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V.
Ein Mädchenherz

Mary dachte an den Kronprinzen. Sie war bisher keinem Mann begegnet, der ihr Ideal eines Helden in gleicher Weise verkörpert hätte. Alle Züge, mit denen sie ihr Traumbild geschmückt hatte, fand sie in ihm vereint. Er war schön, er war klug, mutig und gebildet, ritterlich und überlegen; obwohl das Vorbild eines bezaubernden Gesellschafters, fühlte er sich auch in der Einsamkeit der Wälder wohl, wo er oft vierzehn Tage lang, nur von einem Jagdhüter begleitet, nichts als Waidmann war; er liebte wohl Frauen und Wein, doch er nahm es auch mit seinen Pflichten genau. Und schließlich war er der kaiserliche Prinz, nach dem Monarchen der erste Mann bei Hof, im Staat. Seine Tugenden gewannen dadurch höheren Wert, denn er hätte ja auch, wie so viele andere Erzherzöge, ein untätiges und von Skandalgeschichten erfülltes Leben führen können.

So formte sich Mary ein bestechendes Bild des Kronprinzen. Wer konnte mit ihm verglichen werden? Wie minderwertig erschienen neben ihm alle Männer, die sie im Hause ihrer Mutter traf! Und doch gehörten sie den besten, den höchsten Kreisen der Wiener Gesellschaft an.

Um das Bild zu ergänzen, das sie sich von ihm machte, begann Mary bei ihren Freunden über ihn Umfrage zu halten. Rudolf bildete gerade damals den Mittelpunkt allen Stadtgespräches. Es gab keine Gesellschaft, in der nicht von ihm die Rede war, kein Tag verging, an dem nicht eine neue – wahre oder erfundene – Anekdote über ihn in Umlauf gesetzt wurde. Von allem, was die Zufälligkeiten der Unterhaltung ihr zutrugen, nahm Mary aber nur das in sich auf, was ihr die Möglichkeit gab, das Bild dieses Mannes zu verschönern. Häßliche oder verleumderische Bemerkungen schienen ihr Ohr nicht zu erreichen. So sammeln die zarten Wurzeln eines Schößlings aus dem Boden, der ihnen Nahrung gibt, nur jene Säfte, die ihnen nützlich sind und das Wachsen des Baumes sichern.

In der Art, wie sie ihre Erkundigungen einzog, zeigte sich Mary sehr listig; sie ging mit äußerster Vorsicht zu Werke, denn sie wollte nicht, daß jemand ihr Geheimnis durchschaue. Was hatte sie zu verbergen? Noch nicht das mindeste. Wer ihr gesagt hätte, daß sie auf dem besten Wege sei, sich in den Kronprinzen zu verlieben, dem hätte sie ins Gesicht gelacht. Er zog sie an, er war ihr Held – weiter nichts. Wie schön war es, an ihn zu denken, von ihm zu träumen! Die Stunden, die sie damit verbrachte, waren ihr die kostbarsten des ganzen Tages. Sie war sich gar nicht im klaren darüber, daß gerade in ihrem Wunsch, Gefühle geheimzuhalten, die ihr so harmlos und selbstverständlich erschienen, der Beweis lag, daß diese Gefühle gar nicht mehr so unschuldig waren, wie sie selbst meinte.

