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Marys Besorgnisse in der Oper waren nicht grundlos. Ihre forschenden Augen hatten in den müden Zügen des Kronprinzen die Zeichen der moralischen Krise erspäht, die er durchlebte. Es wäre aber keine Enttäuschung für sie gewesen, wenn sie erfahren hätte, daß sie an dieser Krise gar nicht beteiligt war. Ihre Gedanken gehörten nur ihm, aber über den winzigen Platz, den sie selbst im Leben des künftigen Erben der Habsburger Krone einnahm, gab sie sich keinen Illusionen hin.
Unzählige Intrigen wurden um Rudolf gesponnen. Leidenschaftliche, geschickte, hartnäckige Leute bedrängten ihn. Er stand mitten im Wirbel der Politik und er sah in ihr nicht, wie viele Skeptiker, bloß ein verfeinertes Hazardspiel; als junger Mann voll edler Gesinnungen wünschte er mehr Gerechtigkeit, größere Freiheit und ein besseres Los für seine Völker. Er verwarf jeden Despotismus und den bei Herrschenden so beliebten Grundsatz: Divide et impera. Er fand sich von Männern umgeben, deren Gedankenrichtung er verachtete, er warf ihnen Gleichgültigkeit, Gefühlslosigkeit vor. Und doch mußte er sie liebenswürdig empfangen, ein Lächeln für sie bereithalten. Erst nach langer Selbstzucht hatte er seinem leicht entflammbaren Temperament die nötige Vorsicht abgerungen.
Er sehnte sich nach Freundschaft, doch wo konnte er in seiner Stellung einen Freund finden? Alle, die in seine Nähe kamen, verwahrten sich zwar heftig gegen den Verdacht, Sonderinteressen zu verfolgen, doch alle wollten ihn nur für ihre Zwecke ausnützen. Und ein Philipp von Coburg, ein Hoyos bedeuteten ihm nicht mehr als Menschen, mit denen man in Gesellschaft hübscher Frauen soupiert, an die man als Jagdgenossen gewöhnt ist. Die hatten allerdings keine politischen Wünsche, doch sie hatten auch nicht viel zu bieten. Aber alle die andern! Gab es auch nur einen einzigen, der ohne den Hintergedanken eines persönlichen Vorteils sein Zimmer betrat, selbst unter seinen Freunden von der liberalen Presse, selbst – vielleicht sogar hauptsächlich – unter den Frauen, die ihm gefielen und von denen man törichterweise meinte, daß er sie erwählt hatte, während sie ihm zweifellos von Leuten, die daraus einen Vorteil erhofften, geschickt in den Weg gestellt wurden? Es gab keinen verläßlichen Freund für ihn; jeder war verdächtig. Diese bittere Einsicht verdüsterte Rudolfs Leben. Er konnte nicht darüber hinwegkommen.
In der kaiserlichen Familie gab es niemanden, mit dem Rudolf offen geredet hätte. Niemals besprach er politische Fragen mit seinem Vater; auf diesem Gebiet gab es keine Möglichkeit der Verständigung zwischen ihnen, sie vertraten zwei entgegengesetzte Welten, und ihre Unterhaltung kam über rein äußerliche Dinge nicht hinaus. Seine Mutter hatte ihm wohl näher gestanden. Aber mit den Jahren wurde sie immer verschlossener, immer entrückter. Sie gab sich ihrem Hang zur Einsamkeit, ihrer Lust am Reisen immer hemmungsloser hin, sie erschien kaum mehr bei den offiziellen Anlässen und führte ein sonderbares Leben voll Geheimnissen, zu dem niemand, selbst ihr eigener Sohn nicht, Zutritt hatte. Ein Wort, eine Anspielung von ihr ließen Rudolf manchmal erraten, daß sie ihm innerlich immer noch nahestand. Manchmal bewies ihm ein Blick ihre Zärtlichkeit, vielleicht sogar ihr Mitleid; gleich aber wußte sie sarkastisch oder mit Scherzen diesen Eindruck zu verwischen. Sie ertrug keinerlei Gefühlsäußerung.
