..., das heißt, es scheint so, aber ich wüßt' gar nicht, welche, denn das waren keine Aubervilles, keine Franzosen, da wollt' ich drauf ...«
»Das schließt doch einen Roman nicht aus, schließlich lieben die Leute doch nicht nur innerhalb ihrer Landesgrenzen.«
Er lachte laut auf.
»Gnädigste, jetzt fängt die Phantasie wieder an mit Ihnen durchzugehen.«
»Ganz und gar nicht, aber ein Blinder muß sehen, daß sich hier ein Drama abgespielt hat. Eine schöne, junge Frau stirbt plötzlich ..., man munkelt von Selbstmord. Bezahlte Leute bringen die Leiche nach der Heimat. Etliche Tage später treffen zwei elegante, düstere Fremde hier ein ...«
»Düster ist von Ihnen, Gnädigste ...«
»... zwei düstere Fremde hier ein,« fuhr sie unbeirrt fort, »die offenbar das größte Interesse daran haben, unbekannt zu bleiben. Der Name der Gräfin wird genannt, Selbstmord erwähnt und die beiden erschrecken tödlich ...«
»Erschrecken tödlich ist auch von Ihnen, Gnädigste. Bei mir ist gar niemand tödlich erschrocken, nur die Heidenmüllers waren sehr verlegen. Wahrscheinlich meinen sie, daß es dem Ruf ihrer Küche schadet, wenn die Leut' bei ihnen sterben oder sich gar umbringen.«
Frau Dora wurde jetzt etwas ärgerlich.
»Versuchen Sie doch nicht, durch schlechte Witze zu verschleiern, daß Sie da eine offene Wunde berührt haben! Das passiert allen Leuten, die sich einbilden, mit der Formel 2 x 2 = 4 seien alle Dinge der Welt abgetan.«
»Glauben Sie etwa, daß sie mit 2 x 2 = 5 abgetan seien?«
»Ich bekümmere mich nicht um Arithmetik! Mich beschäftigt jetzt vielmehr diese unglückselige Frau und dieser unglückselige Mann.«
»Welcher unglückselige Mann?« fragte der Hauptmann etwas perplex.
»Der Mann, der mit Ihnen am Tisch saß – einer von den beiden, der sie geliebt hat oder den sie geliebt hat und der zu spät von ihrem schrecklichen Ende erfuhr.«
»Aber es waren ja zwei.«
»Ein jüngerer und ein älterer, nicht wahr?! Wahrscheinlich Brüder, vielleicht Freunde. Der eine wollte den andern, den der Schlag betroffen, diese entsetzliche Reise nicht allein machen lassen.«
Der Hauptmann schlug die Hände zusammen.
»Aber, Gnädigste, der Mann, dem Sie alle diese schönen Gefühle andichten, hätte sich doch in all der Zeit einmal um die Gräfin kümmern können. Sie war doch immer allein, nicht einmal zur Leiche ist jemand gekommen ...«
»Wissen Sie denn, ob er so ganz teilnahmslos war? Ob nicht vielmehr die Gräfin ihn aus irgendeinem Grunde fernhielt? Ob es ihr nicht schrecklich gewesen wäre, sich ihm so krank zu zeigen? Oder ob er nicht tausend Hindernisse zu überwinden hatte, bis er endlich frei war, und doch zu spät kam?«
»Mir steht der Verstand still,« sagte der Hauptmann ergeben. Frau Dora hörte ihn aber gar nicht.
»Übrigens, das muß ich sagen, eines ist sehr merkwürdig: diese Vertuschungskomödie von Heidenmüllers bei den inquisitorischen Blicken der Fremden. Schließlich kann der Hotelier doch nicht für Liebes- oder Familiendramen verantwortlich gemacht werden.«
»›Inquisitorisch‹ ist auch von Ihnen,« erlaubte sich der Hauptmann zu bemerken.
»Wissen Sie, was man da beinahe vermuten könnte? Daß gar kein Selbstmord vorliegt, sondern daß – – –«
»Daß Heidenmüllers die Gräfin umgebracht haben,« sagte der Hauptmann trocken.
