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Inger Holst stand an ihrem Fenster und blickte auf die Straße hinab, die sich grau und traurig zwischen zwei Reihen hoher, einförmiger Häuser hinzog. Der Wintertag war dunkel und farblos gewesen, ohne einen Schimmer von Sonne. Erst jetzt, gegen Abend, zerteilten sich die Wolken ein wenig, und ein matter roter Schein lag über den Nebeln in der Luft.
Nun war es also Abend – und es war gar nicht Tag gewesen, schien es Inger. Es war, als lebe man nicht recht in dieser Dunkelheit. Und heute war der 21. Dezember, der kürzeste Tag des Jahres.
Es wurde Inger stets schwer, über diesen Tag hinwegzukommen. Er barg die traurigste Erinnerung ihres Lebens. Vor zehn Jahren hatte sie jenen Brief erhalten, der ihr aus Amerika die Nachricht von dem Tode ihres Bräutigams brachte. Er war in der Hoffnung dorthin gegangen, für sie beide da ein Heim schaffen zu können. Im fernen Westen hatte er sich angekauft, und es war ihm gut gegangen. Aber die Gegend war ungesund, und Erik Engberg war nach kurzem Krankenlager einem heftigen Fieber erlegen. Ein Gefährte von ihm sandte Inger die Nachricht von seinem Tode.
Mit diesem Tage war ihre Jugend zu Ende gewesen. Das Leben lag seitdem so grau vor ihr, als sei es in ewiges Dezemberdunkel gehüllt. Ihre Eltern waren tot, und sie stand allein in der Welt. Tag für Tag verging mit der gleichmäßigen Arbeit in dem Kontor, in dem sie angestellt war. Sie verdiente gerade so viel, daß sie nicht Not zu leiden brauchte. Doch nie konnte sie die Mittel zu einer kleinen Sommerreise ersparen, nie konnte sie daran denken, aus dem tristen Nörrebro in einen lichteren Stadtteil zu ziehen, in dem sie eine etwas heitere Umgebung, ein Paar grüne Bäume vor Augen hätte. Denn tief im Herzen barg sie trotz aller Enttäuschungen noch immer eine brennende Sehnsucht nach Sonne und Schönheit.
Seltsame Träume hatten im letzten Jahre ihr Gemüt bewegt. Sie hatten wohl schon lange geschlummert, doch erst jetzt hatten sie begonnen, sich zu bestimmten Bildern und Gestalten zu formen. Wenn sie aus dem Kontor nach Hause gekommen war und ihr einsames Abendessen eingenommen hatte, setzte sie sich hin und schrieb. In der ersten Zeit dachte sie nicht daran, daß diese Dinge auch für andere als sie selbst Bedeutung bekommen könnten. Doch allmählich wuchs ihr Selbstvertrauen, bis sie eines Tages Mut faßte und ihre letzte Erzählung an eine bekannte Verlagsfirma sandte.
Nun waren zwei Monate vergangen, und sie hatte noch keine Antwort erhalten. Ihre Hoffnung wurde mit jedem Tage schwächer. Sie sagte sich, daß all ihre Arbeit vergebens gewesen war. Der Traum, der in der letzten Zeit einen Schimmer von Freude über ihr einsames Leben gebreitet hatte, würde wohl bald sterben und erlöschen wie das matte Abendrot, das eben von der Dämmerung verschlungen wurde.
Dezemberdunkel war es nun, und Dezemberdunkel war es auch in ihrem Leben. Sie war 35 Jahre alt, das sollte wohl eigentlich die Mitte des Lebens sein. Draußen in der Natur würde es nur langsam aufwärts dem Licht entgegengehen, doch für sie ging es abwärts, dem Alter und dem Tod entgegen. Wenn sie doch vorher ein wenig leben dürfte!
Aber es half nichts, sich mit diesen unnützen Gedanken zu quälen. Sie mußte nun hinunter, um einige Einkäufe zu ihrer Abendmahlzeit zu machen.