Traurig machten sie Rudolfs viele Reisen. Mußte ihn denn sein Vater unaufhörlich in alle Kronländer der Monarchie schicken? Kaum hatte man erfahren, daß er aus Budapest zurückgekehrt sei, war er schon wieder auf dem Weg nach Prag. Inspizierungen riefen ihn nach Lemberg und in die Bukowina; Jagden wurden ihm zu Ehren in Böhmen und Tirol veranstaltet. Man war kaum imstande, alle seine Fahrten zu verfolgen. Oft erfuhr sie zu ihrem Schmerz, daß er Wien wieder verlassen hatte, ehe sie noch gewußt hatte, daß er überhaupt zurückgekehrt sei. Oft auch waren seine Reisen ganz geheimnisvoll, selbst den Vertrautesten verborgen, und die Zeitungen meldeten bloß eines Tages, daß Seine Kaiserliche und Königliche Hoheit nach kurzer Abwesenheit wieder in Wien eingetroffen sei. Mary schien es, als gäbe es nichts als Abwesenheiten, denn es war ja nicht bloß Neugierde, die sie so danach forschen ließ, ob er in Wien weilte; ihre vorsichtigen Fragen entsprangen dem geheimen Wunsch, ihn wiederzusehen. Sie suchte ihn bei den Rennen, in seiner Loge in den Hoftheatern, bei ihren Spaziergängen im Prater. Sobald sie wußte, daß er in Wien war, litt es sie keinen Augenblick im Hause. Welche Findigkeit mußte sie aufbieten, um von ihren Onkeln oder von Miguel von Braganza unauffällig zu erfahren, zu welchen Stunden die Wahrscheinlichkeit am größten wäre, ihn im Prater zu sehen! Zu solchen Zeiten staunte ihre ahnungslose Mutter über ihre Ruhelosigkeit. Tägliche Ausfahrten in den Prater, zwei- oder dreimal wöchentlich Besuch der Oper – es wäre der leidenden Dame fast zu viel geworden, wenn sich ihr mütterliches Herz nicht an den Triumphen Marys gesonnt hätte.

 

Wenn Mary sich darüber klar wurde, wie sehr sich ihre Gedanken mit Rudolf beschäftigten, schalt sie oft sich selbst. Der erste Blick, den sie in die Zeitung warf, galt den kurzen Hofmeldungen. Sie wütete über die vielen Reisen nach Budapest, bei denen der Kronprinz von seiner Gemahlin begleitet wurde. Rudolfs Gattin! Mary hatte nichts für diese plumpe Bäuerin mit dem matten gelben Haar und den kalten Augen ohne Wimpern und Brauen übrig; selbst ihren porzellanweißen Teint ließ sie nicht gelten. Sie wußte, wie jeder in Wien, daß Rudolfs Ehe nicht die beste war. Wer trug die Schuld daran? Stephanie natürlich, diese vierschrötige Belgierin ohne Geist und ohne Reize. Unverdient war ihr das beneidenswerte Los zugefallen, die Gattin des bezauberndsten Mannes der Monarchie zu werden, und sie verstand es nicht, ihn glücklich zu machen! Mary träumte sich einen Augenblick an ihre Stelle. Mit welcher Sorge hätte sie nicht einen solchen Gatten umgeben, welche Zärtlichkeit hätte sie für ihn bereitgehalten! Abends, wenn ihre Gedanken um ihn kreisten, fand sie keinen Schlaf. Rudolf – in ihren Selbstgesprächen nannte sie ihn nie anders – war bei ihr, sie plauderte mit ihm, sie schmiegte sich an ihn …

 

Während eines Zwischenaktes in der Oper, als Mary und ihre Mutter im Foyer des ersten Ranges mit ein paar Freunden plauderten, kam der Kronprinz mit seiner Gemahlin gerade auf sie zu. Die Damen hatten eben noch Zeit, ehrfurchtsvoll zur Seite zu treten. Rudolf streifte Mary fast im Vorbeigehen, doch im gleichen Augenblick mußte er, um eine Frage der Kronprinzessin zu beantworten, dieser sein Gesicht zuwenden. Er hatte Mary nicht angesehen. Hatte er sie vorher bemerkt? Später versuchte Mary, sich diese Frage zu beantworten, doch im Augenblick selbst war sie ganz betroffen darüber, wie schmerzlich der unerwartete Anblick des Kronprinzen an der Seite seiner Gemahlin ihr Herz zusammenzucken ließ. Sie hatte die beiden noch niemals zusammen gesehen. Natürlich hatte sie gewußt, daß er verheiratet war, aber diese Tatsache war bisher kaum in ihr Denken gedrungen; erst jetzt wurde sie ihr bewußt, sehr schmerzlich bewußt.