»Ach, lassen Sie doch Ihre Scherze! Heidenmüllers natürlich nicht, aber irgendein Dienstbote der Gräfin, irgend jemand, der ein Interesse daran hatte, sie zu beseitigen.«
»Vielleicht der Kurdirektor.«
Frau Dora reagierte gar nicht mehr auf seine Zwischenbemerkung. Ihre Phantasie sprengte mit verhängten Zügeln dahin, und der Hauptmann versuchte gar nicht mehr, den edlen Renner aufzuhalten. Gegen Abend unternahmen sie dann noch einen weiten Spaziergang durch die Weinberge und kehrten erst heim, als schon die ersten Lichter auf der Kurpromenade brannten. Ihr Weg führte sie an der Villa Regina vorüber, die still und dunkel dalag wie das Geheimnis selbst. Frau Dora verlangsamte den Schritt, verwandte kein Auge von dem Hause, um das so viele Fragen und Zweifel schwebten. Plötzlich legte sie erregt ihre Hand auf den Arm ihres Begleiters:
»Da, sehen Sie doch!«
An dem Zaun, der den weiten Garten der Villa umschloß, standen zwei Männer mit englisch rasierten Gesichtern, in tadellose schwarze Eleganz gekleidet. Der Hauptmann erkannte sie sofort wieder, die beiden bemerkten aber das Paar gar nicht, so sehr waren sie in die Betrachtung der Villa und in ihr Gespräch versunken.
»Ob es wirklich wahr ist?« fragte der Jüngere halblaut.
Der andere zuckte die Achseln.
»Wohl möglich, aber schließlich geht uns das nichts an.«
»Um Himmels willen, sagen Sie so etwas nicht! Wenn er das je erführe –«
»Wie sollte er? Nur wir wissen davon, und wir werden schweigen.«
»Wenn er es erführe – ich hätte keine ruhige Stunde mehr, solange ...«
Mehr konnte Frau Dora im Vorübergehen nicht hören, aber die wenigen Worte genügten, um ihr Interesse für die Fremden nur zu erhöhen. Zum Ärger des Hauptmanns drehte sie sich sogar zweimal nach ihnen um, und dabei sah sie das Gesicht des Jüngeren, das just der aufgehende Mond beschien.
»Gramvoll sieht er aus,« flüsterte sie dem Hauptmann zu.
»So,« sagte dieser teilnahmslos.
»Drehen Sie sich doch einmal um, es ist ein ergreifendes Bild! Dieser blasse, elegante, trauernde Mann, der im Mondschein auf das tote Haus einer Toten starrt!«
Der Hauptmann drehte sich nicht um und sagte nichts mehr. Er wußte, daß jedes Wort vergebens gewesen wäre. Er wußte auch, daß Frau Dora die kommenden Tage damit zubringen würde, dem Fremden nachzuforschen und sich par distance in den gramvollen Mondscheinmann zu verlieben.
Er spürte Wut in sich aufsteigen und fand plötzlich, daß ihm diese zwei Männer vom ersten Augenblick an unangenehm gewesen seien und er beschloß, am nächsten Tag zu Frau Heidenmüller zu gehen und nicht zu wanken und zu weichen, bis er wußte, wer die beiden waren. Frau Dora zerbrach sich derweilen den Kopf, was die Worte des Fremden wohl zu bedeuten hatten: »Wenn er es erführe«; also war noch ein Dritter im Spiele, ein Dritter, den sie fürchteten ... Wie stimmte aber dazu die Frage: »Ob es wirklich wahr ist?« Wenn hier ein Verbrechen vorlag, wenn sie einen Dritten fürchteten, dann mußten sie doch auch die Wahrheit wissen ... Und wiederum hatte der eine gesagt: »Ich hätte keine ruhige Stunde mehr, solange«, und hatte dabei so gequält ausgesehen, als erfaßte ihn jetzt schon tiefste Reue.
Ihre Gedanken versuchten vergebens, sich in dem Labyrinth von Vermutungen zurechtzufinden. Sie wurde schließlich ganz müde vom Denken und Fragen und war froh, als sie endlich allein zu Hause war, wo niemand ihre empfindsame Geschichte mit unpassenden Glossen verzierte.
Dem Hauptmann war nicht ganz wohl, als er sich dem Reginahotel näherte. Der Moosbacher des Tarockabends lastete noch auf ihm, und er scheute sich ein wenig vor dem ersten Wiedersehen mit Frau Heidenmüller. Sie empfing ihn jedoch mit blendender Liebenswürdigkeit, obgleich sie alle Hände voll zu tun hatte, weil die Appartements für den Kronprinzen von X. instand gesetzt werden mußten. Trotzdem sie aber schon gewissermaßen auf der Menschheit Höhen wandelte, war sie doch heute ganz leutselig, ganz offenherzig, hatte alle Geheimnistuerei abgelegt, ganz so wie Brillantbrosche und Tüllschleife. Heute war sie wieder ganz Wirtin mit der kleinen Schwäche für den hübschen Hauptmann. Und bereitwillig gab sie genaue Auskunft über die Fremden – –.