Von seiner nächsten Umgebung stand ihm nur einer wirklich nahe, der Erzherzog Johann Salvator von Toscana. Obwohl um sechs Jahre älter, war Erzherzog Johann sein Spielgefährte gewesen. Er war ein guter Soldat und verfolgte mit Leidenschaft alle militärischen Fragen. Doch noch andere Eigenschaften brachten diesen Vetter Rudolf näher. Johann war der einzige der kaiserlichen Familie, der liberale Ansichten vertrat und in die Tat umsetzte, indem er sich bemühte, nicht als Erzherzog, sondern als Privatmann zu leben. Er hatte sich in Milli Stubel, ein reizendes, bürgerliches junges Mädchen, verliebt und führte mit ihr ein glückliches und freies Leben. Seine Abende verbrachte er meist in ganz vertrautem Kreis bei der Schwester seiner Freundin. Rudolf bewunderte diesen Vetter, der seiner Meinung nach das bessere Los gewählt hatte. Er beneidete ihn, daß er es im Schatten der gefürchteten Hofburg verstanden hatte, sein Glück fern von aller Lüge, fern von allem Zwang, an der Seite eines Mädchens zu finden, das ihn liebte. Wie verlockend war so ein Leben, doch leider wie unerreichbar!
Eines Abends, als Rudolf und Milli Stubel bei Johann zu Gast waren, sprach dieser freimütig über seine Pläne.
»Die Bande, die mich mit diesem Lande verknüpfen, sind nicht mehr fest. Freuden, die Rang und Stellung geben, sind mir wertlos geworden. Milli gilt mir mehr als dieses Leben der Äußerlichkeiten. Glaubst du nicht auch, daß mir ein Essen zu zweit mit ihr vergnüglicher ist als unsere Familiendiners oder eine Galatafel in der Hofburg? Hier kann ich reden, wie mir der Schnabel gewachsen ist, und muß nicht das alberne Geschwätz von Onkel Albrecht mitanhören.« Erzherzog Albrecht, der damals schon siebzigjährige Sieger von Gustozza, war für Johann Salvator das rote Tuch. »Für Milli bin ich nicht der Erzherzog, sondern nichts weiter als der Mann, den sie liebt. Du, mein armer Rudolf, wirst niemals erfahren, was das bedeutet. Leider aber bleibe auch ich in diesem Lande immer die Kaiserliche Hoheit und nie werde ich hier alle Fesseln abstreifen können. – Bis ich eines Tages auf und davongehe. Auf meine Titel, Rechte und Vorrechte zu verzichten, wird mir nicht schwerfallen, und diese kleine Dame wird darüber ebenso glücklich sein wie ich selbst. Die Welt ist groß, Rudolf, ich werde Österreich verlassen. Ich liebe das Meer; in der Südsee gibt es Inseln, nach denen ich mich sehne …«
»Kommen Sie doch mit uns«, meinte Milli scherzend zu Rudolf. »Wir machen Sie zum Admiral, der unser Schiff befehligt.«
»Wenn ich eine Freundin hätte, wie Sie es sind …« erwiderte er. »Mein Vetter Johann ist ein beneidenswert glücklicher Mensch.« – Wie oft mußte er später an dieses Gespräch denken! Wer wünschte sehnlicher als er ein neues Leben! Doch allein ringt man sich zu einem solchen Entschluß nicht durch, und wer hätte ihn begleitet? Es gab niemand, der ihm auf solchem Wege gefolgt wäre, darin erkannte er seine wahre Einsamkeit. Bei dieser schmerzlichen Feststellung tauchten mit einem Male die strahlenden zärtlichen Augen Mary Vetseras in seinen Gedanken auf. In ihrem Blick hatten Leidenschaft und Ernst gelegen, die er nicht vergessen konnte. Vielleicht gehörte sie zu jenen, die sich, ohne zu feilschen, ganz verschenken … Er zuckte die Achseln. »Ich werde immer ein unverbesserlicher Träumer bleiben«, dachte er.
Was Erzherzog Johann noch in Österreich zurückhielt, war Ehrgeiz. Er hatte seine Überzeugungen, er wollte für sie kämpfen, ihnen zum Sieg verhelfen. In einem liberalen Reich, mit Rudolf als dessen Herrscher, hoffte er selbst eine maßgebende Rolle zu spielen. Alle seine Erwartungen setzte er auf den Kronprinzen. Doch auch jetzt schon ließ er seinem lebhaften, ungestümen Naturell freien Lauf. Ohne jede Scheu kritisierte er öffentlich die Ansichten des Kriegsministers Bauer und des Generalstabschefs Beck; ja, selbst in Zeitungsartikeln und in Flugschriften und sogar im Ausland bekämpfte er sie. Das waren Dinge, die man in der Hofburg nicht verzieh. Schließlich hatte der Kaiser seinem Sohn sogar den Verkehr mit Erzherzog Johann untersagt. Rudolf war über dieses Verbot sehr aufgebracht, aber er mußte sich fügen. Doch nach einiger Zeit begann er, trotz dem kaiserlichen Befehl, mit seinem Vetter, allerdings nur im Geheimen, wieder zusammenzutreffen.
