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VII.
Mayerling

An jenem Sonntag, dem 27. Januar 1889, gab Prinz Heinrich VII. von Reuß zur Feier des 30. Geburtstages Kaiser Wilhelms auf der Deutschen Botschaft in der Metternichgasse ein prächtiges Fest. Die kaiserliche Familie hatte sich eingefunden, das Kronprinzenpaar, die Erzherzoge und Erzherzoginnen waren vollzählig erschienen, das diplomatische Korps, die Minister, die hohen Beamten und die Generalität. Ein verwirrendes Bild entfaltete sich unter den Strahlen der kristallenen Luster; die ordengeschmückten Uniformen der Offiziere, die bestickten Fräcke der Diplomaten wetteiferten mit der Farbenpracht und dem Glitzern der kostbaren Abendkleider der Damen, mit dem Funkeln ererbter Schmuckstücke, die nur zwei-, dreimal im Jahre aus den Kassetten genommen wurden; Diademe, Halsketten, Ringe, Anhänger, Ohrgehänge und Armbänder blendeten die Augen. Das Orchester von Johann Strauß spielte seine feurigsten Walzer, man tanzte, man scherzte, schwelgte im Luxus und überließ sich dem Vergnügen, dem Vergessen.

Wer ahnt, daß sich unter den Gästen zwei zum Tode Verurteilte befinden? Knappe drei Tage haben sie noch zu leben und doch sind sie zu dem Ball gekommen. Es ist der Höchste im Range unter allen Anwesenden, Seine Kaiserliche und Königliche Hoheit Kronprinz Rudolf, und das schönste, verführerischeste und auch jüngste Mädchen von allen Geladenen, die siebzehnjährige Baronesse Mary Vetsera, die an diesem Abend ihren Einzug in die große Welt hält. Sie trägt ein blaßblaues Kleid mit gelbem Besatz, einen Halbmond aus Brillanten im Haar, eine Diamantenbrosche an der Brust und am Finger einen Saphirring. Sie ist liebenswürdig, anmutig und gewinnt alle Herzen. Vornehme, reiche Männer würden es als höchstes Glück betrachten, ihr Jawort zu erhalten. Sie aber hat beschlossen, sich dem Tod zu vermählen.

Der Kronprinz befindet sich in fröhlicher Laune. Er lacht, er scherzt, er sagt schönen Damen liebenswürdige Worte. Er spricht auch mit Mary Vetsera, und viele Augen spähen in diesem Augenblick nach den beiden – wegen des dummen Geredes, das im Umlauf ist. Kein Wort kann daran wahr sein! Welche Sicherheit in seiner Haltung, welche unbefangene Anmut in der ihren! Was sprechen sie? Nach belanglosen Komplimenten, auf die sich der Kronprinz so gut versteht, hört man ihn bloß sagen: »Dienstag und Mittwoch ist Jagd in Mayerling.« Nichts weiter. Nein, das Gerede kann nur Unsinn sein. Bloß ein paar Augenblicke hat ihr Gespräch gedauert, dann gehen sie auseinander, um sich im Gewühle des Festes zu verlieren. Wo werden sie einander wiederfinden? Kann man angesichts des Todes solche Unbefangenheit, solche Heiterkeit zur Schau tragen? Ahnen sie beide etwa nicht, was ihnen bevorsteht? Liegt darin die einfache Erklärung ihrer Fröhlichkeit, des Glücks, das aus den schönen hellen Augen des jungen Mädchens strahlt? –

Nein, sie sind nicht ahnungslos. Sie selbst haben ihr Los in das Buch des Schicksals eingeschrieben. Sie werden gemeinsam sterben. Sein Gespräch mit dem Kaiser hat über ihre Zukunft entschieden. Mary hat erst vor wenigen Stunden ein paar Zeilen Rudolfs erhalten, in denen er ihr voll Zärtlichkeit und Liebe, fröhlich fast bei dem Gedanken, dieser Welt und ihrer Verfolgung zu entgehen, seinen Entschluß mitteilt. Im Augenblick denkt sie an nichts weiter, als daß sie, fern von allen Menschen, zwei Tage allein mit ihm verleben wird. Dies genügt, um ihre Züge leuchten zu lassen. In seinen Augen hat sie auch gelesen, daß sie ihm an diesem Abend gefällt, daß er sich danach sehnt, sie in seine Arme zu schließen. Dieser Ball ist wirklich der Höhepunkt des Winters!

