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Herr von Wulffen fuhr in einem schlechten Einspänner, den er mit vieler Mühe in dem talgelegenen Städtchen ausfindig gemacht, durch eine sanfte Thüringer Landschaft die Berge hinan. Das Pferd beeilte sich nicht. Herr von Wulffen hatte somit Gelegenheit, die Landschaft um sich recht gründlich zu betrachten.
Es war ein Mann von vielleicht achtundzwanzig Jahren; sein herbes und brünettes Gesicht zeigte weder Ungeduld noch schlechte Laune. Er nahm die augenblickliche Lage mit Fassung. Denn Herr von Wulffen hatte solche Fahrten nun schon gründlich kennen gelernt. Im Auftrag einer jüngeren fürstlichen Dame reiste er umher, ein Schloß zu suchen, und eine Zeitungsannonce hatte ihn auf das Ziel seiner jetzigen Fahrt gelenkt. Das glückliche Eiland, Schloß Sonneborn, befand sich acht Kilometer von der nächsten Bahnstation.
Der Wagen hatte endlich die Höhe erreicht. Nun wurde das Pferd wieder munterer, der Bursche reckte sich auf, und nach einer Viertelstunde fuhr man in einen bebuschten Hohlweg ein: das Dorf Sonneborn breitete seine Gehöfte aus.
Herrn von Wulffen schwebte etwas vor von einem netten, reinlichen Gasthaus unter grünen Linden. Nicht sehr erfreut war er, als der Wagen vor einem düsteren Gebäude hielt, das nach Verfall und Verkommenheit aussah und seinem Namen »Zum Herzog August« eine schlechte Repräsentation verlieh.
Herr von Wulffen konnte ein großes Zimmer des Oberstockes bekommen. Darin befanden sich ein Federturm, Bett genannt, ein langer Tisch und einige Stühle. Der Raum war nicht dazu angetan, Herrn von Wulffen zu erheitern.
Er ging bald aus, das Schloß zu besehen, und schritt die holprige Dorfstraße hinunter. Er sah einen umfriedeten Weiher, in dessen Linsengrün die Enten ihre Bahnen zogen. Schöne alte Buchen und Rüstern hingen ihre Zweige auf das Gewässer hinunter. Sie bogen sich über eine Mauer, und diese Mauer war wohl des Schloßhofes Grenze. Eine Querwand schloß auch nach der Dorfstraße zu ab. Sie hatte die landesüblichen, gerundeten Tore der Thüringer Siedlung, eine Einfahrt und ein kleines Seitenpförtchen.
Das Seitenpförtchen ließ sich aufklinken, und nun stand Herr von Wulffen auf einem weiten, grünen Rasenplan.
Und hinter ihm lag, trotz aller Verwahrlosung nicht seine edle Ursprünglichkeit verleugnend, ein feines, stilles, graues Schloß früher Gotik. Seine Formen enthüllten sich immer mehr beim Näherkommen, und nun erkannte der Beschauer, daß die alte Rüster, die er von weitem für eine Stütze von Ruinen gehalten, nur eine schöngegliederte Seitenfront beschattete.
So merkwürdig still war es hier. So ganz verlassen lag alles. Herr von Wulffen blickte um sich: da führte eine kleine Allee von Kastanien nach einem Empirelusthaus mit weißen Säulen; rechts vom Schloß, wiederum hinter Mauern, zeigten sich die einst regelmäßigen Taxushecken eines französischen Gartens. Den Hintergrund des Schlosses aber bildete eine hohe Steinwand mit einem gotischen Wehrgang, über den von jenseit alte Linden ihre schweren Kronen erhoben.
Ein feierlicher Raum, dachte Herr von Wulffen. Und er schritt langsam auf das Portal des Schlosses zu. Das stand offen. Herr von Wulffen trat ein. Kühner geworden ging er durch die Halle. Es blieb alles still. Da stieg er die Turmtreppe nach oben, wiederholte hier sein Klopfen an den Pforten, und mit Entschluß klinkte er endlich eine Tür auf.
Er sah in ein weites Zimmer. Es hatte Rokokomöbel. Und in einem der alten Lehnstühle am Fenster saß ein weißhaariger Herr. Er schlummerte. Er hörte den Ankömmling nicht. Herr von Wulffen blieb unschlüssig einen Moment stehen, wie aus Furcht, ein Geräusch zu machen. Das ist wohl der Ahnensaal, dachte er, flüchtig über die Ölbilder an den Wänden sehend. Doch da erkannte er, es war eine Galerie von Bildnissen der Ludwige des königlichen Frankreichs.
Herr von Wulffen machte leise die Tür hinter sich zu. Er wunderte sich flüchtig, daß ein so alter Herr noch seinen Besitz verkaufen wollte. Auch auf seinem Rückzug begegnete Herr von Wulffen niemand. Ein sonderbares Haus. Und Herr von Wulffen stand wieder draußen auf dem weiten Wiesenplan.
Nun war die Sonne schon gesunken. Ein leichtes Dämmern schien den Raum noch zu erweitern. Die Zikaden riefen. Durch die stille, reine Luft des Maiabends drang ihr surrendes Singen. Und plötzlich hob sich ein anderer Ton in die Stille. Ein klarer, sanfter, melancholischer Flötenton. Ein unsichtbarer Künstler blies ein süßes, einfaches und doch erregtes Lied. Das klang und verklang, wie ertrunken im Frieden des Abends.
Albrecht von Wulffen schritt die Dorfstraße weiter. Er wollte sehen, ob auch noch Baumgärten u. dgl. um das Schloß lagen. Und erfüllt von dieser verlassenen Siedlung ging er ziellos auf der Straße weiter, bis er an eine neue Mauer kam; die war von ein paar Totenkreuzen überragt, und fern hinter ihr stand der Kirchturm.
Und da Herr von Wulffen immer noch nicht wußte, wie denn der Besitzer des Schlosses hieß, fiel ihm ein, der kleine Kirchhof würde gewiß die Totensteine der Herren des Sonneborns bergen. So trat er ein.