Johann Salvator fing langsam an, die Geduld zu verlieren; der Kaiser war bald sechzig und ließ noch keinerlei Zeichen von Arbeitsmüdigkeit erkennen. »Dein Vater«, sagte er zu Rudolf, »arbeitet wie eine Maschine: leidenschaftslos, gefühllos, ohne sich zu erschöpfen. Wirst du das noch lange ertragen?«
Die radikalen Ansichten Johann Salvators hatten diesem wohl die Feindschaft der offiziellen Kreise zugezogen, doch in der Kriegsmarine und bei den Liberalen Widerhall gefunden. Er wurde gewissermaßen Parteiführer der Opposition und war damit nur zu noch größerer Vorsicht und Geheimhaltung seiner Tätigkeit gezwungen. Jede Wirksamkeit, die man verborgen halten will, bekommt schon dadurch allein ein gefährliches Aussehen. Erzherzog Johann war schon lange mißliebig gewesen, jetzt wurde er verdächtig, und so kam es, daß Rudolfs verstohlene Zusammenkünfte mit ihm, zu denen ihn das kaiserliche Verbot zwang, ob er es wollte oder nicht, bald als Verschwörung aufgefaßt wurden.
Man verläßt nicht, in einen Mantel gehüllt, der das halbe Gesicht verdeckt, abends durch eine Hintertüre seine Wohnung, ohne die Aufmerksamkeit der Spione zu erwecken, die einem auf die Fersen gesetzt sind; man benützt keine Hintertreppen, um sich unter vier Augen über das Wetter zu unterhalten. Die Zusammenkünfte Rudolfs mit Erzherzog Johann rührten an die allerernstesten Fragen des Staatswohls.
Rudolf allerdings wollte sich in diesem Verkehr vor allem unterrichtet halten. Sein Wunsch war, mit einem verläßlichen Mann liberaler Richtung, mit einem Gleichgesinnten, alle Fragen zu besprechen, die ihn bewegten. Er glaubte auf diese Weise für die Zukunft zu arbeiten. Johann Salvator mit seinem Geist eines Abenteurers und seinem Geschmack für Intrigen sah ein näheres Ziel. Sein ganzes Wesen drängte nach Taten. Doch er fühlte, daß Rudolf für seine Absichten noch nicht reif und weit davon entfernt war, einen Gewaltstreich zu erwägen. Er mußte erst ganz allmählich auf diesen Weg gedrängt werden, den Johann Salvator gewählt hatte, ohne daß Rudolf dessen letztes Ziel erraten durfte. Johann Salvator wollte ihn unmerklich in seine Netze verstricken, ihn dadurch kompromittieren, um ihn dann zu günstiger Zeit zwingen zu können, die führende Rolle zu übernehmen.
Johann Salvator kannte seinen Vetter. Er durfte ihn nicht vor den Kopf stoßen, er mußte geduldig die Stunden seines Unmuts abwarten, um ihn schrittweise an die Gedanken zu gewöhnen, mit denen er selbst spielte. Solche Stunden gab es zur Genüge. Rudolf hatte einen Plan militärischer Reformen entworfen. Der Generalstabschef nahm seine Absichten und Erklärungen wohl ehrfurchtsvoll zur Kenntnis, aber er wich nicht einen Finger breit von seinen eigenen Grundsätzen ab. »Diese Leute sind ja zu borniert!« schrie Rudolf wütend, als er seinem Vetter von dem Scheitern seiner Absichten berichtete. Dies war einer jener Augenblicke, in denen Johann Salvator einen kühnen Vorstoß wagen und Rudolf ein Stück weiter auf seinen eigenen Weg drängen konnte.
Wenn auch der Kronprinz nicht das ganze Spiel seines Vetters durchschaute, war er doch hellsichtig genug, um zu erraten, daß Johann Salvator hinter seinem Rücken geheime Fäden spann. Was beabsichtigte er? Rudolf wollte diese Geheimnisse nicht erforschen. Er scheute die Gewißheit, um mit seinem Vetter nicht brechen zu müssen; denn mit wem hätte er dann noch freimütig sprechen können?
Vor seiner Reise nach Galizien verstärkte ein unvorsichtiges Wort Johanns seinen Verdacht und diente ihm als neue Warnung. Rudolf sprach mit dem Erzherzog über seine bevorstehende Reise, über seinen Aufenthalt in Lemberg und nannte im Gespräch auch den Namen des Generalstabschefs des XI. Armeekorps. Johann Salvator bemerkte dazu:
»Das ist einer der Unsern. Du könntest vielleicht ein Wörtchen fallen lassen …«
»Worüber?« fiel ihm Rudolf scharf in die Rede.