Sie tanzt mit dem Grafen Josef Hoyos; seit sie weiß, daß der Kronprinz ihn gerne hat, sieht sie einen Freund in ihm. Sie tanzt auch mit Miguel von Braganza. Er ist ein Vertrauter des Kronprinzen, auch er macht ihr den Hof und würde sie morgen heiraten, wenn sie wollte, und ihr ein fürstliches Leben bieten … Wie beneidenswert ist sie, daß sie so vornehme Bewerber ausschlagen kann! Heute abend will sie nur fröhliche Gedanken.

Eine Stockung unter den Tanzenden. – Was gibt's? Am Arme des deutschen Botschafters macht die Kronprinzessin ihren Rundgang durch die Säle. Wo sie vorbeikommt, beugen sich die Köpfe der Herren, die Damen versinken in den zeremoniellen Hofknicks.

Auch Mary und Miguel von Braganza treten beiseite, um ihre Reverenz zu machen. Lächelnd, grüßend kommt die Kronprinzessin näher. Wie groß, wie plump sie ist. Nach ihrer einzigen Niederkunft sind ihre Hüften so breit geblieben. Mary sieht ihr entgegen. Wie häßlich, wie reizlos sie ist, und wie herzlos muß sie auch sein; sie hat es vermocht, einen Prinzen, der nicht seinesgleichen hat, der die Hoffnung der Völker der Doppelmonarchie ist, zur Verzweiflung zu bringen; sie hat sein Todesurteil unterschrieben. Diese Gedanken zucken Mary durch den Geist und entflammen sie zu wildem Zorn … Die Kronprinzessin ist jetzt nur noch drei Schritte von ihr entfernt und betrachtet sie mit Neugier – mit Verachtung? Herausfordernde Überhebung liegt in dem Blick, mit dem Stephanie das junge Mädchen mustert. Zahllose neugierige Augen im Saale verfolgen diese Begegnung der Frau mit ihrer angeblichen Rivalin. Noch einen Schritt tut sie, und die Damen um Mary beugen ihre Knie, die Herren verneigen sich. Die Augen der Kronprinzessin wandern an Marys Gestalt auf und nieder. Mary Vetsera bleibt hoch aufgerichtet, ihr Körper sinkt nicht zusammen, wie es die Etikette vorschreibt, nicht einmal ihr Kopf neigt sich, stolz hält sie dem Blick der Feindin stand. Die Kronprinzessin am Arme des Botschafters ist weitergegangen. Ein Flüstern läuft im Saal von Gruppe zu Gruppe, dringt in alle Winkel, verbreitet sich unter den Kristallüstern, bildet die Begleitung zu einem fröhlichen Straußschen Walzer, zum Klirren der Champagnerkelche …

 

Zwei Tage später. Winterliche Abenddämmerung; Wolken, die der Sturm über den grauen Himmel jagt; an den Berglehnen die Silhouetten kahler Bäume, darüber im Westen ein Streifen rosa Lichtes. Weicher Schnee lastet schwer auf den Zweigen der Tannen. Neben einer Berglehne liegt ein Häuflein niederer Gebäude; der Blick schweift von hier über das Tal, in dem sich einige Häuser um eine hochgiebelige Kirche drängen, dahinter, so weit das Auge reicht, über bewaldete Bergrücken. Die sanft ansteigende Straße führt zu einem Schloßtor, das in der Mitte eines ebenerdigen Baues liegt, an den ein einstöckiges Gebäude anschließt. Gebäude und Garten sind von einer hohen, weißgetünchten Mauer umgeben. Das Jagdschloß Mayerling, Besitz des Kronprinzen.

Rudolf Herbst 1888

Rudolf Herbst 1888

Rudolf und Mary folgen dem Pfad, der sich von der Heiligenkreuzerhöhe durch den Wald nach Mayerling schlängelt. Sein Arm liegt in dem des jungen Mädchens. Ihr ganzes inneres Verhältnis drückt sich darin aus: er führt sie wohl, doch gleichzeitig stützt er sich auf sie. Tiefe Stille ist ringsum, die weder von den dumpfen Schlägen eines Spechtes am Stamm einer Buche gestört wird, noch von seinem heiseren Ruf, wenn die Näherkommenden ihn zur Flucht treiben. Der Pfad ist recht steil; Mary bleibt ermüdet stehen.

