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Nach beendeter Tafel brachte ein Hofwagen den Kronprinzen und seine beiden deutschen Gäste in die Freudenau.
Alles, was sich zur vornehmen Gesellschaft zählte, war hier versammelt. Jeder, der dieser exklusiven Welt angehörte, kannte den andern, Außenstehende hatten nur schwer Zutritt. Doch wer zugelassen wurde, staunte über die Natürlichkeit und Einfachheit, die sich hinter der strengen Absonderung verbarg, über jene in ganz Europa gerühmte Liebenswürdigkeit, die einer Mischung aus Lebensfreude, Sorglosigkeit, Herzlichkeit und Unbeständigkeit entsprang. In jenen Operetten, die den Ruhm Wiens in der Welt verbreiten, vollzieht sich alles nach Tanzrhythmen, die das Herz mitschwingen lassen, ohne es zu berühren. Die gleichen Walzerklänge geben, bald leichtsinniger, bald klagender, dem ganzen Wiener Leben seinen Rhythmus und seine besondere Note.
Es gibt nur zwei Städte auf der Welt, in denen sich die Frauen zu kleiden verstehen: Paris und Wien. Auch an jenem Tage rechtfertigte Wien seinen Ruf und bot hier im Prater eine Auslese der schönsten Frauen. Weite duftige Kleider aus Taft, schwerer Seide oder Samt mit Puffärmeln, blumengarnierte Hüte, mit Straußen- und Reiherfedern geschmückt, wurden von den reizvollsten Frauengestalten jenes vielfältigen weiten Reiches getragen; lachende, blonde Wienerinnen sah man neben den Aristokratinnen Böhmens, neben dunklen, mandeläugigen Ungarinnen, zierlichen Polinnen mit schwermütigem Blick und unter südlichem Himmel aufgewachsenen Kroatinnen. Bankherren, Industrielle und Künstler bewegten sich zwischen der Aristokratie und der Hofwelt mit jener Ungezwungenheit, die alle Ecken abschleift und die gegenseitigen Beziehungen zur Selbstverständlichkeit macht. Auch junge Mädchen besuchten die Rennbahn, und ihr Zauber, ihre Frische, trugen nicht wenig zu dem Glanz einer solchen Versammlung bei.
Wohl niemand genoß an jenem Tage das Vergnügen einer so festlichen und vornehmen Umgebung mehr als ein den Kinderschuhen kaum entwachsenes Mädchen, das von seiner Mutter zum ersten Male zu den Rennen mitgenommen worden war. Sie zählte erst sechzehn Jahre und war der Wiener Gesellschaft noch nicht vorgestellt. Ihre Mutter, die Baronin Helene Vetsera, der reichen Levantiner Familie Baltazzi entstammend, hatte einen ungarischen Beamten von kleinem Adel geheiratet, der in die Diplomatie übergetreten war. Sie hatte sich in Wien niedergelassen, ein Palais in der Salesianergasse erworben und, obwohl sie bei Hof keinen Zutritt hatte, denn es fehlten einige der sechzehn Ahnen, verkehrte, zwei oder drei sehr exklusive Familien ausgenommen, die ganze Aristokratie der Hauptstadt bei ihr. Selbst der Kaiser und die Kaiserin kannten sie und pflegten sie gelegentlich mit ein paar huldvollen Worten auszuzeichnen. Einst war die zarte kleine Baronin eine schöne Frau gewesen, und ihre auffallend schönen grauen Augen fesselten auch jetzt noch manchen Blick. Unvermindert hatte sie auch ihre vollendete Liebenswürdigkeit bewahrt, der sie viele Freundschaften verdankte. Sie war reich, verstand es, blendende Feste zu veranstalten, und ihr Heim wurde rasch zu einem der beliebtesten Treffpunkte der Wiener vornehmen Gesellschaft. Ihre vier Brüder waren passionierte Sportsleute und populäre Gestalten auf der Rennbahn und bei den Jagden der Aristokraten.
Nachdem ihr älterer Sohn beim Brand des Wiener Ringtheaters umgekommen war, blieben ihr noch zwei Töchter, Hanna und Mary, und ihr jüngerer Sohn Ferry. Hanna hatte nicht sonderlich viel Reize, aber Mary, die jüngere, war zu jener Zeit, obwohl fast noch ein Kind, schon eine vollendete Schönheit. Sie war schlank, nicht allzu groß, doch von bezaubernder Harmonie der Linien, und hatte entzückende Hände und Füße; in überraschendem Gegensatz zu dem tiefen Schwarz ihrer üppigen weichen Haare war ihr Teint von blendendem Weiß. Ebenso reizvoll überraschend waren ihre strahlenden Augen, die unter schwarzen fein gezogenen Brauen und zwischen langen Wimpern blau hervorleuchteten, manchmal lächelnd, meist aber mit ernstem Ausdruck, der bei einem so jungen Mädchen erstaunlich wirkte. Eine zierliche Nase saß über dem kleinen Mund, dessen sinnliche Lippen strahlend weiße Zähne sehen ließen. Zu all dem besaß Mary noch jene Gabe, ohne die alle Schönheit wertlos ist, jene Gabe des Liebreizes, die Götter und Menschen in ihren Bann zwingt.