»Ach, bloß eine freundliche Bemerkung«, erwiderte Johann Salvator ausweichend, der sofort einsah, daß er sich zu weit vorgewagt hatte.
Rudolf gab sich damit zufrieden, doch er behielt diesen Zwischenfall in unangenehmer Erinnerung. Während der Fahrt klang ihm der Ausspruch: »Das ist einer der Unsern«, immer wieder in den Ohren und löste eine Kette beunruhigender Gedanken in ihm aus. »Einer der Unsern« – hieß das nicht so viel wie ein Mitverschworener? So gab es also eine Verschwörung, ein geheimes Einverständnis zwischen dem Erzherzog und Offizieren an höheren Dienststellen? Rudolf wurde es mit einem Male voll bewußt, was sich hinter seinem Rücken vorbereitete. Wahrhaftig, sein Vetter, der sich den Anschein gab, nur Theorien zu verfechten, hatte einen recht praktischen Geist und schien auch damit zu rechnen, daß selbst glückliche Zufälle manchmal der Nachhilfe bedürfen, und daß man, um nachzuhelfen, im gegebenen Moment die Kraft, die ausreichenden Kräfte, hinter sich haben muß. Eine Meuterei, ein militärischer Staatsstreich! Nichts Verwerflicheres konnte es in den Augen Rudolfs geben, der bis in die Seele ein aufrechter Soldat war. Bis dahin hatte er ein wenig kindisch gemeint, daß man ungefährdet über alles reden dürfe; jetzt erkannte er, daß in allen Worten der unbesiegbare Hang liegt, sich in Taten umzusetzen. Er tobte bei dem Gedanken, daß er, der Kronprinz, General der Armee, ein Führer von Meuterern sein sollte! Militärische Revolten, das mochte für die Russen gut sein, für gleisnerische, grausame, hinterlistige Asiaten, doch er, ein Habsburger – niemals! Sein ganzer Zorn richtete sich gegen den Vetter, der ihn auf Abwege führen wollte, wo es nur Ehrlosigkeit zu ernten gab. Er nahm sich vor, ihm gleich nach seiner Rückkehr ungeschminkt seine Meinung zu sagen, wenn nötig, sogar mit ihm zu brechen.
Während seines kurzen Aufenthaltes in Galizien nahm seine Erregung immer mehr zu, trotzdem – es lag ein seltsamer Widerspruch darin – war er gegen jenen Generalstabschef überaus liebenswürdig. Aber wenn er mit ihm sprach, betrachtete er ihn voll Unruhe. »Ist dies der Kopf eines Verräters?« sagte er sich.
Zeitig morgens, ermüdet, kam er in Wien an. Nur Unannehmlichkeiten erwarteten ihn. Die Begegnung mit seiner Frau war unerfreulich. Die Kronprinzessin hatte jetzt die Taktik angenommen, sich als Opfer hinzustellen; sie sprach wenig und seufzte viel. »Kein Funken von Natürlichkeit ist an dieser Frau,« dachte Rudolf, »ich glaube, es ist mir fast lieber, wenn sie wütend ist.« Alles schien sich dazu verschworen zu haben, seine gereizten Nerven noch mehr zu peinigen. Der einzige Lichtblick war der Besuch des Grafen Josef Hoyos; der war ein natürlicher Mensch, ohne allzu viel Geist, aber aufrichtig und anständig. Er kam, um den Kronprinzen zu einem kleinen Abendessen zu bitten, das er am gleichen Abend bei Sacher veranstaltete.
»Wir werden ganz unter uns sein«, fügte er hinzu. »Eure Kaiserliche Hoheit, Philipp und ich. Aber ich habe eine Zigeunerin ausfindig gemacht …! Sie heißt Marinka, ist ganz fremd in Wien, noch ein wenig scheu, aber wenn sie singt, ist sie unwiderstehlich.«
»Danke, mein Lieber, aber ich werde nicht kommen«, erwiderte Rudolf. »Ich bin müde und habe in Galizien mehr trinken müssen, als mir zuträglich war. Das scheint mit zu meinem Beruf zu gehören. Und ihre Weine waren nicht die allerbesten. Mein ganzer Tag ist noch mit Arbeit ausgefüllt; ich werde zeitig zu Bett gehen.«
Der Graf begann zu lachen.