Aber was er zuerst auf dem Kirchhof erblickte, war etwas Lebensvolles. Eine dunkelgekleidete, vornehme Frau saß da auf einem liegenden Leichenstein. Sie war untätig. Sie hatte die Hände auf den Knien liegen und sah gelassen über den Kirchhof hin, dessen Gras schon hoch stand und über den halbversunkenen Hügeln wucherte. Und Herr von Wulffen lächelte. Wunderliches Sonneborn, dachte er. Dieses Gesicht, das er da ihm abgekehrt im Profil sah, gab es gewiß nur einmal auf der Welt. Es mußte die Gräfin Leyden sein, deren Bild und deren Bücher er kannte. Ja, warum sollte die Gräfin Leyden sich nicht ebensogut in Sonneborn befinden als er, Albrecht Wulffen? Es konnte noch mehr Damen geben, die den Sonneborn kaufen wollten.
Und er trat näher, zog den Hut, und so fest war er überzeugt, Bild und Gestalt müßten eins sein, daß er mit dem Titel eines Buches der Gräfin Leyden grüßte:
»Und der Lebende hat recht«, sagte er zu ihr und über den Kirchhof hin.
Ein kurzer Blick aus schönen, weichen Augen traf ihn, und dann antwortete eine ruhige Stimme:
»Das haben Sie sehr hübsch gesagt. Ich gehe manchmal hierher, es zu fühlen.«
Albrecht von Wulffen verbeugte sich und nannte seinen Namen.
»Ist es sehr unbescheiden, Gräfin, daß ich Sie erkenne?
Die Gräfin Leyden, eine Dame von vielleicht 45 Jahren, stand langsam auf.
»Woher wissen Sie denn von mir?« fragte sie.
Aber Herrn von Wulffens Antwort wurde unterbrochen durch das Näherkommen eines jovial und blühend aussehenden Mannes, dem nur der lange, schwarze Rock das pastorliche Aussehen verlieh.
Herr von Wulffen war entschlossen, sich nicht verabschieden zu lassen. Ihm graute es, jetzt schon den Federturm, genannt Bett, im »Herzog August« zu besteigen. Er überstürzte sich ein wenig und sagte:
»Gnädigste Gräfin, Herr Pastor, dürfte ich Sie wohl um eine Auskunft bitten? Ich bin hier auf eine Ausschreibung hin, das zum Verkauf stehende Schloß zu besehen. Ich fand darin nur einen alten Mann, der schlief. Wohin muß ich mich wohl wenden?«
Die Gräfin und der Pastor sahen einander an, erschrocken beinahe, schien es Wulffen. Nun, wenn sie Konkurrenten waren, wurde das am besten gleich festgestellt.
»Ist dies ein mißfälliges Vorhaben?« fragte er rasch.
»Verzeihen Sie,« antwortete die Gräfin. »Sie sahen wohl, Ihre Rede rief eine kleine Bestürzung hervor. Dies zu erklären, geht nicht in zwei Worten. Haben Sie etwas Zeit – –«
»Dann kommen Sie vielleicht ins Pfarrhaus,« fügte der Pastor hinzu.
Wulffen warf einen fragenden Blick auf die Gräfin.
»Ich habe dort ein freundliches Sommerasyl gefunden,« sagte sie. »Ich arbeite in der Stille von Sonneborn. Mögen Sie also mitkommen, Herr von Wulffen?«
»Ich danke gehorsamst.«
Im Pfarrgarten stand eine Fliederlaube, die suchte man auf. Die Pastorin brachte Johannisbeerwein.
»Und nun will ich Ihnen unser unfreundliches Erschrecken von vorhin erklären,« sagte die Gräfin. »Der alte Mann, den Sie schlafend fanden, ist Herr Hébert von Sonneborn, der Besitzer des Schlosses. Eine Zwischenfrage: Wissen Sie etwas von dem Uhrmacher Naundorff, Herr von Wulffen?«
Der junge Mann besann sich einen Moment. »Mir ist es dunkel, als wäre das ein angeblicher Nachkomme Ludwig Capets?«
»Ganz richtig. Und Sie haben vielleicht auch schon die Galerie von bourbonischen Ludwigen im Schloß bemerkt? Nun also, die Geschichten vom Uhrmacher Naundorf bereiten dem alten Herrn da drüben Übelbefinden. Wie konnte ein Prinz königlichen Blutes ein Uhrmacher sein? Ein Waffenschmied allenfalls noch, wenn dem seine Arme durchaus eine Beschäftigung haben müssen – aber ein Uhrmacher? Sie werden dem Herrn von Sonneborn nicht näher treten, ohne dies von ihm selbst zu hören. Und doch teilt der alte Herr in gewissem Sinne die Ansicht des verachteten Uhrmachers Naundorff; er hält sich, nein, er ist der Sohn jenes Prätendenten Hébert, der in Paris wenig Glück machte und in England starb – jener Hébert, der sich für Louis XVII. ausgab.
»Seit fast 50 Jahren wohnt er nun hier und träumt von einer neuen Restauration der Bourbonen.«
Herr von Wulffen erinnerte sich für einen Moment, daß ihn die Eisenbahn in diese Gegend gebracht; er bedachte, im 20. Jahrhundert zu leben – und dann hörte er wieder aufmerksam zu.
