Hans Christian Andersen
O. Z.
Hans Christian Andersen

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44.

O wunderschön ist Gottes Erde,
Und werth, darauf vergnügt zu sein!
Hölty..

Wir kehren wieder nach dem Rittergute auf Fühnen zurück; aber während wir in der Vergangenheit verweilten, sind Herbst und Winter verflossen. Otto und Wilhelm waren bereits zehn Monate fort. Der Frühling des Jahres 1832 ist angebrochen.

Nach dem Wunsche des Kammerjunkers und Sophiens fand ihre Hochzeit den zweiten April statt, weil dieser Tag in den Annalen Dänemarks durch die Seeschlacht auf der Rhede von Kopenhagen unsterblich ist. In der Heimat, in der nur die Mutter, Louise und Eva lebten, war es jetzt still geworden. Eva hatte den ganzen Winter über gekränkelt. Von einem Monat zum andern wurde sie schwächer, obwol sie in keiner Weise den hinwelkenden Blumen glich. Man bemerkte kein bestimmtes Zeichen von Siechthum an ihr; es hatte eher den Anschein, als ob das Geistige das Leibliche überwältigte; sie glich der Astrallampe, die, sobald sie nach allen Seiten ihre Strahlen hinwirft, fast ein ätherischer Gegenstand zu sein scheint. Ihre dunkelblauen Augen hatten einen ganz eigenen Ausdruck von Geist und Gefühl, der selbst die einfache Dienerschaft des Schlosses ergriff. Der Arzt versicherte, daß Eva's Brust durchaus nicht angegriffen wäre; ihre Krankheit wäre ihm ein völliges Räthsel. Ein schöner Sommer würde unzweifelhaft wohlthuend auf sie wirken.

Wilhelm und Otto schrieben wechselweise. Es wurde als ein Festtag betrachtet, so oft Briefe eintrafen. Dann wurden die Landkarte und die Pläne der großen Städte hervorgelangt. Louise und Eva machten dann die Reise mit.

»Heute sind sie da, morgen dort!« riefen sie.

»Wie sehr ich es ihnen doch gönne, alle diese Herrlichkeiten anzuschauen!« sagte Louise.

»Die schöne Schweiz!« seufzte Eva. »Wie frisch Einem die Luft dort umwehen muß! Wie wohl muß man dort sich fühlen!«

»Wäre es möglich, dich dorthin zu schaffen, Eva!« versetzte Louise, »so würdest du gewiß bald wieder hergestellt sein!«

»Hier habe ich es so gut, hier bin ich so glücklich!« entgegnete sie. »Ich bin Gott auch recht dankbar dafür! Wie hätte ich eine Zukunft wie diese hoffen können? Gott wolle es Ihnen und Ihrer guten Mutter lohnen! War ich einst unendlich unglücklich, so ist mir jetzt all mein Kummer und die erlittene Zurücksetzung doppelt vergolten worden. Ich fühle mich so froh, und deshalb möchte ich so gern leben!«

»Und leben sollst du eben!« unterbrach sie Louise. »Weshalb kommen dir jetzt mit einem Male solche trübe Todesgedanken? Im Sommer wirst du, wie der Arzt versichert, wieder völlig gesund werden. Drückt dich vielleicht ein anderer Kummer, den du mir verheimlichen möchtest? Eva, es ist mir nicht unbekannt, daß dich mein Bruder liebt!«

»Diese Liebe wird er in der Fremde vergessen!« versetzte Eva. »Er muß sie vergessen. Könnte ich undankbar sein? Wir passen nicht für einander!« Darauf erzählte sie von ihrer Kindheit, erzählte von vergangenen kummervollen Tagen. Zutraulich legte Louise den Arm um ihre Schulter. So redeten sie bis zur späten Abendstunde, und oft traten Louisen Thränen in die Augen.