»Ich bin schon außer Atem«, sagt sie und greift nach Rudolfs Hand, die sie auf ihr Herz legt. Der Kronprinz fühlt durch den Ottermantel, den sie trägt, die raschen Schläge. »Ich möchte mich so gerne verirren, Rudolf, aber mit dir ist das unmöglich. Jeder einzelne Baum scheint dein Freund zu sein, der über uns wacht.«

Sie schreiten weiter. Sie fühlen keinen Zwang zu sprechen. Ihre stummen Gedanken erschrecken sie nicht, sie haben nichts voreinander zu verbergen. Mary freut sich des winterlichen Waldes, von dem sie schon so lange geträumt hat.

Es ist dunkel geworden, die Nacht bricht herein, sie müssen eilen. In der Ferne blinken vereinzelte Lichter, das Dorf. Nach wenigen Schritten treten sie durch das Tor des Jagdpavillons. Jagdtrophäen zieren die Einfahrt und die kleine, einfach möblierte Halle.

Ein kleiner Salon dient als Speiseraum; Jagdtrophäen und Stiche hängen auch hier an den Wänden. Blumen stehen in allen Ecken, auf allen Tischen; ein Meer von Blumen! Niemals ist Mary so verschwenderisch beschenkt worden!

Rudolf führt sie die schmale Treppe hinauf. Hinter einem kleinen Vorraum liegt das Schlafzimmer. Ein einfaches Bett, ein mit Büchern und Zeitschriften bedeckter Tisch in der Mitte, ein zweiter Tisch mit Stühlen ringsum in der Ecke und ein Schrank bilden die Einrichtung. Daran schließt ein Ankleideraum.

»Das ist die ganze Pracht«, sagt er entschuldigend. »Gefällt es dir hier?«

Sie fällt ihm um den Hals, um ihr Erröten zu verbergen.

Bloß mit ihrem Handtäschchen, als ginge sie zu Besorgungen aus, hat Mary ihr Haus verlassen. Im Ankleideraum findet sie alles sorgsam vorbereitet, was sie nötig hat: Nachtwäsche, ein schönes Hauskleid aus weißen Spitzen und Flor und das entzückendste Paar Hausschuhe mit Schwanenbesatz. An alles hat Rudolf gedacht! Sie küßt ihn noch einmal, selig darüber, daß er sie zum Abendessen so schön haben will.

Vor diesem Abendessen mit Rudolfs Jagdgefährten, dem Prinzen Philipp von Coburg und dem Grafen Hoyos wäre sie zu andern Zeiten zurückgeschreckt. Doch sie und Rudolf sind jetzt schon fern der Welt, ihre Gedanken schweben schon in einem Reich, in dem es weder Etikette, noch Vorurteile gibt. Sie hört auch vor den andern nicht auf, ihren Geliebten zu duzen. Begreift denn keiner von allen, die sie so miteinander sprechen hören, daß sie an der Stelle des Grabes stehen?

Das Abendessen verläuft voll Heiterkeit. Bratfisch, den man hereinruft, pfeift seine bekannten Lieder so kunstvoll und mit so viel Humor, daß Mary erschöpft vom Lachen ist.

Alles geht früh zu Bett, denn am nächsten Morgen soll zeitig aufgebrochen werden; Rudolf will mit seinen Freunden jagen. Leider verspricht der Sturm, der über die Berge weht, kein gutes Wetter. –

Nach tausend Zärtlichkeiten erlebt Mary zum erstenmal die Seligkeit, in Rudolfs Armen einzuschlummern. Sie erwacht erst spät am Morgen und findet ihn noch neben sich. Überraschung, Entzücken, daß er nicht auf die Jagd gegangen ist. Er will sie nicht für einen Augenblick verlassen. Draußen jagen Schnee und Regenschauer über die ächzenden Bäume. Er scherzt mit ihr, er ist übermütig, er hänselt sie. Wie glücklich sie ist, ihn so zärtlich, sorglos und froh zu sehen!