»Man könnte ja den Alten ruhig in seinem Wahn lassen. Das Traurige ist nur, er bestärkt auch seine Enkelkinder, besonders den Enkelsohn darin. Er hat diesem Burschen von 17 Jahren nicht mal eine Erziehung gegeben. Er versteht nichts, als die Flöte zu blasen. Dieses kann er sehr schön.«
Herr von Wulffen fühlte sich auf dem Boden der Wirklichkeit und bestätigte: »Ja, das hörte ich auch.«
»Jetzt kommen wir erst zum ernsthaften Teil der Sache,« sagte die Gräfin. »Dieser Großvater will jetzt, er ist über 70 Jahre alt, mit den Kindern nach Paris. Zu dem Zweck möchte er den Sonneborn zu Geld machen. Nun stellen Sie sich vor: das Einzige, was diese Menschen besitzen, ist der Sonneborn, das Schloß, in dem sie wohnen, die verpachteten Acker, die sie wenigstens ernähren. Und nun will der alte Tor die sichere Heimat verkaufen, mit den Kindern nach Paris reisen und Schritte für seine Sache tun. Sie begreifen, Herr von Wulffen, daß wir erschraken, als Sie von Ihren Kaufabsichten sprachen. Denn seit der Alte sein Schloß ausbietet, hat es noch keinen Besichtiger gefunden.
Da Sie uns ansprachen wegen des Schlosses, Herr von Wulffen, hielt ich es für richtig, Ihnen dies zu erzählen. Es ist für Sie freilich das Schicksal dieser fremden Menschen ein fernes. Ich denke nur, man schafft nicht gern Heimatlose.«
Der junge Wulffen saß still. Nach einer Weile erst antwortete er: »Ich danke für Ihr Vertrauen, gnädigste Gräfin – ich verstehe Ihre Beweggründe ganz. Aber ich bin im Auftrag der Prinzessin zu Bentheim hier; sie hat mich selbst bei dem Besitzer schon annonciert, es ist mir also nicht möglich, ohne ihn gesprochen zu haben, wieder zu reisen.«
»Nein, dann natürlich sind Sie gebunden.«
Die drei Menschen in der Fliederlaube des Pfarrgartens schwiegen. Eine kleine Beklommenheit lag über Herrn von Wulffen. Und doch war er in gewissem Sinn neugierig auf die Sonderbaren, die er morgen kennen lernen sollte.
* * *
Am anderen Tag kam Herrn von Wulffen alles Gestrige ein wenig unwahrscheinlich vor. Hätte ihm nicht die Gestalt der Gräfin Leyden so eindrucksvoll vor Augen gestanden, so würde er fast die bourbonische Geschichte für einen Traum gehalten haben.
Er beschloß, sich nun gleich durch den Augenschein zu überzeugen, und machte sich von neuem auf den Weg nach dem Schloß.
Diesmal empfing ihn eine ältere Dienerin. Sie schien von seinem Kommen unterrichtet. Der alte Herr liege freilich noch zu Bett, sagte sie, und der junge Herr wäre in die Stadt gegangen. Aber das Fräulein Clorinde befände sich oben.
Bei seinem Eintritt erhob sich ein sehr junges, schmales, schlankes Mädchen. Sie hatte ein loses Leinenkleid an, und ihre Bewegungen waren noch kindhaft und herb.
»Der Großvater läßt sich entschuldigen,« sagte sie ohne Befangenheit. »Er ist etwas müde noch. Sie interessieren sich für das alte Schloß, sagte er mir, und ich soll es Ihnen zeigen.«
Herr von Wulffen war erstaunt. Er hatte gedacht, verwilderte und befangene Kinder in diesen Enkeln zu finden. Und nun stand da ein feines, zartes, junges Fräulein vor ihm, das mit einer sanften, aber sehr sicheren Stimme und der natürlichen Freiheit eines Kindes aus gutem Hause zu ihm sprach.
»Sie kommen von weit,« fuhr sie fort, »sagt mir der Großvater. Sie reisen durch Thüringen? Sie haben gewiß schon merkwürdigere Dinge gesehen als dieses Schloß. Aber da Sie nun hier sind –«
»Ich danke tausendmal für den gütigen Empfang,« erwiderte Herr von Wulffen. Er hatte plötzlich die Empfindung, als wüßte Fräulein Clorinde nicht, daß er den Auftrag besaß, das Schloß zu kaufen. Sie behandelte ihn wie einen Gast.
Er beschloß, sich zunächst passiv zu verhalten. Sie aber begann sogleich, ihm die Merkwürdigkeiten des Raumes zu zeigen.
»Da sind die Bilder der Ludwige von Frankreich.
Die Möbel hier gehörten schon immer zum Sonneborn. Aber vielleicht interessiert Sie noch das Gebäude? Ich will Sie führen. Es ist alt. Ganz frühe Gotik. Doch das sehen Sie selbst.«
Und Herr von Wulffen ging hinter dem jungen Mädchen durch die Räume des gotischen Schlosses. Er schenkte ihnen nicht sehr viel Aufmerksamkeit, nicht mehr als die Höflichkeit gebot.
Viel mehr fesselte ihn seine junge Führerin. Er dachte, ist es denn möglich, daß dieses Kind mit den schönen, ja fast edlen Zügen und der herben Anmut des Wesens auch diesem unsinnigen Gedanken der Bourbonenabkunft lebt?
Nein, die Gräfin mußte sich täuschen – vielleicht war es doch nur ein Alterswahn des Großvaters.
Clorinde führte den Gast hinunter in den französischen Garten.
»Der Großvater meinte, Sie wollten auch den Garten besehen,« sagte sie und lächelte ein wenig. Dieses Lächeln machte das blasse Gesicht so weich.
»Es ist ein süßes Kind«, hatte die Gräfin von ihr gesagt. Nein, es war ja ein kleines Wunder von Reiz, was da in dem alten Sonneborn lebte. Und Herr von Wulffen sah wiederum nur zerstreut über den französischen Garten hin, denn er mußte das junge Mädchen ansehen, das da vor ihm über die Wege schritt. Und er dachte, wie konnte so etwas hier erwachsen und in der Gesellschaft eines wunderlichen Großvaters und des unsichtbaren Flötenspielers so fein und stolz werden – und so gelassen im Umgang mit einem Fremden, wie wenn sie jeden Tag als Herrin Gäste empfinge?
