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58
Wer den Feind zu entseelen und sein Besitztum
Zu erbeuten gedenkt, sei früh auf den Beinen.
Der schläfrige Wolf erschleicht kein Wild,
Und der Sieg ist versagt dem säumigen Manne.
59
Erwache, je weniger Werkgesellen
In deinem Dienst stehn, um desto früher,
Um zu schaun, was geschieht in deinem Geschäfte.
Wer den Morgen verschläft, verschlägt sich manches;
Doch flink bei der Hand sein, fleckt die Hälfte
Des die rüstige Arbeit lohnenden Reichtums.
60
Wieviel an Holz für das Viertel-, das Halbjahr
Zu dürren Scheiten, zu Dachschindeln
Genügen möge, genau zu ermessen,
Erachte der Kluge auch nicht kleinlich.
61
Zur Versammlung reite gesättigt und sauber,
Ob dein Rock, dein Gerät auch nicht reich noch fein sei.
Daß dein Schuh nicht schön, dein Beinkleid schäbig,
Dein Schimmel kein Schauroß, – des schäme dich nimmer.
62
Wer zu gelten begehrt als begabt, der vestehe
Zu fragen sowohl als frei zu reden,
Doch höchstens einem Vertrauten enthüll' er,
Was die Rede bezweckt; kein zweiter vernehm' es;
Denn was dreie wissen, das weiß alle Welt.
63
Zu 63. Örn = ὄρνις, steht hier in seiner ursprünglichen Gattungsbedeutung, Vogel, und nicht in der spezialisierten späteren, Adler. Auch ist für letzteren aurn die gebräuchlichere Benennung.
Wie dem Vogel, wenn er ins Meer gefallen
Und nach Atem schnappend den Schnabel aufreckt,
Ist dem Manne zumut, der umringt von der Menge
Zu reden hat, um sein Recht zu erlangen,
Und ihm Wohlgesinnter wenige wahrnimmt.
64
Wem Richtergewalt im Rate zusteht,
Der bediene sich ihrer bedacht und maßvoll.
Auch
er sonst erfährt, unter Feinde geratend,
Daß der Mächtigste selbst seinen Meister findet.
65
Bedächtige Ruhe, im Reden Vorsicht,
Im Freundschaftschließen Verfrühung meiden,
Ist jedem ratsam. Zu rasch dem andern
Offenbartes büßt man nicht selten bitter.
66
Bin ebenso häufig in viele Häuser
Den Freunden zu spät als zu früh gekommen.
Das Bier war bald bis zum Boden getrunken,
Bald noch im Kessel nicht kühl geworden.
Der Gast, dem man zürnt, kommt niemals zurzeit.
67
Dieser und der bedauerte höflich,
Daß es so spät sei und ich schon gespeiset;
Sonst lüd' er mich ein, doch zuzulangen.
In seinem Schornstein hingen zwei Schinken;
Auf diese deutete dienstbeflissen
Der würdige Freund; denn er wußte, zum Frühstück
Hatte ich einen daheim schon verzehrt.
68
Nächst dem Sonnenschein ist dem Sohne der Erde
Das Förderlichste von allem das Feuer,
Sofern Gesundheit ihm nicht versagt ist
Und ein Leben, das lauter und lasterfrei blieb.
69
Ganz ohne Trost zum Tragen der Trübsal,
Der Not und des Leides ist niemandes Los.
Mit wackern Verwandten weiß sich der eine,
Mit trefflichen Söhnen der andre gesegnet,
Mit Schätzen der dritte, und schärfste Bedrängnis
Entschädigt es, Schönes schaffen zu können.
70
Lebendig zu bleiben ist, immer das Beste
Auch in bitterster Not. So mancher Bettler
Konnt' ein Kühchen sich nachmals kaufen.
Aufgehn in Rauch sah ich oft schon den Reichtum
Und draußen drohend den Tod vor der Tür stehn.
71
Auf hurtigem Roß mag reiten der Hinker,
Wer handlahm ist, eine Herde noch hüten;
Noch zur Arbeit taugt und zum Kampf der Taube,
Und selbst der Blinde bleibt doch immer
Brauchbarer noch als der Verbrannte;
Denn zu nichts mehr tauglich ist ja der Tote.
72
Dem Vater frommt der nach frühem Fortgang
Geborene Spätling besser als
kein Sohn;
Denn der Nachkomme nur ist geneigt, ihm den Denkstein
Mit rühmenden Runen am Weg zu errichten.
73
Von 73 ist das Mittelstück verloren gegangen. Ein Rat, wie der von mir in Klammern eingeschaltete, ist als ursprüngliche Verbindung der Fragmente ziemlich sicher anzunehmen.
Entzweite Kämpfer sind Kopf und Zunge,
Und oft ist diese des ersten Verderben.
(Drum zügle die deine und sei nicht zänkisch),
Sonst bist du gewärtig, aus jedem Gewande
Eine feindliche Faust fahren zu sehn.
74
Die Nacht kommt genehm, falls Nahrung an Bord ist;
Denn die Raen des Schiffs muß man rastlos verschieben,
Da die Winde des Herbstes häufig wechseln,
Und währt auch die Fahrt nur fünf Tage,
Doch so manches Mal mehr im Lauf eines Monats.
75
Undenkbar bleibt es dem Dummen, daß Reichtum
Gar oft nur äfft mit schimmerndem Scheinglück.