Es war der erste Opernabend, den sie, obwohl »Er« im Saale war, traurig verbrachte.

 

In der ersten Zeit hatte Mary sich damit begnügt, den Kronprinzen in den Mittelpunkt ihres Denkens zu stellen und ihn mit allen Tugenden zu schmücken. Bald aber versuchte sie Antwort auf die Frage zu finden, welchen Eindruck sie wohl auf ihn gemacht hatte. Sie konnte nicht daran zweifeln, daß er sie damals bei den Rennen bemerkt, daß sie ihm vielleicht gefallen hatte. Doch Zweifel bedrückten sie. »Ja, es ist wahr, daß er mich angesehen hat«, sagte sie zu sich selbst, »doch nur, weil er mich zum erstenmal erblickte. Er kennt ganz Wien, und ich mußte ihm auffallen, weil er nicht wußte, wer ich bin. Jener lange Blick von ihm war gar nicht der Ausdruck von Bewunderung, war vielleicht nur Neugierde. Ich bin ja noch zu jung, was könnte er an mir finden …«

Dann gab es wieder Augenblicke, in denen sie überzeugt war, er habe sie hübsch gefunden. »Vielleicht ist es doch richtig, daß ich schön bin und gefalle, wenn alle Herren, die zu uns kommen, es behaupten. Aber wieviel Frauen gibt es in Österreich, die schöner sind als ich, und die das unsagbare Glück haben, in seine Nähe gelangen, mit ihm sprechen zu dürfen. Täglich sind solche Frauen um ihn; mich hat er längst vergessen. Er wird mich nicht einmal erkennen, wenn wir nächstens einander begegnen.«

So quälte sie sich. Sie wußte nicht, daß solche Zweifel, solche Unruhe einer jungen Liebe die erste Nahrung geben und daß in ihrem Herzen ganz sachte ein Funken glimmte, dessen ausbrechende Flamme sie bald überraschen sollte.

So verging fast ein ganzer Monat. Der Kronprinz war auf Reisen; wenn er in Wien weilte, bekam sie ihn nicht zu Gesicht. Da erfuhr sie Ende April, daß im Burgtheater für den 1. Mai eine Hamlet-Vorstellung angesetzt war. Der Kronprinz hatte sein Erscheinen zugesagt. Mary bestürmte ihre Mutter, Plätze zu bestellen.

»Hamlet ist aber ein trauriges und langes Stück«, meinte die Baronin. »Legst du wirklich so viel Wert darauf? Ich werde mich zu Tode langweilen.« Aber sie hatte Mary noch nie einen Wunsch abgeschlagen und ließ sie eine Loge bestellen.

Am Abend der Vorstellung brauchte Mary viel länger als sonst, um sich schön zu machen. Nach sorgsamer Überlegung entschied sie sich für ein ganz einfaches Kleid aus weißem Musselin, in dem sie bezaubernd aussah. Die Loge, die sie selbst gewählt hatte, war von der des Kronprinzen nicht allzu weit entfernt. Er und seine Gemahlin erschienen etwas verspätet, als der Zuschauerraum schon im Dunkel lag und Hamlet auf der Bühne eben den Geist seines Vaters beschwor. Zu Beginn des ersten Zwischenaktes hielt ein lebhaftes Kommen und Gehen die kronprinzliche Loge in Bewegung. Mary brachte es zuwege, fast unausgesetzt hinüberzublicken, ohne daß ihre Umgebung etwas davon bemerkte. Plötzlich wandte sich der Kronprinz, der in seiner Loge bis dahin mit dem Rücken zum Zuschauerraum gestanden hatte, herum, und ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, als hätte er im voraus gewußt, wo er sie zu suchen hatte, fiel sein Blick sofort auf sie. Wie eine Botschaft leuchtete es aus seinen Augen, unverhüllt verrieten sie seine Bewunderung und auch die Freude des Wiedererkennens. Ja, all dies drückte sein Blick aus, und damit er ja nicht mißzuverstehen sei, begleitete ihn der Schimmer eines lächelnden Grußes, der aber gleich wieder verschwand.