»Das sind ja wunderschöne und kluge Vorsätze! Doch wenn erst einmal der Tag mit seinen staubigen Akten vorbei sein wird, und mit dem gewohnten Ärger über die Dummköpfe vom Ministerium, wenn erst einmal die feierliche Hoftafel zu Ende geht, dann werden Kaiserliche Hoheit sicher glücklich sein, in einem gemütlichen Séparé bei Sacher ausruhen zu können. Dort gibt es keinen Ärger, kein offizielles Gesicht, dort freut man sich an guten Weinen, an liebenswürdigen, hübschen Geschöpfen und – an Marinka! Es würde mich wirklich wundern, wenn Kaiserliche Hoheit gegen sie unempfindlich bleiben könnten.«
»Sie wird mich nicht auf die Probe stellen, denn ich werde es vorziehen, mein Bett aufzusuchen.«
»Wenn aber der Schlaf sich nicht einstellen sollte, dann wissen Eure Kaiserliche Hoheit, wo Sie erwartet werden.«
Rudolf hatte ein ermüdendes Tagewerk. An der Hoftafel im »Schreibzimmer« der Alexander-Appartements nahm auch Erzherzog Albrecht teil, dessen Einfluß als Generalarmeeinspektor im Kriegsministerium noch immer allmächtig war. Er sprach viel wie stets und in einer Art die unerträglich war. Rudolf erschienen die alten Brüsseler Gobelins, die diesen Salon schmückten, mit ihrer Allegorie der zwölf Monate des Jahres, wie ein Symbol der öden Familiendiners, die stets in diesem Raum stattfanden. Jede Viertelstunde schien ihm endlos lang, wie einer der zwölf Monate. Er mußte an eine Äußerung Johann Salvators denken: »Mit deinem Vater könnte man sich vielleicht sogar verständigen, aber Onkel Albrecht, der die ganze Armee in seiner Faust hält … den müßte man einfach umbringen.«
Abends war Rudolf endlich erlöst. Er kleidete sich rasch um und verließ dann, über den Vorbau des Glashauses, von dem er unbemerkt auf die Albrechtsrampe gelangte, die Hofburg. Ein Mietwagen erwartete ihn an der Ecke der Operngasse, er sprang hinein, rief dem Kutscher ein paar Worte zu und fuhr davon.
Einige Minuten später stieg Rudolf in einer belebten Straße im Zentrum der Stadt aus dem Wagen. Er bog rasch in eine Seitengasse ein, betrat durch das angelehnte Tor ein bescheidenes Haus, erreichte auf einer Nebentreppe das zweite Stockwerk, klopfte an eine unscheinbare Tür und wurde von einem älteren Mann sogleich in die recht geräumige Wohnung eingelassen, in der mehrere Zimmer beleuchtet waren. Es schien dem Kronprinzen im Vorübergehen, daß sich in einem der Zimmer, dessen Tür man eilig schloß, zwei oder drei Leute abgewendet hatten, als wollten sie nicht von ihm erkannt sein. Diese Beobachtung war ihm peinlich, und ziemlich gereizt betrat er einen als Arbeitszimmer eingerichteten Raum, in dem sein Vetter Johann Salvator ihn erwartete.
Rudolf hatte sich vorgenommen, recht vorsichtig und schlau zu Werke zu gehen, um herauszubekommen, wieweit Johann Salvator sich mit seinen dunklen Hintermännern eingelassen hatte. Darum bezwang er zunächst seinen Zorn, und die Unterhaltung begann in ruhigem Ton.
Milli Stubel zeigte sich an diesem Abend nicht, was Rudolf als schlechtes Zeichen deutete, denn zweifellos lag darin eine Absicht Johann Salvators, der ungestört über Politik sprechen wollte.
Erzherzog Johann befand sich zu jener Zeit in einer schwierigen Lage. Er hatte ganz im Geheimen viel mehr unternommen, als Rudolf auch nur ahnte; jetzt aber mußte er dem Drängen einiger ungeduldiger Anhänger Rechnung tragen und ihnen beweisen, daß der Kronprinz eingeweiht war. Er hatte sich deshalb entschließen müssen, seinen Vetter vor eine Entscheidung zu stellen, aber er wußte ganz gut, welche Vorsicht dabei nötig war.
Anfangs überließ er Rudolf das Wort. Der sprach mit großer Herzlichkeit von den subalternen Offizieren, die bescheidene Ansprüche hätten, fast durchwegs über eine ausreichende allgemeine Bildung verfügten und als sorgfältige Beobachter der politischen Fragen, die die Monarchie zersetzten, für liberale Reformen zugänglich wären.