Wenn der eine reich, der andere arm ist,
So darf doch diesen um dessentwillen
Niemand schon einen Nichtsnutz schelten.
76
Herden sind sterblich, auch hohe Verwandte;
Du selber auch stirbst. Doch unbestattet
Und unzerstört besteht unsterblich
Der gute Ruf, den du redlich errungen.
77
77 ist wieder nur wie Hv. 1–3 unveränderte Variante der vorhergehenden. Den ebenfalls halbgleichen, denselben Gedanken etwas allgemeiner ausdrückenden Schluß habe ich mit 76 verschmolzen.
Alles vergeht, doch unvergänglich
Ist eines: das Urteil über den Toten.
78
Überfüllt einst sah ich die Vorratskammern
Der feinen Söhnchen des fetten Brozen.
Nun wanken sie barfuß am Bettelstabe.
Ein Zucken des Lides lang ist der Zeitraum,
Der in nichts zu zerrinnen genügt dem Reichtum,
Dem in kürzester Frist verlierbaren Freunde.
79
Wenn ein schaler Geck sich Geld ergattert
Oder Mädchenminne, dann schwillt ungemessen
Sein Dünkel auf, und statt bedächtig,
Wird er eben dadurch nur desto dümmer.
80
Wenn du Rat dir holst aus heiligen Runen,
Aus Weisheitsworten der waltenden Götter,
Aus den heilsamen Regeln des höchsten der Redner,
Dann findest du dort als vorteilbringend
Vor allem gerühmt den Rat, zu schweigen.
81
Nach der letzten Stunde lobe den Tag erst,
Nach dem Leichenbegängnis deine Gattin,
Nach bestandener Probe die stählerne Klinge,
Die minnige Maid erst nach der Vermählung,
Das Eis nach Aushalt des Überganges,
Das Bier, nachdem es dir baß bekommen.
82
Fälle den Baum bei förderndem Winde;
Günstiger Brise breite die Segel.
Mit deinem Dirnchen kose im Dunkeln,
Denn die Tageshelle hat tausend Augen.
Der Schild ist zum Schutz gut, das Schiff zur Schnellfahrt,
Das Schwert zum Köpfen, das Mädel zum Küssen.
83
Schlürfe den Met am warmen Kamine,
Eis überschleife mit Schlittschuhn versehn,
Rosse kauf' mager, Messer berostet.
Züchte den Hengst im eignen Bezirke,
Und ziehe den Hund auf deinem Gehöft.
84
Kein Mann vertraue Mädchenworten,
Noch minder dem Gemunkel vermählter Frauen;
Denn in ihrer Brust ward treulos gebrechlich,
Wie zum Scherben der Ton auf der Töpferscheibe,
Und nur tauglich zur Täuschung das Herz geschaffen.
85
Knackendem Bogen, knisterndem Feuer,
Dem Rachen des Wolfs, dem Rufe des Raben,
Der grunzenden Wildsau, dem wurzelfaulen
Schon wankenden Baum, der berghohen Woge,
Dem kochenden Kessel vertraue keiner.
87
Der Kost vom Fleisch eines kränklichen Kalbes,
Dem nach eignem Gedünken handelnden Diener,
Wahrsageweibern, verwundet Gefallnen;
88
Dem Fruchtfeld, von welchem die Ernte fraglich
Der Frost macht, weil es zu früh besät ist,
Wie dem allzu rasch gereiften Kinde,
Dem vorschnelles Wachstum den Witz gefährdet;
89
Dem Brudermörder, wie breit auch der Weg sei,
Auf dem er dir keck entgegenkäme;
Dem Hause ferner, das halb verbrannt ist;
Dem Hengste mit allzu hurtigen Hufen
– Leicht bricht er ein Bein und ist nicht zu brauchen –:
So närrisch sei niemand, genannten Dingen
Zu seinem Schaden Vertrauen zu schenken.
90
Zu lieben ein Weib von launischem Leichtsinn,
Ist ungefähr, wie im Wagen zu fahren
Mit übel gezähmtem und falsch gezäumtem,
Unbeschlagenem Gaul auf schlüpfrigem Eise,
Wie zu segeln bei Sturm mit gebrochenem Steuer,
Wie auf reifglattem Rücken der Berge das Renntier,
Wenn man hüftlahm ist, mit der Hand zu erhaschen.
91
Weil ich
beide geprüft, sei nun ehrlich gebeichtet
Auch der Männer Wankelmut gegen die Weiber.
Wir schmeicheln am schlausten bei schlimmster Absicht,
Und der Falsche verführt auch die Kluge zum Fehl.
92
Mit kostbarem Schmuck und Schmeichelgekose
Bemühe dich klug um die Minne der Maid.
Ihren Liebreiz lob', ihr leuchtendes Auge;
So werbend gewinnt sich der Freier die Frau.
93
Staune nicht an als unverständig
Einen anderen Mann, den die Minne bemeistert.
Ein hübsches Lärvchen läßt gar häufig
Den Toren kalt und betäubt im Kopfe
Des klugen Mannes die klarste Einsicht.
94
Staune drum nicht, wenn unverständig,
Wie das vielen begegnet, Begabte werden;
Denn der Minne mächtige Leidenschaft modelt
Die Besonnenen um in besessene Simpel.