Dies war zu viel für Mary, sie fühlte eine solche Glut in ihre Wangen steigen, daß sie von ihrem Fauteuil aufsprang, ihr Taschentuch an den Mund preßte, als müßte sie einen plötzlichen Hustenkrampf ersticken, und in den kleinen Vorraum im Hintergrund der Loge entfloh. Hier überhäufte sie sich trotz ihrer Freude mit den größten Vorwürfen: »Er hat mich nicht vergessen, er hat mich wiedererkannt, aber er muß mich für einen ganz dummen Backfisch halten, der nichts anderes versteht, als rot zu werden.«

Im Laufe des Abends gewann sie wieder einiges Selbstvertrauen. Es ergab sich aber keine günstige Gelegenheit mehr, um Blicke zu tauschen. Mary hatte viele Freunde und Verehrer im Theater und wurde in den Zwischenakten geradezu belagert. Drüben war der Kronprinz für längere Zeit aus seiner Loge verschwunden. Auf der Bühne begann Hamlet Ophelia zu martern; voll Teilnahme erlebte Mary das traurige Los dieses Mädchens mit, dessen Liebe einem Prinzen galt. Dann aber war es Hamlet selbst, dessen Schicksal ihr Herz rührte. Sie entdeckte, daß der Darsteller des Hamlet, dessen männliche Schönheit berühmt war, dem Kronprinzen ähnelte, und bald war es nur noch Rudolf, den sie unter der Maske des dänischen Prinzen leiden zu sehen meinte. »Er ist so unglücklich«, sprach sie zu sich, »und hat niemand, der ihn tröstet.« Ihr Herz krampfte sich zusammen und sie beweinte das tragische Geschick Hamlets-Rudolfs.

Während des letzten Zwischenaktes begegnete ihr Blick noch einmal dem ihres Helden. Ohne daß sie sich dessen bewußt war, strahlten ihre Augen in tiefster Zärtlichkeit.

 

Manchen Tag verlebte sie in der unvergeßlichen Erinnerung jenes Abends. Das Lächeln auf den Lippen des Kronprinzen hatte ihr das Paradies erschlossen. In dem Blick, der von ihm zu ihr gewandert war, hatte etwas Zarteres und Innigeres gelegen, als Worte jemals hätten ausdrücken können. War ein solches Übermaß an Glück zu ertragen? Doch die Tage vergingen, und sie bekam Rudolf nicht wieder zu Gesicht. Alles schien jetzt zu mißlingen, selbst der Wettergott schien sich gegen sie verschworen zu haben; die Tage waren kühl, die Baronin weigerte sich, in den Prater zu fahren. Mary war schon der Verzweiflung nahe. Eines Vormittags aber begegnete sie ihm doch, und sogar zweimal. Er war zu Pferd, sie fuhr mit ihrer Mutter und Schwester im Wagen. Ganz langsam ritt er in der Hauptallee des Praters an ihnen vorbei. Da die Baronin wohl dem Kaiserpaar, niemals aber ihm selbst vorgestellt worden war, grüßte er die Damen zwar nicht, aber er blickte Mary mit derselben zärtlichen Bewunderung an wie damals im Burgtheater. Und wieder war sie ganz verwirrt und fühlte sich tief erröten. Ihre Erregung wuchs bei dem Gedanken, daß ihre Mutter etwas davon bemerken und sie ausforschen könnte; der Baronin fiel glücklicherweise nichts auf. Als die Damen auf dem Rückweg nochmals durch die Hauptallee kamen, und ehe noch Mary ihre Fassung ganz wieder gewonnen hatte, begegneten sie dem Reiter ein zweites Mal. Wieder blickte er das junge Mädchen an, und wieder wurde sie rot. War es bloß Zufall, daß er ihren Weg ein zweites Mal kreuzte? Sie neigte zu der Hoffnung, daß es sein Wunsch gewesen war, sie noch einmal zu sehen.