»Nur Ihnen vermochte ich alles mitzutheilen!« sagte Eva. »Es kommt mir wie eine Sünde vor, und doch bin ich unschuldig; meine Mutter, meine arme Mutter war es auch! Ihre Sünde bestand in ihrer Liebe; sie opferte alles auf, mehr als ein Weib darf. Der alte Oberst war streng und heftig; sein Zorn soll oft bis zur Wuth ausgeartet sein, in welchem Zustande er dann nicht mehr wußte, was er that. Sein Sohn war jung und wild, meine Mutter ein armes, und wie man sagt, sehr schönes Mädchen. Sie schenkte seinen Reden Gehör und wurde ein unglückliches Wesen; das fühlte sie selbst. Der Sohn des Obersten bestahl seinen Vater und eine alte Dame im Hause desselben. Man vermißte das Geraubte. Der Vater hätte den Sohn getödtet, hätte er in ihm den Thäter entdeckt. Deshalb wandte sich der Sohn in seiner Noth an meine arme Mutter, schwatzte ihr allerlei vor und bat sie inständigst, die Schuld auf sich zu nehmen. Seiner Ansicht nach könnte ihr nichts Schlimmeres widerfahren, als aus dem Dienste zu kommen. Sie dachte anders, sie glaubte, mit der Ehre wäre alles verloren, ach! sie hatte ihm ja auch schon das Beste, was sie besaß, hingegeben. Im Schmerz und von seinen Bitten überwältigt, ging sie auf sein Verlangen ein. Mein Vater muß ein sehr böser und verdorbener Mensch gewesen sein!« – Eva brach in Thränen aus.

»Du liebes gutes Mädchen!« sagte Louise und küßte sie auf die Stirn.

»Meine arme Mutter wurde zu einer entehrenden Strafe verurtheilt. Ich mag sie nicht nennen. Deshalb habe ich auch nie Lust empfunden, nach Odense zu fahren. – Die alte Dame im Hause des Obersten verhehlte einen abermaligen Verlust, zu dessen Entdeckung jedoch der Zufall führte. Der Zorn des Obersten kannte keine Grenzen. Meine Mutter war von Scham und Unglück wie überwältigt. Der erste Fehltritt stürzte sie in stets neue Leiden. – Sie kam in die Strafanstalt in Odense. Der Sohn des Obersten entwich kurz darauf zu Schiffe. Meine unglückliche Mutter war verachtet; Niemand ahnte, daß sie aus Verzweiflung und Schande eine unverdiente Schmach auf sich genommen hatte. Erst auf ihrem Sterbebette, gleich nach meiner und meines Bruders Geburt theilte sie einer Verwandten mit, daß sie unschuldig wäre. Ein großes und edeles Herz brach unerkannt im Tode!«

»Wie? Du hattest einen Bruder?« fragte Louise, und ihr Herz klopfte stärker. »Starb er? Wo bliebt ihr armen Kinder?«

»Die Kochfrau jener Strafanstalt nahm uns zu sich. Ich war klein und schwach, mein Bruder dagegen stark und voller Leben. Er hielt sich meist unter den Gefangenen auf, während ich mit meiner Puppe in der kleinen Kammer saß. Wir können ungefähr sechs Jahre alt gewesen sein, als wir Kinder eines Tages zu dem alten Obersten geholt wurden. Sein Sohn war in der Fremde gestorben, hatte aber noch kurz vor seinem Tode an den Vater geschrieben, ihm seine Verbrechen bekannt, ihn von der Unschuld meiner Mutter in Kenntniß gesetzt und uns für seine Kinder erklärt. Ich soll eine sprechende Aehnlichkeit mit meinem Vater gehabt haben. So wie er mich nur erblickte, schrie der alte Oberst deshalb auch zornig: »sie will ich nicht zu mir nehmen!« Ich blieb bei meiner Pflegemutter. Da der Oberst bald darauf mit meinem Bruder die Stadt verließ, habe ich denselben seitdem nie wieder gesehen!«

»O Gott!« sagte Louise. »Du besitzest doch wol einige Papiere darüber? Weißt du nicht, wer dein Bruder ist? – Es kann unmöglich anders sein, – du bist Otto's Schwester!«

»Guter Vater im Himmel!« schrie Eva auf; ihre Hände begannen zu beben und sie ward leichenblaß.

»Du wirst ohnmächtig!« rief Louise, schlang ihren Arm um Eva's Leib und küßte sie auf Augen und Wangen. »Eva! Er ist dein Bruder, der liebe gute Otto! O, wie glücklich wird er sein, daß seine Schwester endlich wieder aufgefunden ist! Wie deine Augen doch den seinigen gleichen! Eva, du liebes Mädchen!« –

Louise erzählte darauf, was ihr Otto anvertraut hatte, erzählte vom deutschen Heinrich, wie Otto Sidsel Gelegenheit zur Flucht gegeben hätte, und wie sie demselben dabei begegnet wäre.