Da begann der Hauptmann so sehr zu lachen, daß Frau Heidenmüller ihn verdutzt ansah und dachte, sie hätte vielleicht etwas Dummes gesagt. Und als er weiter lachte, bis er außer Atem war und ihm die Tränen in die Augen traten, wurde das Schuldgefühl der armen Frau immer stärker. Sie wollte sich rechtfertigen:
»Seh'n S', Herr Hauptmann, deswegen war's uns ja so schrecklich, daß Sie von der Gräfin gered't hab'n. Mein Gott, es ist ja wahr, sie hat sich ja mit Morphium vergift't, aber i glaub' net, daß das bei ihr so a arge Sünd' war. Unheilbar war sie und die Allerletzt' von ihrer Familie ... Das ganze viele Geld kriegen alles die Armen, hat der Monsieur Charles g'sagt. ... Also, wie g'sagt, mich hat die arme Frau erbarmt, aber Sie wissen ja, Herr Hauptmann, wie die Leut' schon sind ... ganz im Vertrauen, Herr Hauptmann, gerad' solche Leut' ... unsereins hat da Einblicke und erfährt G'schichten ... ja, wenn man reden dürft' ...«
Jetzt war sie doch wieder die Erwählte, bei der einzig und allein vornehme Leute wohnen konnten und um die jetzt sogar ein Abglanz aus dem Gotha lag.
Der Hauptmann hatte aber gar nicht sonderlich auf sie geachtet; er hatte in Zwischenräumen nur immer wieder herzhaft gelacht. Jetzt sagte er mit strahlendem Gesicht etwas unvermittelt:
»Ich danke Ihnen, Frau Heidenmüller, ich danke Ihnen sehr.«
»Aber ich bitt' Sie, Herr Hauptmann, da is ja gar nix zu danken.«
»Und außerdem gratulier' ich auch noch, daß Sie die Villa wieder so gut vermietet haben. Ein Kronprinz, allerhand Hochachtung! Ja, ich sag's ja immer, die Frau Heidenmüller, die findet nicht leicht ihresgleichen.«
Er schüttelte ihr freundlich die Hand, was sie ganz weich und glücklich stimmte. »Ein zu lieber Mensch«, dachte sie. Leider erschien gerade in diesem Augenblick Herr: Heidenmüller mit bemerkenswert blödem Lächeln. Seine Gattin ließ sich aber in der Wonne dieser Stunde nicht stören, sondern herrschte ihm zu:
»Heidenmüller, steh' da nicht herum! Geh' lieber in den Keller und sieh dem Küfer nach, daß der Wein für die Hoheit in Ordnung ist!«, worauf Herr Heidenmüller lächelnd und gehorsam verschwand.
Der Hauptmann entfernte sich in sehr vergnügter Stimmung. Sein erster Plan war, Frau Dora aufzusuchen und ihr mitzuteilen, was er soeben vernommen hatte. Dann aber überlegte er bei sich, ob er nicht lieber warten, sie vielleicht durch den Augenblick belehren sollte. Irgendwie mußte ihm ja der Zufall einmal günstig, sein, denn der Zufall ist meistens günstig, wenn man ihm nachhilft. Als er nach Hause kam, fand er allerlei dienstliche Schreibereien und Plackereien vor, daß die Fremden das Reginahotel und alles, was damit zusammenhing, in den Hintergrund trat. Und als er etliche Tage nur dem Dienst gelebt hatte, dachte kaum irgendeiner mehr an die Sensationsaffäre der vorigen oder der vorvorigen Woche. Der Kurort machte sein freundlichstes Gesicht und tat, als gäbe es nicht Krankheit und Sterben, sondern nur Genesung und Lust auf der Welt. Von allen Häusern wehten schwarzgelbe und weißrote Fahnen, und der Bahnhof war mit grünen Blumengirlanden und buntem Wimpeln geziert. Man erwartete die Ankunft des Kronprinzen.