Und er fragte plötzlich:
»Lebten Sie immer hier, gnädiges Fräulein?«
»Fast immer,« sagte sie. »Nur einmal bin ich einige Zeit in der Schweiz gewesen. Das gute Fräulein, das mich unterrichtete, mußte nach Hause und wollte, daß ich bei ihr bliebe. Aber der Großvater rief mich bald wieder.«
»Sie sind gerne hier? Ist es nicht sehr einsam?«
»O, da ist doch der Garten und sind die Wiesen und ist der Wald. Das bleibt immer neu. Sie wissen das vielleicht nicht so, wenn Sie aus der Stadt sind. Und da ist die alte Bibliothek.«
»Sie lesen gerne?« fragte er und dachte, wie pädagogisch klingt die Frage.
»Ja, von fernen Zeiten lese ich gern. Wie die Völker zogen und die Gedanken erwachten, das ist schön. Und wie dann die Kunst erwachte. Die Kunst, die Steine zu gliedern und schöne Bauwerke zu schaffen.«
»Und schöne Gärten,« sagte Wulffen; »wer legte diesen wohl an?«
»Der Großvater. Er kam sehr jung hierher, kam aus Frankreich. Wir sind Emigrierte« – sie lächelte – »ich meine, der Großvater war Emigrant. Jetzt ist er ja lange ein Thüring, wie mein Bruder und ich Thüringer sind.«
Wulffen stand betroffen. Es war ersichtlich, der Großvater hatte die Enkelin nicht in seinen Plan eingeweiht. Und es wurde Wulffen, als beginge er eine Unwahrheit, wenn er noch länger mit dem jungen Mädchen sprach, ohne seine Absichten kundzugeben.
Er wäre gern noch geblieben und hätte noch mehr von ihr erfahren mögen. Aber er kam sich vor wie einer, der ein Vertrauen enttäuschen will. So verabschiedete er sich mit der Bitte, wiederkommen zu dürfen.
* * *
»Ach, Gräfin, das ist eine schreckliche Sache.« Mit diesen Worten begrüßte Herr von Wulffen die Gräfin am übernächsten Abend.
»Sie sehen mehr geärgert, als erschreckt aus, Herr von Wulffen,« meinte sie. »Aber erzählen Sie mir, wie weit steht nun alles?«
Herr von Wulffen nahm den gebotenen Gartenstuhl.
»Ja, nun habe ich also die Prätendenten, des französischen Throns mehrfach gesprochen. In ihre unsichtbaren Königsmäntel gehüllt, mit den Mienen großer Herren standen sie da und sagten so beiläufig, sie gedächten nach Paris oder Versailles überzusiedeln. Sie bäten, daß morgen der Notar käme.
»Ich habe Aufschub verlangt – aber der Alte zeigte mir lächelnd einen Brief der Prinzessin, die ebenfalls um möglichste Beschleunigung ersucht.«
»Und Sie denken über die Menschen im Sonneborn nun wie ich?«
»Ja, leider,« sagte Herr von Wulffen. »Ein alter Mann, der plötzlich zum Don Quichote wird, ist ein trauriges Schauspiel. Und ein Siebzehnjähriger, der nur schön ist, die Flöte spielt und edle Gesten hat, ach – für Märchen gefällt uns das ja sehr. Aber was soll in Paris aus dem Burschen werden?«
»Ja, das ist ganz verfahren,« sagte die Gräfin. »Und was soll aus der jungen Clorinde werden – das bedrückt mich am meisten.«
Der Schatten einer Befangenheit flog über das Gesicht des jungen Mannes.
»Ich kam auch deshalb zu Ihnen, Gräfin. Die junge Clorinde, wie Sie sagen, weiß von allem nichts. Es wird heimlich vor ihr gehalten. Der Großvater will sie mit der fertigen Tatsache erfreuen und überraschen.«
Die Gräfin hob fast mit einem Ruck das Gesicht.
»Ah, da ahnt der Alte die Vernunft und den Widerstand. Und er will sie nicht zu Worte kommen lassen. Das ist fein ausgedacht. Aber dies wird dem lieben Großvater nicht gelingen. Vielleicht hat doch die Enkelin noch einen Einfluß, wenn sie unterrichtet ist. Da will ich einmal zu ihr gehen.«
»Darf ich Sie den kleinen Weg begleiten, Gräfin?«
Die Gräfin Leyden lächelte halb. Es schien dem jungen Mann ein starkes Anliegen, daß sie sogleich zu Clorinde ging. Er wollte warten und zusehen, daß es sich auch wirklich vollzog.
Sie holte ihren breitrandigen Hut herbei, sie hatte dann auch ein Buch in der Hand, vielleicht als Vorwand zu dem Besuch der kleinen Clorinde.
Und Herr von Wulffen blieb so lange auf dem grünen Wiesenplan des Sonneborns stehen, bis er die Gräfin im Schloß verschwinden sah.
Die Gestirne waren schon lange heraufgezogen, als Wulffen wieder auf der Dorfstraße stand und dem »Herzog August« zuging. – –
Auf seinem Zimmer fand er ein Billett der Gräfin. Sie teilte ihm mit, daß es ihr heute unmöglich gewesen, Clorinde allein zu sprechen, morgen aber müsse sie in der Stadt sein. Sie konnte die Angelegenheit also erst am übernächsten Tag erledigen.
Ja, da war nun nichts zu tun. Wulffen las die Depeschen seiner Auftraggeberin wieder. Er fühlte, er handelte nicht ganz nach deren Wünschen. Aber das verlor an Wichtigkeit. Er dachte, viel notwendiger, als die Prinzessin ein Schloß braucht, muß die Clorinde eine Heimat haben.
* * *
Herr von Wulffen sah vom Fenster aus Bekannte: den struppigen Schimmel, der ihn herauf nach Sonneborn gebracht hatte, und den jungen Burschen, der auf dem Bock des Fuhrwerks saß. Der Wagen bog nach dem Schloß ein, und es dauerte nicht lange, so kam er mit zwei Insassen wieder: dem alten und dem jungen Herrn von Sonneborn. Die fuhren wohl nach der Stadt zum Notar. Es wäre sonst eine so lustige Sache, ein Schloß zu kaufen, dachte Wulffen. Ein altes, verfallendes Schloß in grünen Wäldern zu finden und ihm eine Auferstehung zu geben.