Und gleich darauf stand Inger draußen im Treppenflur, wo die Gasflamme in der durch das offene Fenster wehenden Zugluft flackerte. Eine Frau lag auf den Stufen und scheuerte die Treppe. Sie trug ein schmutziges Baumwollkleid, und die grau gesprenkelten Haare fielen zottig über das scharfe, runzelige Gesicht. Auf der obersten Stufe saß ein Knabe von fünf bis sechs Jahren und knabberte an einer Brotkruste.
Als Inger vorüberging, legte sie die Hand leicht auf das schwarze, krause Haar des Kindes, das mit einem Lächeln in den großen dunklen Augen aufblickte. Es war ein ungewöhnlich schönes Kind mit einem feinen, fremdartigen Äußeren.
Inger empfand eine seltsame Vorliebe für diesen Knaben, der bei Frau Thomsen, der Reinmachefrau, in Pflege war. Vielleicht kam es daher, daß er Erik hieß, wie ihr verstorbener Bräutigam, vielleicht war es auch sein schönes, trauriges, kleines Gesicht, das ihr Herz gewonnen hatte.
»Nun, Fran Thomsen, wie geht's?« fragte Inger die Frau, die den Scheuereimer in die Ecke geschoben hatte, um ihr Platz zu machen.
»Wie kann es einem gehen, Fräulein, wenn man sich von morgens bis abends placken und schinden muß und manchmal auch noch in der Nacht? Mein Mann ist seit vier Wochen ohne Arbeit, und ich muß für ihn und die Göhren und die ganze Gesellschaft allein Essen ranschaffen ...«
Die Frau machte sich in einem Strom von Klagen Luft, und Inger hörte ihr geduldig, aber unwillig zu. Wohl arbeitete die Frau sehr schwer, aber wenn Leute mit sich selbst so großes Mitleid haben, dann ist es schwer, recht mit ihnen zu fühlen.
»Und für den Erik da haben wir im letzten Halbjahr kein Geld bekommen,« fuhr sie fort. Wenn auch jetzt zu Weihnachten keins kommt, so muß er ins Armenhaus. Ich kann nicht auch noch fremder Leute Kinder durchfüttern.«
Inger sah, daß des Kleinen Gesicht einen fragenden, ängstlichen Ausdruck bekam. Sie rief ihn zu sich heran und nahm ein Zehnörestück aus ihrem Portemonnaie. Lauf' zum Bäcker und kauf' dir etwas dafür,« sagte sie.
Eriks schmutzige kleine Hand schloß sich fest um das Geldstück. Er flüsterte ein schüchternes »Danke«, und gleich darauf klapperten die raschen Kinderfüße im vollen Galopp die Treppe hinunter.
»Wer sind Eriks Eltern?« fragte Inger Holst die Frau, als sie allein waren.
»Ja, wer der Vater ist, das kann man nicht bestimmt sagen. Es ist wohl ein Ausländer, ein Musikant oder so einer. Er zog los, ehe das Kind zur Welt kam, und Katrine hat nie einen Pfennig von ihm bekommen für den Unterhalt des Jungen. Die Katrine hat da beim Großhändler an der Ecke gedient, und sie war zu ihrer Zeit ein schönes Mädchen. Als es dann schief mit ihr ging, versprach ich ihr, das Kind ins Haus zu nehmen, wenn sie mir jeden Monat zehn Kronen von ihrem Lohn geben wollte. Es ging auch ein paar Jahre ganz glatt, denn Katrine ist eine reelle Person, aber dann hat sie sich's plötzlich in den Kopf gesetzt, daß sie durchaus und durchum nach Amerika gehen muß. Unter diesen Umständen wollte ich ja eigentlich den Jungen nicht behalten, aber sie versprach mir so alles mögliche – ich sollte vielmehr Geld für ihn bekommen, als bisher, wenn sie drüben eine gute Stelle finden würde. Und in der ersten Zeit kam das Geld auch pünktlich, aber dann war es mit einem Male vorbei. Vielleicht will Katrine sich nicht mehr um den Jungen kümmern – vielleicht ist sie auch gestorben, wer kann's wissen. Aber kommt jetzt zu Neujahr kein Geld, so muß der Junge ins Armenhaus.«
»Armer kleiner Erik!« sagte Inger leise.