Der Hauptmann hatte Frau Dora abgeholt, denn sie wollten beide das große Ereignis des Tages mit ansehen. Während sie durch die heiteren Straßen schritten, auf deren Pflaster die Sonnenkringeln tanzten, überlegte der Hauptmann, ob er Frau Dora nicht allmählich schonend auf seine Enthüllung vorbereiten sollte. Aber die Straßen waren so voll, man mußte sich so mühsam durch die Menschen drängen, die auch zum Bahnhof wollten, daß man kein rechtes Gespräch führen konnte. Auch, bemerkte der Hauptmann, daß Frau Doras Blicke unruhig hin und her gingen, als. ob sie jemand suchte. Wenn sie meinte, ihn gefunden zu haben, blitzten ihre Blicke hell auf, um alsbald enttäuscht weiterzuwandern, wenn sie sich wieder und immer wieder geirrt hatte.
Diese suchenden Blicke erbitterten den Hauptmann. Nein, sie verdiente wirklich keine Schonung! Mochte sie, wenn der Zufall befahl, die kleine Pille nur schlucken und sich blamieren, vielleicht würde sie das heilen von ihren romantischen Grillen, mit denen sie anderen Leuten, wie zum Beispiel ihm, das Leben sauer machte.
Obschon der Bahnhof nicht abgesperrt und die Menge der Andrängenden groß war, gelang es dem Hauptmann doch, Frau Dora ganz weit nach vorn zu bringen, so daß sie das ganze Zeremoniell der Ankunft aus nächster Nähe mit ansehen konnte. Er selbst ließ sich gutwillig wieder zurückdrängen, da er dank seiner Größe über die andern wegschauen konnte.
Der Bürgermeister und der Kurdirektor waren natürlich, bewaffnet mit weißen Binden und Reden, zum Empfang des hohen Gastes erschienen. Sie standen ganz vorn, dicht an dem Geleise, auf dem der Extrazug einfahren sollte, und blickten gespannt nach der Richtung hin, von der er kommen mußte. Etwas abseits von ihnen, mehr im Hintergrunde, sah man eine kleine Gruppe von Menschen, die Hoheit vorgestellt werden sollten: maßgebende Persönlichkeiten des Kurorts oder vornehme Landsleute der Hoheit. Jenseit des Bahnsteigs, dem Publikum deutlich sichtbar, warteten die Wagen, die Seine Hoheit zum Reginahotel bringen sollten; der sehr elegante Landauer des Hotels und eine etwas schäbige Mietkutsche für die Dienerschaft.
Frau Dora blickte ziemlich gedankenlos über das bunte Gewimmel hin, das sie umdrängte. Was würde dieser ganze Empfang wohl Besonderes bieten?! Den Anblick der dicken, ältlichen Hoheit, die Bücklinge der Empfangsherren, die lächerlichen Knixe der Damen, die vorgestellt wurden, und schließlich die Staubwolken der abfahrenden Wagen. ... Frau Dora gähnte eine wenig und fragte sich, warum sie eigentlich nicht zu Hause geblieben sei. Selbst das kleine Schulmädchen im bunten Bauernkostüm, das ein Verschen aufsagen und einen Blumenstrauß überreichen sollte, kam ihr langweilig vor. Nur einmal trat ein gespannter Ausdruck in ihr Gesicht: ihr war's, als hätte sie in der wogenden Menge einen der geheimnisvollen Fremden – den älteren – gesehen. Es konnte aber auch eine Täuschung sein, denn er verschwand ebenso schnell, wie er aufgetaucht war; vergebens mühte sie sich, ihn noch einmal aufzufinden.
Durch die Menge, die bisher nur gesurrt, geschwatzt, gelacht und gedrängt hatte, ging jetzt eine Bewegung. Eine gewisse Ruhe und Erwartung trat ein. Der Bürgermeister und der Kurdirektor räusperten sich, traten noch näher an das Geleise und wendeten ihre Augen nicht mehr von der Richtung, aus der der Erwartete kam. Das kleine Schulmädel faßte seinen Blumenstrauß fester und plapperte die Anfangszeilen des Begrüßungsgedichtes leise und aufgeregt vor sich hin. Die Rosselenker setzten sich straffer auf ihren Kutschböcken zurecht und zogen die Zügel an. Aus der Ferne vernahm man ja das gleichmäßige Schnauben einer Lokomotive und das leise Schlagen von Eisenrädern auf Schienen.