Aber dies hier war eine traurige Geschichte.
Er würde nie wieder hierher kommen mögen; er würde dann immer in untätigem Mitleid an die Kinder dieses Hauses zu denken gezwungen sein, die irgendwo in der Fremde einen dunklen, unsicheren Weg gingen.
Während er aber dies dachte, überlegte er schon selbst einen Weg: hinüber nach dem Schloß. Er sagte sich, als ein gewissenhafter Abgesandter müsse er sich doch noch genauer orientieren, ob denn das kleine Schloß auch wirklich genügend Räume hatte für die gastfreie Prinzessin. Auch war es seine Pflicht als Mensch, der kleinen Clorinde endlich nahezulegen, sie möchte doch den Großvater in der Heimat halten. Am Abend ging es hinüber.
Er stieg die Treppe hinauf und klopfte an die Tür des Bourbonensaals. Die war nur angelehnt und öffnete sich gleitend unter seinen Fingern. So trat Wulffen ein. Niemand war hier. Aber es reizte Wulffen plötzlich, in diesem verlassenen Raum zu verweilen. Es reizte ihn, sich in einen der alten, tiefen Stühle zu setzen und zu warten – – –
Zu warten? Hier stand die Zeit still. Hier lebte nur die Vergangenheit. Die dunklen Schatten, die – immer mehr sich aus Ecken und Winkeln lösend – das ganze Gemach zu erfassen schienen, wurden ihm wie zu Gestalten vergangener Zeit.
Wohl, hier lebten auch Wünsche. Aber diese Wünsche hatten keine Zukunft und keine lebendige Seele. Sie irrten zurück in eine Vergangenheit, die einst ein Schicksal war, ein totes, für immer begrabenes Schicksal, das nur mit Gespensterarmen noch nach Lebenden griff.
Die Toten steigen aus ihren Särgen und führen einen gaukelnden Tanz auf: Masken der Vergangenheit, Zerrbilder des einst Gewesenen. Wer sie berührt und sie umfassen will, wird Staub über seine Hände rieseln fühlen und verwelkte Kränze halten.
So alte Räume dachte Wulffen, mein Gott, was verbergen sie an Schicksalsvollem. Wie viele Menschen haben in ihnen den Tod erlitten, wie viele Wünsche sahen sie kommen und sterben. Das alles geht, aber die alten Mauern stehen noch, stehen und reden.
Auf was warte ich hier? Oh, er wußte es wohl. Er wußte es wohl und wartete durch die rinnende Stunde, bis er den Schritt hörte, auf den er wartete; langsam, leise kam Clorinde durch die anderen Zimmer, deren Türen offen standen, dem Saale zu.
Er lächelte. Er dachte, ich war nun wirklich so eingesponnen in meine Gedanken, daß ich mir einbilde, ich müsse ein altes, schweres Gewand rauschen hören.
Er erhob sich. »Fräulein Clorinde«, rief er. Er sah ihre schmale Gestalt als dunklen Umriß unter der Tür.
»Wie gut, daß es so dämmerig ist«, sagte sie.
»Warum denn?«
»Sie würden mich sonst auslachen. Der Großvater hat so viel gekramt in den Tagen und ein Brokatkleid von einem toten Fräulein von Sonneborn gefunden. Da wollte er, ich müßte es anziehen und ihn heute abend darin erwarten.«
Wulffen hielt ein wenig den Atem an. Nun wurde er in dem seltsamen Kleid erwartet. Und es war ihm wunderlich, daß die junge Clorinde da kam in dem raschelnden Gewand, kam wie die Vergangenheit dieses Hauses, an die er so intensiv gedacht. Und er fühlte es plötzlich ganz anders: die Vergangenheit bleibt ewig jung.
Er sah Clorinde im Dämmern vor sich; sah ihr zartes, bräunliches Gesicht und ihre liebe, leichte Gestalt.
Und er vergaß, daß er mit dem Vorsatz, ernste Dinge zu sprechen, hierher gekommen. Er fühlte nur eine seltsame Erregtheit in sich, die seine Hände zittern machte und das Blut rascher zum Herzen gehen ließ.
»O es ist schön, plötzlich in den leeren Räumen jemand zu finden«, sagte Clorinde unbefangen. »Mit Ihnen kann man gut sprechen. Und ich weiß, Sie haben den Sonneborn auch lieb.«
»Sehr lieb«, sagte er.
Sie raschelte ein wenig mit ihrem Kleid, das in steifen Falten hing. »Ich habe noch nie so etwas Prächtiges an mir gehabt«, lachte sie und setzte sich in feierlicher Haltung auf einen Stuhl.
»Erzählen Sie mir etwas, Herr von Wulffen, aus der Welt draußen –«
»Erzählen Sie mir lieber von Sonneborn, Fräulein Clorinde.«
»Oh,« sagte sie, lebhaft beginnend und dann sanfter werdend, »Sie müßten einmal hier sein, wenn es Winter ist. Wenn alles so im tiefen Schnee liegt und die Nebel der Abenddämmerungen kommen. Da klingen manchmal von den fernen Dörfern herüber die Glocken – klingen über den Schnee hin, wie Rufe durch Dämmerung und Stille.
»Man weiß dann nicht mehr, daß draußen noch die Welt ist und es viele Dinge gibt. Man hört nur die Stimmen von alten Glocken über der schlafenden Erde.«
Wulffen saß wieder in dem tiefen Stuhl.
Er hörte Clorinde sprechen. Er dachte, wie müßte es gut sein, immer einen so feinen, sanften Menschen um sich zu haben. Da ginge in uns selbst das zum Schlafe, was nicht schön und was nicht gut ist. Das wäre, wie die erste Jugend gewesen ist: menschengläubig und bereit zu allem, was die Züge des Edlen trägt.