Sie war im Kloster erzogen worden, hatte den Winter mit ihrer Familie in Ägypten verbracht und weilte erst seit einem Monat in Wien. Das Auftauchen dieses faszinierenden Kindes im Salon ihrer Mutter hatte die Freunde, die dort verkehrten, mit Bewunderung erfüllt. Mary nahm die Huldigungen, deren Gegenstand sie war, mit Vergnügen entgegen, ohne sich jedoch weitere Gedanken darüber zu machen. Wie alle jungen Mädchen jener Zeit wurde sie sehr streng gehalten und verließ niemals allein das Haus; ihre Mutter begleitete jeden ihrer Schritte.
Bei den Rennen im Prater begegneten die Damen Vetsera zahlreichen Freunden; wo immer sie sich zeigten, konnten sie sicher sein, bald den Mittelpunkt eines angeregten Kreises zu bilden. Ein junger Portugiese von königlichem Blut, Dom Miguel von Braganza, der in Wien lebte, scherzte mit Mary und bot ihr an, im zweiten Rennen, das eben beginnen sollte, gemeinsam ein Pferd zu wetten.
Während sie noch sprachen, entstand eine leichte Unruhe. Der Kronprinz mit den beiden deutschen Prinzen hatte eben die kaiserliche Loge betreten und sein Erscheinen bildete eine kleine Sensation. Nur Mary hatte, in ihre Unterhaltung mit dem Herzog von Braganza vertieft, nicht aufgesehen. Als die Glocke ertönte und der Herzog zu einem Buchmacher eilte, um seinen Einsatz zu machen, fand sich Mary, in der auf- und abwogenden Menge von ihrer Mutter getrennt, wenige Schritte vor der Hofloge. Sie hob den Kopf, und ihren Blick fesselte ein jugendlicher General der Kavallerie mit zahlreichen Orden an der Brust, der in der kaiserlichen Loge heiter und lebhaft mit zwei Offizieren plauderte. Verwirrt betrachtete sie seine hohe Gestalt, seine stolze Kopfhaltung, den sympathischen Ausdruck seiner Züge, die schönen Linien von Mund und Nase. Ihre Augen blieben auf ihn geheftet. »Aber das ist ja der Kronprinz«, sagte sie sich plötzlich, »das kann nur der Kronprinz sein!« Wenn noch ein leiser Zweifel in ihr blieb, lag dies nur daran, daß sie ihn so nahe und ungezwungen noch viel schöner fand als auf den repräsentativen Bildern, die sie bisher von ihm gesehen hatte. In diesem Augenblick wanderten seine Blicke nach ihrer Richtung, und der Zufall wollte es, daß ihre reizvollen Züge ihm auffielen. Seine Augen hingen, gefesselt von dem Bild dieser unbekannten Schönen, einige Augenblicke an ihrem Gesicht. Mary fühlte den Boden unter sich schwanken, sie errötete bis an die Schläfen und hätte sich am liebsten in der Menge verborgen. Doch sie konnte sich von jenen Augen nicht losreißen, die ihren Blick zu suchen schienen.
Eine Stimme neben ihr schreckte sie auf.
»Beinahe hätte ich Sie in dem Gedränge nicht mehr gefunden, Baronesse!« Es war Miguel von Braganza, der zurückkehrte. Er war nicht sehr scharfsinnig, er bemerkte nichts von der Erregung des jungen Mädchens, und Mary fand dadurch Zeit, ihre Fassung wiederzugewinnen. Kurz danach stieß auch die Baronin Vetsera mit einer Gruppe von Freunden zu den beiden.
Mary wäre es später wohl schwer gefallen, den weiteren Verlauf des Nachmittags zu schildern. Gedankenfern ging sie neben Mutter und Schwester, sprach gleichgültige Worte zu Freunden und Bekannten, antwortete ins Leere, lächelte teilnahmslos. Erst viel später, als die Rennen schon ihrem Ende zugingen, und sie ein wenig weiter von dem kaiserlichen Pavillon entfernt war, wagte sie nochmals hinaufzusehen. Zu ihrer größten Überraschung blickte der Kronprinz in ihre Richtung und schien jemand im Gedränge zu suchen. Sie hatte plötzlich das bestimmte Gefühl, daß sie es sei, die er wiederzusehen wünschte. Eine jauchzende Freude erfüllte sie, und wieder wurde sie über und über rot. In diesem Augenblick wandte sich der Kronprinz zu einem Offizier, der hinter ihm stand, und sprach, ohne die Augen von ihr abzuwenden, einige Worte zu ihm. Nun blickte auch der Adjutant nach der Gruppe, in der die Damen Vetsera den Mittelpunkt bildeten, und schien eine vom Kronprinzen gestellte Frage zu beantworten. Diese kleine Szene war so deutlich, daß Mary sie nicht mißverstehen konnte.
Während der ganzen Heimfahrt sann Mary schweigsam vor sich hin. Erst als ihr Wagen schon das eiserne Gitter hinter sich hatte, das die Front ihres Palais schmückte, und als die gewohnten drei Gongschläge in der Einfahrt ertönten, mit denen der Portier das Hauspersonal von der Heimkehr der Herrschaft verständigte, erwachte sie aus ihren Träumen. Sie eilte die Treppe hinauf, schloß sich in ihr Zimmer ein und schützte Kopfschmerz vor, um sich dem Abendessen zu entziehen. Sie wollte allein sein. Ihr Herz jubelte vor Glück.