Langsam fuhr der Zug auf dem Bahnsteig ein. Die Tür des Salonwagens wurde geöffnet und Hoheit stieg mit jenem elastischen Schritt heraus, den die Berichterstatter, jahraus jahrein an allen Hoheiten zu bewundern Gelegenheit haben. Er sah ganz so aus, wie Frau Dora ihn gedacht und geschildert hatte: mittelgroß, ein wenig fett, frische Wangen, wenig Haare, einen Kneifer auf der Nase. Mit verbindlichem Gesicht ließ er die Reden des Bürgermeisters und des Kurdirektors über sich ergehen, nahm minder freudigen Überraschung, die er für alle Bahnempfänge bereithielt, die Blumen des kleinen Mädels in Empfang, schüttelte alle möglichen Hände, war liebenswürdig gegen alle möglichen Leute, die er innerlich zum Teufel wünschte, denn er hatte das dringende Bedürfnis, sich's nach langer Bahnfahrt in seinen Appartements behaglich zu machen. Der Kronprinz war ja keine moderne Reisehoheit. Er war festgebunden an allerlei kleine Gewohnheiten und Pedanterien. Diesen Gewohnheiten und Pedanterien zuliebe mußte neben dem Reisekurier auch der langjährige Kammerdiener stets die Zimmer besichtigen, die Hoheit auswärts bewohnen sollte, und alles aufs Tipfelchen so stellen, richten oder verändern lassen, wie Hoheit es von zu Hause gewöhnt war.
Endlich waren auch die letzten huldvollen Worte gesprochen, und Hoheit saß im Wagen, neben ihm sein Adjutant. Frau Dora konnte ihn noch genau sehen und wunderte sich ein wenig, daß die Pferde noch nicht im Trab waren, sondern der Kutschenschlag immer noch offen stand. Das hatte aber seinen besonderen Grund. Wenn Hoheit fuhr, und wären es auch nur drei Schritte, so mußte ihm der Kammerdiener die Füße in eine schwarze Plüschdecke wickeln. Nur der Kammerdiener konnte das, kein anderer Sterblicher wurde je zu diesem Akt zugelassen. Der Kammerdiener aber war mit seiner Plüschdecke von der Menge etwas fortgedrängt worden und konnte erst eine halbe Minute nach Hoheit bei dem Wagen eintreffen.
Jetzt aber kam er in größter Eile an, das Gesicht hochrot vor Erregung, die Decke überm Arm. Er zog tief den Hut und verneigte sich dabei fast bis zur Erde vor seinem Herrn, der ein paar finstere Falten auf der Stirn zog. Dann begann er mit demütiger Lakaiengeschäftigkeit die Füße seines Gebieters einzuwickeln. ...
In diesem Augenblicke stieß Frau Dora einen kleinen Schrei aus und wäre am liebsten in Ohnmacht gefallen. Sie wußte jetzt, daß sie sich vorhin nicht getäuscht, daß sie wirklich den einen der Fremden in der Menge erkannt hatte. Wo er hingekommen war, wußte sie nicht. Der Jüngere aber, der bleiche Mann mit dem gramvollen Gesicht, den sie in einen geheimnisvollen Zusammenhang mit der toten Gräfin gesetzt hatte, dem sie erschütternde Liebesschmerzen und schaurige Taten angedichtet, dem sie seit Tagen in Gedanken und auf der Straße nachgespäht hatte, der gramvolle Mann kniete jetzt auf dem Trittbrett des Landauers und wickelte die Füße seines Herrn ein. Der bleiche Mann mit der gramvollen Stirn und dem tragischen Geschick war – ein Kammerdiener. Der andere aber – der Reisekurier – war bereits in der schäbigen Mietkutsche in die Villa Regina gefahren. ...
* * *
Frau Dora war wütend, zuerst auf den Hauptmann, dann auf den Kronprinzen, dann auf Frau Heidenmüller, dann auf den Kammerdiener, ganz zuletzt erst auf sich selbst. Während der ganzen Zeit, die sie zu diesen Stimmungsnuancen benötigte, ungefähr acht Tage lang, blieb der Hauptmann völlig in Ungnade und wurde nicht vorgelassen, obgleich er ihr geschrieben hatte, daß er in die Hauptstadt versetzt sei und sie dringend um eine Unterredung bitte, von der die letzte Vollendung seines Lebensglückes abhinge. Nachdem die acht Zorntage um waren, setzte sie sich hin und antwortete:
»Ich habe vor acht Tagen eine große Dummheit gemacht. Heute mache ich die zweite und sage: ›Ja‹. Aber es ist eine Bedingung dabei: während der drei ersten Jahre unsrer Ehe darf von der dummen Geschichte (Sie wissen schon!) kein Wort gesprochen werden. Wenn Sie mir darauf Ihr Ehrenwort geben, erwartet Sie morgen zum Tee Ihre