Gräfin Larisch

Gräfin Larisch

Am Tage darauf wiederholte sich das gleiche Spiel. Mary strahlte vor Entzücken. Ihre Mutter und ihre Schwester sprachen in schmeichelhaften Worten von dem Kronprinzen. So durfte auch sie, ohne sich zu verraten, ihre Bewunderung aussprechen.

Nach Hause zurückgekehrt, begann Mary ernsthaft zu überlegen. Konnte sie noch daran zweifeln, daß dieser liebenswerte Prinz Freude daran fand, sie zu sehen? Warum nur wurde sie jedes Mal so rot, wenn er sie anblickte? Was mußte er wohl von ihr denken? Allerdings, sie vergötterte ihn, aber war das ein Grund, um jede Selbstbeherrschung zu verlieren? Ihr Herz war doch schließlich unbeteiligt – so meinte sie zumindest.

Um sie eines Bessern zu belehren, mußten äußere Umstände in ihr Leben eingreifen.

 

Seit längerer Zeit schon hatte die Baronin den Entschluß gefaßt, den Sommer mit ihren Töchtern in England zu verbringen. Der Plan war nicht plötzlich aufgetaucht, man hatte ihn in den Salons der Salesianergasse schon öfter besprochen. Doch jetzt rückte der Tag der Abreise näher. Frau von Vetsera, die in London viele Freunde besaß, wollte zur »season« dort eintreffen. Später wollte sie dann einige Zeit auf den Landsitzen befreundeter Familien und den Rest des Sommers, wie alljährlich, in ihrem Pachtschloß Schwarzau bei Neunkirchen verbringen. Man schrieb schon bald Ende Mai, der genaue Tag der Abreise sollte festgesetzt werden.

Jetzt erst wurde dieser unbestimmte Plan für Mary zu einer bedrohlichen Tatsache, mit der sie zu rechnen hatte. Sie fühlte, daß es ihr unmöglich war, Wien jetzt zu verlassen. Denn Wien zu verlassen, auch das wurde ihr nun erst vollständig klar, bedeutete für sie: Trennung vom Kronprinzen. Er war ihr einziger Lebenszweck. Ihre ganzen Tage verbrachte sie damit, an ihn zu denken, die kleinsten Umstände ihres Zusammentreffens in ihrem Gedächtnis frisch zu erhalten, sich schon im voraus an dem Glück kommender Begegnungen zu erfreuen. Er allein erfüllte ihr Denken, und der Schmerz, den sie jetzt bei der Möglichkeit empfand, ihn so lange nicht wiederzusehen, offenbarte ihr, wie sehr auch ihr Herz von ihm erfüllt war.

Aber diese Entdeckung machte sie nicht niedergeschlagen.