Eva brach in Thränen aus. »Mein Bruder! O Gott! O, könnte ich jetzt doch leben bleiben, leben, um ihn erst noch zu sehen! Das Leben ist so schön! Ich mag noch nicht sterben.«

»Die Freude wird dich stärken. Es unterliegt gar keinem Zweifel, daß er dein Bruder ist. Wir müssen es der Mama mittheilen! Auch sie wird sich herzlich darüber freuen, und vor Allem wird Otto nicht länger trauern und leiden, wie früher. Auf dich kann er stolz sein! O komm, komm!« Obwol die Mutter schon zu Bett war, führte Louise ihre Freundin doch noch zu ihr, denn wie hätte sie bis zum nächsten Morgen zu warten vermocht!

»Der Herr segne dich, mein gutes Kind!« sagte die Mutter und drückte einen Kuß auf ihre Stirn.

Eva erzählte ihnen nun, wie der Oberst ihrer Pflegemutter eine bestimmte Summe eingehändigt, aber ausdrücklich dabei erklärt hätte, daß er ihr keine weitere Entschädigung für die Erziehung seiner Enkelin zahlen würde. Trotzdem erhielt Eva nach dem Tode ihrer Pflegemutter noch immer zweihundert Thaler, für welche die Schwester der Verstorbenen sie zu sich nahm. Mit dieser übersiedelte sie in einem Alter von zehn Jahren nach Kopenhagen. Dort mußte sie ein kleines Kind wiegen, welches sie Bruder nannte; es war der kleine Jonas. Schon als sie noch nicht völlig erwachsen war, sagte man ihr Schmeicheleien über ihre Schönheit. Vor ungefähr vier Jahren wurde sie eines Abends von zwei jungen Herren verfolgt; die Bekanntschaft des einen, unseres moralischen Hans Peter, haben wir bereits früher gemacht. Eines Morgens suchte Eva's Pflegemutter dieselbe für einen Vorschlag zu gewinnen, der sie in Verzweiflung versetzte. Der Comptoirchef hatte sie gesehen und wollte nun die schöne Blume kaufen. Zu Hause besaß er ja nur eine alte Mohnblume, von der er schon sechs Ableger erhalten hatte. Da verließ Eva das Haus und kam zu den braven Leuten in Roeskilde, und von diesem Tage an war Gott recht gnädig gegen sie gewesen. Weinend sank sie vor dem Bette der edelen Gutsherrin auf die Knie; eine Mutter und eine Schwester vereinten ihre Thränen mit den ihrigen.

»O, möchte ich doch leben bleiben!« betete Eva aus der Tiefe ihres Herzens. Wie eine Verklärte stand sie vor ihnen. Durch die Thränen strahlte die Freude hindurch.

Am nächsten Morgen fühlte sie sich merkwürdig angegriffen. Ihre Füße wankten, ihre Wangen waren wie Marmor. Sie setzte sich in die warme Sonne, die durch die Fenster hineinschien. Draußen standen die Bäume mit großen halb aufgebrochenen Knospen; eine einzige milde Nacht vermochte den Wald in Grün zu kleiden und den Sommer zu bringen. Aber in Eva's Herz hatte der Sommer schon seinen Einzug gehalten, in demselben herrschte Lebenslust und Freude. Die großen gedankenvollen Augen erhoben sich dankbar himmelwärts. »O, laß mich jetzt nicht sterben, gütiger Gott und Vater!« betete sie, und ihre Lippen bewegten sich in weichen Melodien, leise, wie wenn ein Lufthauch über ausgespannte Saiten gleitet.

Den Sonnenschein, der Blumen Duft,
Laßt sie mich nicht entbehren!
Ich sehne mich nach frischer Luft,
Den Tod von mir zu wehren!
Ins Grab dringt nicht des Lichtes Strahl,
Kein Wort aus Menschenmunde,
Da fehlt der holden Blumen Zahl,
Das Glück im Freundesbunde.

Jetzt kenne ich des Lebens Duft,
Ich will es fest umarmen;
Nicht Lust, nicht Licht ist in der Gruft,
Da kann ich nicht erwarmen.
Fest hält die Erde ihren Raub,
Ich kann den Deckel nicht heben.
Soll werden ich so früh zu Staub?
So gern möcht' ich noch leben!


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