Und er fühlte sich, als werde er heimgeführt, heimwärts in den Feiertag des Herzens.
* * *
Der Flötenspieler klopfte bei Herrn von Wulffen an und trat ein. Er hatte einen braunen Samtanzug an, wie ihn die italienischen Arbeiter tragen; er machte eine stolze Verbeugung und blickte lächelnd im Zimmer umher.
»Sie werden Ihre Wohnung verbessern, Herr von Wulffen. Mein Großvater läßt Sie um Ihr Kommen bitten, wenn es Ihnen gefällig wäre. Der Notar ist schon da, es soll nun alles aufgenommen werden.«
Herr von Wulffen blickte den jungen Ludwig an.
»Freuen Sie sich denn so sehr, von hier fortzugehen?« fragte er. »Glauben Sie nicht, dem Großvater wird das sehr schwer fallen?«
Ludwig Hébert von Sonneborn lächelte wieder. Er hat dieselbe Gesichtsbildung wie Clorinde, dachte Wulffen, nur einen anderen Ausdruck. Und Haltung besitzt dieser Bursche – er ist doch wirklich ein Freigeborener.
»Mein Großvater wollte doch immer schon nach Paris. Er hat nur gewartet, bis ich nicht mehr so ganz jung war. Man muß doch sein Herz nicht an ein altes Haus hängen, wenn man in einem anderen Land Dinge zu tun hat.«
Daß über diese Dinge Ludwig sehr verworrene Ansichten hatte, wußte Herr von Wulffen. Er folgte ihm daher, ohne weitere Fragen an ihn zu richten.
Der Notar wartete schon. Und es begann eine langwierige Ausschreibung des Inventars.
Endlich sagte der Notar:
»Und nun ist es wohl alles. Ich werde die ganze Sache ins Reine schreiben lassen, dann muß ich die beiden Herren auf meine Kanzlei bitten.«
»Und wann kann das sein?« fragte der Großvater.
»Sehr bald, wenn es nötig ist, morgen; wenn es bis übermorgen Zeit hätte, wäre es mir lieber.«
Der Großvater griff nach seinem Weinglas.
»Stoßen wir an, gratulieren Sie mir. Wenn ein Mann fast sein ganzes Leben fern vom Vaterland gelebt hat und kann endlich heim, dann ist es Glück, meine Herren, Glück.«
Und mit zitternden Händen hob der Alte sein Glas, mit hastigen Gebärden trank er den Wein auf sein Glück.
Herrn von Wulffen tat die lärmende Freude des alten Mannes weh. Er wünschte sich weit weg von diesem Handel.
Und so ging er mit dem Notar aus dem Schloß, verabredete noch einmal den Termin der Kaufsunterzeichnung und ließ dann den Beamten allein in den »Herzog August« gehen.
Er, Wulffen, wollte noch ein wenig im Freien bleiben. Er umschritt die hohe Steinwand, die das Schloß von der Waldwiese trennte – und es reizte ihn plötzlich, über eine halbverfallene Treppe auf den Wehrgang zu steigen. Diese Mauerkrone oben mußte wohl einen Aussichtsplatz bilden.
Wulffen trat näher. Da merkte er, die junge Clorinde saß hier oben. Ihr blasses Gesicht mit den bräunlichen Schläfen war dem Eindringling zugewandt.
»Oh, Verzeihung,« sagte Wulffen, »ich wußte Sie nicht hier. Darf ich ein wenig bleiben?«
Ein Zug von Hochmut, wie er sonst nur reiferen Menschen eigen ist, legte sich über den roten Mund.
»Sie sind ja auch wohl hier schon der Herr,« antwortete Clorinde.
Ihm ward nicht wohl bei diesen Worten. Er fühlte sie wie einen Vorwurf, auch dafür, daß er zu ihr geschwiegen vom Zweck seines Hierseins.
»Ihr Großvater,« sagte er langsam, »will doch fort von hier. Er will nach Paris. Und Ihr Bruder will es auch. Es ist dies nicht gut, ich weiß es selbst. Aber was kann ich tun? Ich mache den Kauf nicht für mich. Sie gehen nicht gerne von hier?« fügte er nach einem Zögern hinzu.
Clorinde schwieg. Sie hatte den Kopf mit der Last lichtbrauner Haare gesenkt.
Eine jähe Welle ging über Albrecht Wulffen hin. Er dachte, dich möchte man behüten und beschützen. Und, um die Stille nicht zu einem erneuten Schweigen werden zu lassen, redete er mit sanfter Stimme weiter:
»Es ist aber auch nicht gut, wenn Sie hier immer in der Einsamkeit bleiben. Für Ihren Bruder ist es nicht gut. Ein Jüngling muß sich doch mit dem Leben messen, und er muß sich die Fähigkeiten erwerben, dem Leben zu begegnen. All dies ist ihm verschlossen.«
Clorinde sah aus. Es kam etwas wie Vertrauen in ihr Gesicht.
»Es wird ihm überall verschlossen bleiben. Seit seiner Kindheit lebt er nur dem Gedanken, daß er ein Bourbone ist. Ich habe nicht begriffen, daß dies ein Lebensverhängnis bedeutet. Ich habe gedacht, es leben viele junge Leute auf dem Lande so wie er, und eine Erinnerung zu haben, ist doch schön. Nun hat die fremde Gräfin mit mir gesprochen. Sie ist sehr gut. Und gewiß weiß sie alles besser, als wir hier es wissen.«
Albrecht Wulffen sah sich plötzlich ganz nahe bei Clorinde stehen.
»Kind,« sagte er, »lassen Sie sich dadurch nicht betrüben. Ihr Bruder Ludwig kann noch sehen und lernen. Man muß ihm nur das wirkliche Leben zeigen. Es ist reicher als die Vergangenheit, und es sich selbst zu schaffen, ist stolzer als einer Idee, an der man gar nicht persönlich beteiligt ist, nachzuhängen.«
»Wir haben keine Freunde,« sagte sie herb. »Das alte Schloß ist unser einziger Freund, und den verraten sie nun.«
Herr von Wulffen sah auf Clorinde.