Und doch kannte sie ihn, den sie jetzt bewußt liebte, nur vom Sehen. Die Hindernisse, die sie von ihm trennten, schienen unüberwindlich. Und was konnte sie schließlich, selbst wenn es diese Hindernisse nicht gegeben hätte, von einem Mann erwarten, der zum Herrscher berufen und – verheiratet war? Nur Träume voll törichter Hoffnungen und ein Leben voll schweren Leids! Zu alledem bot ihr die strenge Etikette des Wiener Hofes wenig Aussicht, ihm jemals vorgestellt zu werden. Alles dies war dem sechzehnjährigen Kind wohl bewußt. Doch nur eines zählte für sie: sie liebte den Mann, der von allen Männern der Welt der Würdigste ihrer Liebe war; ihr einziges Glück und das größte, das sie sich ausmalen konnte, bestand darin, ihm zwei- oder dreimal im Monat zu begegnen, ihn aus der Ferne zu bewundern, seinen Blick auf sich zu fühlen. Warum sollte sie auf diese unschuldigen Freuden verzichten? Nein, sie würde nicht mit nach England gehen! Sie flehte ihre Mutter an, diese Reise fallen zu lassen. Die Baronin sah gar keinen Grund zur Abänderung ihrer Pläne und wollte wegen einer bloßen Laune ihrer Tochter durchaus nicht auf die erhofften Annehmlichkeiten des Sommers verzichten. Mary war verzweifelt; mußte der Kronprinz sie nicht ganz vergessen, wenn er sie so lange nicht sah? Der Faden, der sie mit ihm verknüpfte, war doch ganz zart; jede Trennung mußte ihn zerreißen. Die einzige Möglichkeit, in Wien zu bleiben, sah sie in einer Erkrankung. Sie beschloß, nichts zu essen; dies fiel ihr in der Unruhe, in der sie lebte, nicht schwer. Doch ihr schlechtes Aussehen bestimmte die Baronin nur, den Tag ihrer Abreise noch näher zu rücken; Mary schien einen Luftwechsel dringend zu brauchen.

Zu dieser Zeit hatte Mary nur eine Vertraute, ihre alte Amme, eine gutmütige ungarische Bäuerin, die ihr blind ergeben war. Vom ersten Tag an, als sie dem Kronprinzen begegnet war, hatte sie sich, obwohl alles nur harmlose Kinderei gewesen war, gehütet, mit ihrer Mutter und ihrer Schwester von ihm zu sprechen, doch ihrer alten Bonne hatte sie sich ganz erschlossen. So hatte sie ihr etwa gesagt, sie hätte den Kronprinzen gesehen und er sei noch viel schöner als auf allen Bildern. Oder ein wenig später, freudestrahlend: »Heute im Prater hat er mich angesehen. Zweimal ist er in der Hauptallee an uns vorbeigeritten, sicher nur meinetwegen.« Die alte Bonne freute sich mit ihr und machte sich keine weiteren Gedanken. Ein wenig später begannen Marys Vertraulichkeiten kühner zu werden. »Seine Augen waren voll Zärtlichkeit.« Die Amme lächelte, wenn sie Mary, die in ihren Augen noch ein ganzes Kind war, so törichte Worte sprechen hörte. Erst Ende Mai, als Mary bei dem Gedanken, Wien zu verlassen, fast krank wurde, begann sie unruhig zu werden. Ihre Sorge wuchs, als Mary in ihrer Verzweiflung ihr alles gestand: »Ich liebe ihn und niemals werde ich einen andern lieben können als ihn!« Die Amme riß erschreckt ihre alten Augen auf. Sie griff nach Marys fiebernden Händen.

»Aber du bist nicht recht gescheit, mein kleines Täubchen, ein Mädchen wie du verschenkt doch ihr Herz an keinen Erzherzog! Solche Herren stehen ja viel zu hoch für uns. Sie wissen nichts von uns. Was erwartest du von ihm?«

»Ich erwarte nichts. Ich liebe ihn, das genügt mir. Ich bin glücklich, wenn ich ihn von weitem sehen kann und wenn er mich anblickt. Ich will ja gar nichts weiter; aber das soll man mir wenigstens lassen.«

Die Alte seufzte, aber sie sagte nichts mehr. Mary war jetzt so aufgeregt, warum sollte sie ihr widersprechen? Der Sommer in England, die Zerstreuungen der langen Reise würden genügen, um ihren Sinn zu ändern. Zurückgekehrt, würde sie wohl die erste sein, die über diese einstige Torheit lacht.

Einige Tage später verließ die Familie Vetsera Wien.


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