»In ihnen liegt unser stärkster Rückhalt, Gianni«, meinte er schließlich, den Erzherzog bei seinem Kosenamen nennend, den seine Freundin anzuwenden pflegte.
Johann Salvator zuckte die Achseln.
»Sie werden uns zujubeln, sobald wir die Schlacht gewonnen haben, aber um sie zu gewinnen, kann man nicht auf sie zählen. Wir brauchen Stoßtruppen.«
Rudolf unterbrach ihn lachend:
»Du hast das Wörterbuch deines ehemaligen Berufes gut im Kopfe behalten, mein lieber Gianni, alle deine Ausdrücke sind ja recht kriegerisch. Wenn uns jemand zuhörte, könnte er wahrhaftig meinen, daß von einem Staatsstreich die Rede ist.«
Nach diesen Worten entstand eine drückende Stille. Der Kronprinz hatte seinen Vetter mit einem raschen prüfenden Seitenblick gestreift, der schien aber nicht geneigt, den ihm so unvermittelt hingeworfenen Fehdehandschuh aufzunehmen. Er hatte seinen bestimmten Plan, von dem er sich nicht abbringen lassen wollte, und glitt über Rudolfs Bemerkung hinweg.
Rudolf begann, die Geduld zu verlieren; er hatte den Eindruck, in den erfahrenen Händen seines Vetters nur ein Spielzeug zu sein. Johann hatte Wein bringen lassen und verbreitete sich jetzt über die Schwierigkeiten, mit denen jeder zu rechnen hat, der es unternimmt, eine große Geistesbewegung zu entfachen.
»Man meint, daß man als Schöpfer und Führer die Entwicklung in der Hand hat – keineswegs! Es ist keine einheitliche Masse, mit der man zu tun hat, sondern ein Haufen notdürftig verbundener Elemente verschiedenster Art. Die einen sind gleichgültig, die muß man vorwärts treiben, die andern, die Radikalen, sind allzu rührig, man muß sie im Zaum halten. Das alles ist nicht leicht … Dazu kommen noch andere Dinge. Diese Menschen, die man um sich gesammelt hat, denen man etwas in Aussicht gestellt hat, die wollen nach einiger Zeit die Erfüllung sehen oder zumindest ein nahes erstes Ziel, sonst kehren sie sich enttäuscht ab …« Er sprach lange in diesem Sinne und kam langsam, in immer deutlicheren Worten, dem entscheidenden Punkte näher. Rudolf, der seine Absicht schon durchschaut hatte, blieb schweigsam. Er leerte ein Glas nach dem andern und hörte zu. Doch der Zorn in ihm wurde immer heftiger, je deutlicher er erkannte, wo sein Vetter hinauswollte.
Plötzlich zerstörte ein ganz unerwarteter Zwischenfall Johanns wohldurchdachte Taktik.
Undeutliches, aber heftiges Stimmengewirr wurde laut. Rudolf sprang mit einem Satz auf, und seine Hand fuhr instinktiv nach dem Griff des Revolvers, den er in seiner Tasche trug.
»Was bedeutet das?« fragte er erregt.
Johann Salvator winkte ihm zu, sich nicht von der Stelle zu rühren, lief zur Tür und verschwand im Vorraum.
Rudolf behielt seine Waffe in der Hand. Der Lärm dauerte einige Augenblicke, steigerte sich auch noch mehr, dann brach er plötzlich ab. Einige Minuten vergingen. Der Erzherzog trat wieder in das Zimmer. Seine sonst bleichen Wangen waren jetzt gerötet, seine Augen funkelten. Aber er lächelte.
Jetzt gab sich der Kronprinz keine Mühe mehr, Verstecken zu spielen. Während der letzten Augenblicke des Wartens hatte sich sein Zorn zu heller Wut entfacht, und der Ton, in dem er nun sprach, hatte nichts mehr Freundschaftliches.