Sie stand einen Augenblick in Gedanken versunken. Konnte sie da nicht helfen? Aber nein, sie hatte ja keine vermögenden Freunde, und sie selbst verdiente ja nur das Allernotwendigste für ihren eigenen Unterhalt. Ach, es war hart, so arm zu sein!
Sie hatte der Frau Adieu gesagt, und diese sandte ihr einen, bösen Blick nach. Das feine Fräulein dachte niemals daran, ihr ein paar Schillinge zu geben! Aber den Jungen mit Zuckerzeug vollstopfen, das konnte sie ...
Inger ging die dunkle, feuchte Straße entlang und dachte an den kleinen Erik. Wie schwer doch das Leben war für solch ein armes, heimatloses, verstoßenes Kind. Was half es, daß er schön und sympathisch war, daß er vielleicht Keime zu etwas Großem und Guten in sich trug, wenn diese Keime nie entwickelt werden konnten? Vielleicht würden die Verhältnisse in der Not, dem Unglück, dem Verbrechen in die Arme treiben ... Und er war wie geschaffen, Freude in ein Heim zu bringen.
Wenn Erik Engberg nicht drüben in Minnesota gestorben wäre, könnte sie vielleicht nun einen kleinen Erik haben! Ihr Herz schlug heftig bei dem Gedanken daran. Das Blut schoß ihr in die Wangen, und ein weiches, träumerisches Lächeln verschönte ihre Züge.
Einige Stunden später saß Inger in ihrem Zimmer oben bei der Lampe. Vor ihr auf dem Tisch lag ein Paket Briefe und das Bild eines jungen Mannes. Eriks Briefe und Eriks Bild ... Sie nahm sie stets am 21. Dezember vor.
Die Tränen blendeten ihren Blick, während sie seinen letzten Brief las. Er schrieb so zuversichtlich und hoffnungsfreudig. Es ging vorwärts mit seiner kleinen Farm, und bald würde er herüberkommen, um sie zu holen. Wie glücklich sie gewesen war, als sie diesen Brief erhielt! – Aber das nächste Mal trug das Kuvert eine fremde Handschrift, und noch ehe sie ihn geöffnet hatte, wußte sie, was geschehen war ...
Es klopfte an die Tür, leise und zaghaft. Auf ihr »Herein« wurde sie langsam geöffnet, und des kleinen Erik schwarzlockiger Kopf zeigte sich in der Spalte. In der Hand hielt er einen Brief.
»Ich sollte sagen, daß dieser Brief verkehrt abgegeben worden ist, die Frau aus dem ersten Stock hat mich gebeten, ihn raufzutragen ...«
Inger hatte sofort in der Ecke des Kuverts den Firmenstempel des Verlages erkannt. Mit zitternder Hand ergriff sie den Brief und öffnete ihn. Die Buchstaben tanzten vor ihren Augen. War es möglich – ja, es stand wirklich da: Ihr Buch war angenommen, es sollte im Frühjahr herauskommen, und der Verleger bot ihr ein bedeutendes Honorar an.
Die Freude brach in ihr durch, wie ein Strom im Frühling das Eis durchbricht. Man konnte sie also brauchen in der Welt, man würde ihre Stimme hören! Sie war nicht mehr das überflüssige alte Mädchen, dessen Dasein traurig und unbemerkt verrann. Nun würde ein neues, starkes Interesse ihr Leben erfüllen. Ihre Bücher sollten Brücken bauen zwischen ihr und den Menschen, und die Einsamkeit war vorbei. Geld ... ja, auch das war ein Glück, daß sie unter günstigeren Bedingungen leben konnte. Sie blickte sich in ihrer ärmlichen, engen Kammer um! Ah, eine schöne Umgebung, Licht und Luft und Sonne, und im Sommer grüne Wälder! Das alles waren nicht mehr unerreichbare Dinge für sie ... Und ein Glück, eine grenzenlose Dankbarkeit erfüllte ihr ganzes Wesen.
»Es ist doch für Fräulein?« fragte der kleine Erik von der Tür aus.
Der Knabe – sie hatte ihn völlig vergessen! Sie eilte auf ihn zu und schloß das zarte kleine Geschöpf in die Arme.