»Ich bat gestern die Gräfin, doch mit Ihnen zu sprechen, daß Sie vielleicht den Großvater beeinflussen,« sagte er.
»Sie haben dem Großvater abgeredet, Herr von Wulffen,« fragte plötzlich Clorinde.
»So sehr es in meinen Möglichkeiten lag.«
Sie sah ihn nachdenklich an.
»Dann sind Sie gut.«
»Ich bin Ihnen gut,« antwortete er.
»Und Sie können mir doch nicht helfen. Niemand kann da wohl helfen.«
»Wer weiß, vielleicht wird alles anders,« sagte er gegen die eigene Überzeugung, nur in dem starken Wunsch, es möchte so kommen. »Die Gräfin ist Ihnen Freundin. Sie können ihr alles Vertrauen geben. Gehen Sie zu ihr. Tun Sie es. Ich aber will morgen noch einmal mit dem Großvater sprechen, der Verkauf ist ja noch nicht gerichtlich abgeschlossen.«
Sie nickte dankbar. Und er fühlte plötzlich, daß er nun gehen müsse. Ja, es war notwendig, daß er nun ging.
Wie seltsam der Abend war. Ja vielleicht – dieser Flötenton, der in seinem Lockruf wieder durch die Weite klang, macht so traurig.
Und Wulffen konnte plötzlich den Klang der Flöte nicht mehr ertragen. Er lief in einem jähen Bedürfnis nach Menschen hinunter in den Pfarrhof.
Die Pastorin trat ihm entgegen.
»Wie hübsch, daß Sie kommen, Herr von Wulffen. Mein Mann und ich müssen den Abend noch ins Dorf. Und die Gräfin plaudert gerne in den Dämmerstunden. Nun ist sie nicht allein.«
Wulffen fand die Gräfin Leyden in der Fliederlaube; sie gab ihm herzlich die Hand und sagte: »Jetzt wollen wir uns wünschen, daß alles besser ausfällt, als wir denken. Ich bin drüben gewesen und fand den alten Mann ganz beseligt. Er tat sehr geheimnisvoll. Vielleicht hat er ja wirklich noch Verwandte in Paris, noch irgend eine reale Zugehörigkeit.«
»Mir ist nicht wohl bei dieser Sache,« antwortete zögernd der junge Mann. »Ich komme mir vor, als überliste ich den Großvater, trotzdem er es ja war, der seinen Besitz ausschrieb und auf sofortige Abmachungen drängte.
Er sprach noch eine Weile weiter. Sein Sprechen verriet eine fast übergroße Anteilnahme an den Bewohnern des Sonneborns.
Die Gräfin ließ ihn ausreden. Dann sagte sie mit ihrer schönen, weichen Stimme: »Ich habe Freunde in Paris, meine beste Freundin sogar ist für die nächsten Monate dort. Ich werde sie unterrichten und werde es der jungen Clorinde ans Herz legen, zu ihr zu gehen. So brauchen wir für das Kind nicht so sehr zu bangen.«
Wulffen ging spät. Dann stand er unschlüssig vor dem Pfarrgarten.
Der Flieder duftete betäubend durch die Nacht. Und fern, von den Wiesen herüber, zirpten noch die Grillen. Zikadenrufe und Sterne. Kleinstes und Unermeßliches. Und doch eine Einheit. Und die Freude aller, die vor uns gewesen. In solchen Nächten war meine Mutter jung, dachte er, und hat nach den vertrauten Bildern der Gestirne hingesehen, und vielleicht klangen ihr die Töne der Mainacht in eine Sehnsucht. Und alles geht vorbei, um immer wieder zu kommen in unser aller Herzen.
Er fuhr sich über die Stirne. Er fühlte sich so schwach. Und es war wohl schon die Mitternacht.
Wulffen ging durch die Dorfstraße. Aber nicht nach dem »Herzog August« zu. Ehe er recht wußte, was er wollte, stand er vor der Schloßmauer. Und ohne Gedanken trat er durch das kleine Pförtchen ein und war auf dem Wiesenplan, den das Sternenlicht nur schwach erhellte.
Und er horchte. Stimmen hatten ihn hereingelockt – Stimmen, die aus dem erleuchteten Zimmer des ersten Geschosses kamen. Man sah das Licht durch das Blättergewirr schimmern.
Mein Gott, da oben feierten sie ein Freudenfest.
Der Großvater sprach laut und erregt. Und dann kam Gläserklingen. »Singe, Louis, singe doch!« rief der Großvater.
Mit einer etwas rauhen, in der Mittellage gebrochenen Stimme begann der Flötenbläser zu singen:
France adorée
Douce contrée –
Puissent tes fils, te revoir ainsi tous!
Enfin j'arrive
Et sur la rive
Je rends au ciel, je rends grâce à genoux.
Je t'embrasse, oh terre chérie –
Dieu, qu'un exilé doit souffrir!
Mois, désormais, je puis mourir:
Salut à ma patrie.
Wulffen klang das wohlbekannte Lied des Béranger wie eine Trauerklage. Er dachte nicht daran, daß er hier ein Eindringling war, er dachte nicht, daß es sonderbar scheinen mußte, wenn er wie ein Horcher um die Fenster lief. Er trat in den französischen Garten.
Ob sie wohl schläft? Ob Clorinde schläft? Sie sollte nicht das Lied hören, während sie schon den Abschied fühlte, während ihr schon das Heimweh irrt Herzen brannte.
Er ging durch den Garten, die schwarzen Taxuswände entlang. Und er fühlte diesen Garten plötzlich wie etwas Lebendiges. Die Gebüsche wurden wie zu Gestalten, die näher zu kommen schienen, während er es doch war, der sie durchschritt.