Nach dem Mittagessen heitert sich das Wetter auf, und sie gehen wieder zusammen in den Wald. Rudolf ist ruhig, die Falte zwischen seinen Brauen ist verschwunden. Nur die Vergangenheit mit ihren schweren Stunden hatte ihm Furcht gemacht; jetzt aber sind seine Augen, gleich den ihren, nur noch in die Zukunft gerichtet. Einige Augenblicke weilen ihre Gedanken noch bei allem, was er aus Liebe zu ihr aufgibt … Sie erinnert sich an die edelsteinbesetzte Krone aus schwerem Gold, an die Krone Karls des Großen, die sie einmal in der Schatzkammer bewundert hat. Sie wirft einen scheuen Blick auf Rudolf, und denkt sich die tausendjährige Krone auf dieses geliebte Haupt. »Wie schön er wäre! Und meinetwegen …!«

An ihr eigenes Opfer denkt sie nicht, nicht an die zarte Blüte ihrer Jugend, nicht an die Schrecken der so nahen letzten Stunde. Der Gedanke beglückt sie, Rudolf auf dem Weg, zu dem er sich entschlossen hat, begleiten zu dürfen. Könnte sie ihn denn diese Reise, von der man nicht wiederkehrt, allein antreten lassen? Das Bewußtsein ihrer Gegenwart macht ihn glücklich …

Sie fürchtet noch die Stunde der Dämmerung und läßt schnell Lampen bringen.

»Ich will einen Brief schreiben«, spricht er.

Sie blickt voll Unruhe auf ihn. Hat er noch immer Geschäfte zu erledigen? Klammert er sich an ein Leben, das ihn flieht? Er versteht ihre Gedanken, ohne daß sie gesprochen hätte.

»Nur an meine Mutter … Ganz nah von hier, in Alland liegt ein Friedhof zwischen den Wäldern. Dort soll man uns Seite an Seite ruhen lassen. Und alle die Liebenden, denen die Welt ihr Glück verbietet, werden zu unserm Grabe pilgern, um uns Blumen zu bringen und zu beten. Stets werden wir unter Blüten ruhen, und geflüsterte Liebesworte werden in unsern Schlummer dringen.«

Auch Mary schreibt Briefe. An ihre Mutter, an ihre Geschwister. Sie bittet um Verzeihung, daß sie so scheidet. Ihr Schicksal und das Rudolfs sind für ewige Zeiten aneinandergekettet. Aber die Welt läßt sie nicht zur Ruhe kommen. Sie schreibt zärtliche, kindliche Worte. Ihren Bruder ermahnt sie, nicht zu weinen, und verspricht ihm, aus dem Jenseits über ihn zu wachen.

Dann wird das Abendessen aufgetragen; Hoyos allein nimmt daran teil, der Prinz von Coburg ist nach Wien zurückgekehrt, um Rudolfs Abwesenheit bei einem Familiendiner in der Hofburg, bei dem er erwartet wird, zu entschuldigen.

Endlich ist es Nacht. Sie halten sich lange Zeit umschlungen. Sie sprechen nicht, sie flüstern keine der Zärtlichkeiten, die Liebende für einander haben. Sie weiß, was Rudolf beschlossen hat. Sie ist sterbensmüde. In die Arme ihres Geliebten geschmiegt, seufzt sie:

»Oh, wenn ich doch nie wieder erwachen müßte!«

Der Schlaf küßt ihre halbgeschlossenen Lippen. Voll Vertrauen, wie ein Kind, schlummert sie. Nacht um sie, Nacht um Rudolf. Mary träumt und lächelt. Sie hört nicht das erstickte Seufzen an ihrer Seite. Sie hört auch nicht das gedämpfte Geräusch einer Lade, die geöffnet wird, das Knacken eines gespannten Hahnes … Sie sieht nicht, wie sich der König der Schrecken heranschleicht. –

 

Der erste Revolverschuß weckte Loschek, dessen Zimmer nicht weit von dem seines Herrn lag. Im Halbschlaf wußte er nicht, von wo der Schuß kam. Vielleicht ein Jäger, draußen im Wald … Doch er stand auf, um nachzusehen. Im Augenblick, als er den Vorraum betrat, der neben dem Zimmer des Kronprinzen lag, ertönte hinter dessen Türe ein zweiter Schuß. Loschek lief hin, um die Türe zu öffnen; sie war versperrt. Indessen kam Hoyos und gemeinsam drückten sie die Türe ein.

Ausgestreckt auf dem Bett ruhte Mary Vetsera, von Rosen bedeckt. Der Tod hatte sie im Schlaf überrascht, sie hatte keine Bewegung getan.

Quer über das Bett lag Rudolf, ehemals Kronprinz von Österreich-Ungarn; ein gegen die rechte Schläfe abgefeuerter Revolverschuß hatte seinen Schädel grauenvoll zerschmettert.


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