»Lieber kleiner Erik, du hast mir einen schönen Brief gebracht. Das Glück hast du mir gebracht, kannst du das verstehen?«
Aber als Inger in die großen traurigen Augen blickte, bereute sie ihre Worte. Nein, der kleine Erik verstand sie nicht, denn er wußte nicht, was Glück ist. Er hatte es niemals kennen gelernt. Sie hob ihn auf und setzte ihn neben sich auf das Sofa.
»Lieber Erik, wenn du dir etwas zu Weihnachten wünschen dürftest, was wolltest du dann wohl am allerliebsten haben?«
Es kam ein wenig Farbe in die bleichen Wangen des Kindes. Er drehte verlegen an einem Knopf seiner Bluse und stammelte:
»Ein großes, richtig großes Schaukelpferd und eine Trompete, darauf zu blasen!«
Inger lächelte. Sie mußte an Frau Thomsens Erzählung denken, daß Eriks Vater wohl »Musikant« gewesen sei. Ob vielleicht Künstlertrieb in dem Kleinen lag ...?
»Du sollst beides bekommen, kleiner Erik! Und was würdest du dazu sagen, wenn du auf dem Lande wohnen könntest, bei einer freundlichen Dame, die sehr gut gegen dich wäre? Bei Schneewetter dürftest du dann in einem Schlitten fahren, und im Sommer in einem großen schönen Garten spielen, der voller Blumen, Kirschen und Stachelbeeren ist. Und schöne neue Kleider würdest du bekommen – und immer genug zu essen. Was sagst du dazu, Erik?«
Inger hatte an ihre Jugendfreundin Thyra Brun gedacht, die mit einem Lehrer verheiratet war und auf einem großen Dorf lebte. Wenn sie eine Kleinigkeit für Erik bezahlte, würde sie Thyra sicherlich veranlassen können, ihn ins Haus zu nehmen. Da würde er es gut haben. Bruns liebten Kinder, und sie besaßen keine.
Inger wußte, daß sie selbst den Knaben nicht behalten durfte; sie konnte ihre Kontorstellung vorläufig noch nicht aufgeben und war also während des größten Teiles des Tages nicht zu Hause. Aber wenn alles gut ging, vermochte sie für ihn zu sorgen und ihm eine gute Erziehung zu verschaffen. So würde sie vielleicht wenigstens ein Menschenleben vor dem Untergange retten. Und sie liebte ja den Kleinen, der ihres Verlobten Namen trug, schon jetzt so sehr. Wenn es ihr gelänge, seine Zuneigung zu gewinnen, so würde ihr vielleicht doch noch etwas von dem Mutterglück zuteil, das ihr versagt war, und das alle Frauen sich erträumen ...
»Ist das wirklich wahr?« fragte Erik, und in seinen gar zu ernsten Kinderaugen entzündete sich ein schwacher Schimmer – eine Ahnung von etwas Lichtem und Schönem, das in sein Leben kommen würde.
»Ja, das ist wirklich wahr, mein Junge! Ich will für dich sorgen, soweit ich kann, das verspreche ich dir. Aber dann mußt du auch versuchen, mich ein wenig lieb zu haben, kannst du das?«
Der kleine Erik sagte nichts. Doch plötzlich drückte er sich fest an Ingers Brust, mit des vernachlässigten Kindes tiefem Drang nach Liebe. Sie nahm ihn auf den Schoß und küßte ihn.
Draußen über der Stadt lag dicht und schwer die Dunkelheit. Und dennoch war der Wendepunkt eingetreten. Ganz langsam, erst völlig unmerklich würde das Licht wachsen, bis die Sonne schließlich Kraft und Wärme bekam und der Frühling anbrach. Inger Holst fühlte, daß auch in ihr Leben das Licht zurückgekehrt war. Das Licht, das in dem Bewußtsein lag, daß sie die Fähigkeit hatte, der Welt etwas zu sein – und in dem Glanz in des kleinen Eriks Augen, dem ersten Schimmer einer gesunden, jubelnden Kinderfreude, die ihre Liebe entzündet hatte.
(Autorisierte Übersetzung aus dem Dänischen von Rhea Sternberg.)