Er wußte ja, warum er in den Garten getreten, er wußte, was er erwartet hatte – als er Clorinde fand. Zusammengekauert auf einer steinernen Bank fand er sie, und da wußte er, warum er nicht hatte schlafen wollen in dieser Nacht. Er sah, daß sie weinte.
Und eine Welle floß über seine Seele. »Clorinde,« sagte er.
Sie antwortete nicht. Sie regte sich nicht. Vom Schloß herüber kam Gläserklang. Und durch die Büsche strich der Nachtwind und machte sie erschauern, machte ihren Duft herber und heftiger.
Der junge Mann stand ohne Gedanken. Es war nun gut, daß er hier sein konnte. Es mußte so sein, daß er bei Clorinde war. Und so stark war sein Teilnehmen an ihrem Kummer, daß er meinte, sie müsse es fühlen ohne Worte, sie müsse wissen, daß er hier wartete – – –
Wie lange dieses seltsame Zusammensein gewährt hatte, wußte er später nicht mehr. Und da – da kam es:
Ein schriller Schrei drang plötzlich durch die Nacht. Ein aufstöhnender, grell endender Schrei.
Er kam aus dem Schloß. Er wiederholte sich nicht.
Wulffen sah in das angstverzerrte Gesicht Clorindes.
Sie war aufgesprungen – nun stand sie, den Atem angehalten, horchend. Eine Sekunde lang.
Und dann lief sie, wie ein Schatten gleitend, an ihm vorbei durch die Laubgänge des Gartens. Wulffen folgte ihr. Er dachte nichts bei diesem Laufen. Er fühlte erst, daß er gewußt hatte, was geschehen war, als er oben in dem Bourbonensaal stand.
Da war Wein auf dem Tisch. Kerzen brannten flackernd. Der junge Ludwig stand wie ein Erstarrter und sah mit Augen, in denen das Entsetzen lag, auf den Großvater hin.
Des Großvaters Körper aber lag seitlich über die Armlehne des Stuhles gefallen – das Hemd war aufgerissen, der Mund stand geöffnet wie zu einem Wort: der Großvater war tot. – –
Im Taumel seiner Freude war er nun in ein anderes Land gegangen – in ein Land, das keinen enttäuscht. – –
Und es war – viel später wohl –, daß Wulffen die junge Clorinde in seinen Armen hielt. Es war, daß er in ihr Weinen hinein zärtliche Worte sprach, und daß sein Mund sich zu ihren Haaren herabneigte, wenn er sprach.
* * *
Müde und übernächtig kam Wulffen am anderen Mittag aus dem »Herzog August« wieder ins Schloß, Er hatte sich umgekleidet und ein wenig geruht.
Der Pastor und die Gräfin waren noch in der Nacht herbeigeeilt. »Gott ist gütig,« hatte der Pastor gesagt. »Dieses arme Leben ist befreit – und die Entzauberung blieb ihm erspart.« –
Wulffen trat wieder in den bourbonischen Saal. Friedlich und durch den Tod verschönt und veredelt lag der alte Mann da.
Die Bilder der Bourbonen sahen mit ihren gleichgültigen Gesichtern von den Wänden.
Und die beiden Kinder, des Toten einzige Nachkommen, hatten sich zusammengefunden; sie saßen Hand und Hand, zwei Verstummte – zwei Hilflose, Verwirrte, die sich in der Unbegreiflichkeit dieses Erlebens aneinanderhielten, die zum ersten Male bewußt das gramvolle Bild des Todes sahen.
Und in Wulffens Gesicht kam ein sonderbarer Zug. Er sah nach Clorinde.
Er wußte nicht, daß die Gräfin ihm gegenüber in einer Fensternische gestanden hatte. Sie kam plötzlich auf ihn zu.
»Herr von Wulffen, kann ich etwas mit Ihnen sprechen?«
»Verzeihung, Gräfin, ich sah Sie nicht.« Er folgte ihr erstaunt aus dem Raum. »Die Kinder,« sagte er draußen – »so allein?«
»Der Schmerz will gelebt sein wie die Freude,« antwortete die Gräfin. »Und sie sind ja beieinander. Es ist auch nicht lange, daß ich sprechen wollte, Herr von Wulffen. Aber gehen wir einen Augenblick ins Freie.«
Sie schritten die Treppe hinunter. Dann bog die Gräfin in die kleine Kastanienallee ein, die zu dem Lusthaus führte.
Wulffen trat an die Seite der Gräfin und sah sie fragend an. Sie erwiderte den Blick mit einem Aufleuchten ihrer blauen Augen.
»Lieber Herr von Wulffen, vielleicht sind Sie mir in dieser Stunde böse für das, was ich nun sage – aber Sie werden einmal erkennen, daß es das Richtige ist.« Sie macht eine Pause.
»Und was ist das Richtige, Gräfin?«
Sie reichte ihm die Hand, sah ihn fest und frei an und sagte:
»Lassen Sie Clorinde mir. Sie können Sie bei mir immer finden. Später, wenn es Zeit ist.«
Alfred Wulffen schwieg errötend.
»Ich will das Kind mit mir nach Hause nehmen, sobald es angeht, daß man die Geschwister trennt,« fuhr die Gräfin fort. »Und Sie, mein lieber junger Freund, Sie sollen für den Bruder Ludwig sorgen, es werden sich Wege finden lassen. Melden wir uns als Vormünder für die Kinder.«
Es war dem Verwirrten plötzlich eine Erleichterung, sich aussprechen zu können.
»Woher wissen Sie von mir, Gräfin?« fragte er.
»Daß Ihr Herz an diesen verlassenen Enkeln beteiligt ist.«
»Wir wollen nun für sie denken und sorgen und sie in das Leben bringen. Dabei noch versuchen, ob wir imstande sind, ihnen die alte Heimat zu erhalten.«
»Das ist auch mein Gedanke,« antwortete der junge Wulffen und er beugte sich herunter und küßte die Hand der Gräfin.
Und dann gingen sie miteinander über den grünen Wiesenplan, langsam, schweigend, in Gedanken.