»Was geht hier vor?« fragte er. »Es sind fremde Menschen in der Wohnung, und du hast sie herbestellt!«
Der rauhe Ton war der eines Gebieters, und Johann Salvator täuschte sich nicht darüber. Er entschloß sich, Farbe zu bekennen, doch in seiner angeborenen Geschmeidigkeit gab er seine Antwort mit fast lächelndem Bedauern:
»Ja, die radikalen Elemente! Habe ich dir nicht gesagt, wie schwer es ist, sie im Zaum zu halten?«
»Was willst du eigentlich?« schrie Rudolf. »Was hast du diesen Leuten, die sich hier herumtreiben, versprochen?«
Ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen, erwiderte Johann mit der gleichen Ironie in seiner Stimme:
»Bloß, dich zu sehen, gar nichts weiter. Du brauchst kein einziges Wort zu ihnen zu sprechen, das dich in irgendeiner Weise kompromittieren könnte. Bloß ein paar nichtssagende Phrasen. ›Meine Herren, es freut mich, Sie begrüßen zu können; Sie und ich, wir streben nach dem gleichen Ideal.‹ Etwas in dieser Art … Ideal ist doch sicher ein Wort, das dir zusagt, aus diesem Wort kann einem niemand einen Strick drehen. Nur in der Hofburg, wo man besonders empfindlich ist, hat es einen verdächtigen Beigeschmack. Aber ich glaube, du kannst es ruhig wagen. Mehr zu sprechen, verlange ich wirklich nicht von dir. Und wenn dir auch das noch zu viel scheint, so zeige dich bloß, ohne etwas zu sagen.«
Statt ihn zu beruhigen, erregte dieser spöttisch überlegene Ton Rudolf nur noch mehr.
»Ich durchschaue dein Spiel, Intrigant«, rief er. »Weiß Gott, was du hinter meinem Rücken angezettelt, was du in meinem Namen versprochen hast. Du bereitest einen Streich vor. Du hast deinen Mitverschworenen zugesagt, daß ich im entscheidenden Augenblick an eurer Spitze stehen werde, daß sie mit mir, für mich losgehen werden. Wie weit gehen deine verbrecherischen Pläne? Eines begreife ich, daß du schon jetzt gezwungen bist, deinen ›radikalen Elementen‹ zu beweisen, daß du nicht eigenmächtig gehandelt, daß du keine leeren Versprechungen gemacht hast, daß ich da bin, um dich zu decken. Und du hast wohl gemeint, daß du mich wie eine Marionette bloß auf die Bühne zu stoßen brauchst, ohne auch nur zu fragen, ob ich einverstanden bin. Nun, du hast dich getäuscht: noch bin ich nicht so weit in deiner Gewalt …« Mit verzerrtem Gesicht stürmte er kreuz und quer durch das Zimmer. Einen Augenblick unterbrach er seine Rede, doch der Erzherzog hatte nichts zu erwidern. Er war entschlossen, unter allen Umständen seine Ruhe zu bewahren, und wollte abwarten, bis Rudolfs Wut verraucht wäre. »Was hast du dir eigentlich eingebildet?« fuhr Rudolf schließlich fort. »Aufstände in der Monarchie anzuzetteln, die Ungarn oder Tschechen oder Kroaten aufzuwiegeln, Meutereien in der Armee hervorzurufen, das ganze Reich zu verwirren und in den Abgrund zu stoßen? Und dabei hast du auf mich gerechnet? Vorwärts, jetzt bestehe ich auf einer Antwort, auf einer klaren Antwort ohne Zweideutigkeiten!« schrie er, indem er mit der Faust so heftig auf den Tisch schlug, daß die Weinflasche umfiel.
Der Erzherzog erwiderte mit der größten Ruhe: »Mein Gott, um die Monarchie in Unruhe zu bringen, müßte ich mir gar nicht viel Mühe geben. Du weißt ganz gut, wie weit es mit dem inneren Frieden her ist, an dem wir uns erfreuen. Und das Reich in den Abgrund stürzen? Auch dazu brauche ich keinen Finger zu rühren, denn dahin kommt es schon ohne mich. Wenn du bei klarer Besinnung bist, denkst du ja auch nicht anders darüber als ich. Worüber regst du dich also auf? Ich liebe mein Land und sehe mit Entsetzen, wohin eine unfähige Regierung es treibt. Ich bin davon überzeugt, daß auf diesem Wege eine Katastrophe nicht zu vermeiden ist. Auch diese Ansicht teilst du mit mir. Worin unterscheiden sich also unsere Meinungen? – Ich sage: ›Wenn wir die Monarchie und die Krone retten wollen, müssen wir handeln, unverzüglich handeln. Morgen kann es schon zu spät sein. Es kann sich ein Sturm erheben, der uns alle davonfegt.‹ Du aber, obwohl ebenso überzeugt, daß die gegenwärtige Lage verderblich und unhaltbar ist, du sagst gerade das Gegenteil: ›Besprechen wir die Zukunft, besprechen wir sie nochmals und immer wieder. Sonst aber hüte ich mich, etwas zu tun.‹ – Aber Rudolf, begreifst du denn nicht, daß die Zeit der Worte vorüber ist? Das wäre ein wenig zu einfach, zu bequem, bloß zu warten. Und worauf denn? Auf den Tod deines Vaters? Der kann noch zwanzig Jahre auf sich warten lassen! Willst du zwanzig Jahre warten, während die Blicke aller Völker der Monarchie auf dich gerichtet sind, auf dich, von dem sie ihr Heil erhoffen? Willst du so lange warten, bis du selbst ein Greis bist, der sich für nichts mehr zu begeistern vermag, in dem jedes Ideal erstorben ist? Ich für meinen Teil lehne einen solchen Selbstmord ab.«
Rudolf blieb stumm. Alles, was der Erzherzog gesprochen hatte, hatte er selbst sich schon unzählige Male gesagt. Doch es waren nichts weiter als Worte für ihn gewesen, und die gleichen Worte begannen jetzt erschreckendes Leben zu gewinnen. Sein Vetter hatte insgeheim Fremde in einem der Nachbarzimmer versammelt, um ihn bloßzustellen! Darüber kam er nicht hinweg.
»Er wollte mich in eine Falle locken«, wiederholte er sich immer wieder, und dann brach er von neuem los: »Wer verbirgt sich hinter diesen Türen? Deine Ansichten gehen mich im Augenblick nichts an. Aber ich will wissen, wen du hier versteckst hat.«
Der Erzherzog zuckte gelassen die Achseln.
»Legst du wirklich Wert darauf, das zu wissen? Es sind lauter Offiziere, und ich glaube, du kennst manchen von ihnen. Wenn du es wünschst, kann ich einen nach dem andern hereinrufen; dann hast du Gelegenheit, mit ihnen selbst zu sprechen.«
»Ich will sie nicht sehen,« schrie der Kronprinz außer sich, »ich will von dir ihre Namen hören.«
Erzherzog Johann Salvator änderte jetzt mit einem Male seine Haltung. Mit betont abweisender Stimme sprach er:
»Gerade das wird dir nicht gelingen.«
Rudolf erriet den unausgesprochenen Gedanken seines Vetters. Drohend ging er auf ihn zu.
»Du wagst es …!«
Johann Salvator zuckte nicht mit der Wimper.
»Ich glaube, daß du den Kopf verlierst«, gab er zurück. »Geh' nach Haus, die Luft der Hofburg paßt für dich, mit uns hast du nichts zu schaffen.«
Der Kronprinz erblaßte. Er hob den Arm. Sollte er seinen Vetter züchtigen? – Er zwang sich zur Ruhe, machte einige Schritte durch den Raum und ließ sich schließlich in einen Fauteuil fallen.
Ein langes, ein drückendes Schweigen entstand. Rudolf hielt die Augen gesenkt. Er sieht einen Offizier, der wie ein Bruder ihm selbst ähnelt, mit dem Revolver in der hocherhobenen Faust in ein Arbeitszimmer der Hofburg stürzen, das er nur allzu gut kennt … Dumpfer Lärm dringt von den Gängen durch die aufgerissene Tür. Man unterscheidet Rufe. »Es lebe Kaiser Rudolf!« Und der Offizier beugt sich drohend über einen totenblassen Greis, hält ihm ein Blatt Papier vor die Augen und schreit: »Unterschreibe!« … Das Bild war so greifbar, daß Rudolf mit Schweißtropfen auf der Stirne auffuhr. »Unmöglich!« entfuhr es ihm. Er öffnete die Augen und sah seinen Vetter mit schwer aufgestütztem Kopf reglos vor dem Schreibtisch sitzen. Rudolf ging zu ihm hin, zögerte einen Augenblick und legte dann seine Hand leicht auf die Schulter des zusammengebrochenen Mannes. Johann Salvator blickte zu ihm auf, und Rudolf sah jetzt seine Augen, die voll Tränen standen. Er hatte Mühe, seine eigene Fassung zu bewahren, und seine Stimme klang gepreßt, als er jetzt sprach.
»Du hast recht, Gianni, ich will nichts von dir.« Und so leise, daß der Erzherzog es kaum vernahm, fügte er hinzu: »Verzeih mir.« Er umfaßte Johann mit seinen Armen.
»Wenn es so steht, dann bleibt mir hier nichts mehr zu tun«, murmelte der Erzherzog. »Du gibst mich frei, ich werde fortgehen.«
»Das wird das beste sein«, meinte Rudolf. »Ich beneide dich.«
Ein paar Augenblicke später stieg er an der Ecke einer Nachbarstraße in den Wagen, der auf ihn gewartet hatte.
»Zu Sacher!« rief er dem Kutscher laut zu.